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Volltext: Alte und Moderne Kunst X (1965 / Heft 81)

Die große Zusammenkunft der Herrscher und 
Politiker Europas beim Wiener Kongreß be- 
deutete nicht nur ein politisches, sondern auch 
ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges. 
Die Monate, die die vornehme internationale 
Gesellschaft in Wien versammelt sahen und 
einer glanzvollen Entfaltung höfischer Re- 
präsentation und modischer Eleganz Anlaß 
boten, bildeten eine großartige Gelegenheit, 
die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit Wiens 
auf dem Gebiet der Textilkunst und Mode 
zu erweisen. Sowohl die verschiedenen neuen 
Erzeugnisse der Seiden- und Bandweber wie 
die modischen Schöpfungen in Kleidern und 
allen Arten von Accessoires haben diese 
Probe bestanden und sind von vielen in Wien 
weilenden Fremden geriihmt worden. Diese 
Höhe der verschiedenen Gewerbezweige mag 
recht erstaunlich wirken, wenn man die wirt- 
schaftliche Lage Österreichs in dem unmittel- 
bar vorausgehenden Jahrfünft bedenkt. Wie 
konnten in einem Land, dessen Kräfte der 
Krieg bis zum äußersten angespannt hatte 
und dessen Notlage erst 1811 im Staats- 
bankrott seinen sichtbarsten Ausdruck ge- 
funden hatte, sich die Erzeugung von Luxus- 
warcn und Modebeiwerk ausbreiten? 
Tatsächlich hat sich die wirtschaftliche Krise 
der Jahre zwischen 1809 und 1813 auch auf 
allen Zweigen der Textilindustrie in Österreich 
sehr stark geltend gemacht. Der Linzer 
Wollzeug-, Tuch- und Teppichfabrik, dem 
größten ärarischen Unternehmen der Erb- 
lande, wurden, wie der Direktor 1814 in 
einem Bericht an die Hofkammer ausführte, 
„durch den glücklichen Krieg doch unheilbare 
Wunden geschlagen"; Mangel an Geld und 
Arbeitskräften und die Stockung des Handels 
und Absatzes zwangen zu immer größeren 
Betriebseinschränkungen, ja zur Stillegung 
einzelner Fabrikationszweige. Nicht weniger 
betriiblich klingt ein Bericht über die Wiener 
Mode aus dem Jahr 1812 in dem in Weimar 
erscheinenden Journal des Luxus und der 
Mode: „Der diesmalige Modenbericht wird 
beinahe kärglich ausfallen; denn der hier 
unendlich steigende Geldmangel zwingt alle 
Stände zu Einschränkungen, und es bieten 
sich in dem sonst so luxuriösen Wien nur 
wenige Modeveränderungen dar. Alles; sim- 
plihcirt sich. . ." Anschaulich schildert Paul 
Mestrozzi, einer der strebsamsten und bald 
auch der bedeutendsten Wiener Seidenfabri- 
kanten, in seiner Selbstbiographie (jetzt in 
der Bibliothek des Österreichischen Museums) 
die Lage seines Unternehmens in diesen 
schwierigen Jahren. War er über das Kriegs- 
jahr 1809 noch recht gut hinweggekommen, 
so bezeichnet er den Geldsturz des Jahres 1811 
als „ein neues, vorher nicht zu berechnendes 
Ungewitter", durch welches ihn „ein Schaden 
von 30 000 fl. Einlösungsscheine getroffen hat, 
welcher Verlust auch nicht mehr gutzu- 
machen möglich war". Zweifellos bedeuteten 
diese Jahre eine überaus schwere Belastungs- 
probe für Industrie und Gewerbetreibende, 
sie vermochten aber die in raschem Aufstieg 
begriffene Textilindustrie nur kurzfristig zu 
hemmen, aber keineswegs zu brechen. Wie ein 
zu Boden gedrückter junger Stamm schnellte 
die Produktion überall unmittelbar nach dem 
Kriegsende wieder in die Höhe. Sie erlangte 
nicht nur ihren früheren Stand, in kürzester 
Zeit hatte vor allem die Seidenweberei einen 
so hohen Stand und einen derartigen Umfang 
angenommen, daß Österreich auf dem euro- 
päischen Markt nach Frankreich die zweite 
Stelle einnehmen konnte. In den Jahrzehnten 
vom Ende der Napoleonischen Kriege bis zur 
Mitte des 19. Jahrhunderts bildete XWien den 
Mittelpunkt einer blühenden Seidenweberei, 
deren Ruf weit über die Grenzen Österreichs 
hinausdrang. Seit dem Ende des 18. Jahr- 
hunderts hatten die Seidcnfabrikanten ihre 
Niederlassungen vor allem in dem damals nur 
wenig verbauten Gebiet des Schottcnfeldes 
eingerichtet, das bezeichnenderweise für lange 
Zeit im Volksmund den Namen „Brillanten- 
grund" erhielt. Fabrikanten wie Beiwinkler, 
Hcbenstreit, die Brüder Mestrozzi, l-lornbostel, 
Fürgantner, Kargl, Gianicelli, Nigri und viele 
andere errichteten in den Wiener Vororten 
ihre Unternehmen. Schon 1813 betrug die 
Zahl der in Wien in der Seidenindustrie 
tätigen Menschen 10 O00, im zweiten Jahrzehnt 
des 19. Jahrhunderts war diese zum bedeutend- 
sten lndustriezweig Österreichs geworden. Bis 
zur Mitte des Jahrhunderts, als - den ver- 
änderten Verhältnissen entsprechend -- die 
Abwanderung der Fabriken in die Provinzen 
einsetzte, besaß Wien nach Lyon die größte 
und wichtigste Seidenerzeugung in ganz 
Europa. 
Dieser Aufstieg vollzog sich trotz mancher 
innerer Schwierigkeiten, die sich dem Aufbau 
großer Unternehmen gerade in Wien selbst 
entgegenstellten. Sie waren allerdings nicht 
wirtschaftlicher, als vielmehr politischer Art, 
da. immer wieder die Zusammenballung großer 
Arbeitermassen in der Hauptstadt als gefähr- 
lich erachtet wurde, so daß sogar jede Neu- 
gründung innerhalb eines Umkreises von zwei 
bis sechs Meilen von den Vororten aus unter- 
sagt und die Verdrängung der gesamten 
lndustrie aus Wien geplant wurde. Dennoch 
gelang gerade diesem Gewerbezweig die 
Befreiung von allen hemmenden Beschrän- 
kungen und damit der erste Schritt zur 
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