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Volltext: Alte und Moderne Kunst X (1965 / Heft 81)

Der Zar hatte seine letzten Absichten umge- 
stoßen. Von dem ihm zugefallenen polnil 
sehen Reich erhielt Preußen die Provinz Posen, 
Österreich Galizien, während Krakau, wie als 
Ehrenbaeigung für die frühere Unabhängig- 
_ keit, zur freien Stadt erklärt wurde. Es war 
also nicht mehr die" Rede davon, den Preußen 
ganz Sachsen zu überlassen. Man trennte von 
dem Königreich Sachsen einzelne Provinzen 
ab, aber man ließ es bestehen, um so mehr, 
i als auf diese Weise das Prinzip der Legitimität 
gewahrt schien. Talleyrand hatte für dieses 
Prinzip im Namen des Königs von Frank- 
reich, Sohn einer sächsischen Prinzessin, mit 
Geschicklichkeit gekämpft. 
Immerhin blieb der König von Preußen, der 
überdies noch einen Landzuwachs im Rhein- 
land erhielt, der mächtigste der deutschen . 
Könige. Die Stunde, die deutsche Nation mit 
einem einzigen Staat zu identifizieren, hatte 
noch nicht geschlagen. Die angenommene 
Lösung - ein Staatenbund und nicht ein 
Bundesstaat - war eine Art von Kompromiß 
zwischen dem alten Kaiserreich, dem eine 
ganze Generation nachtrauerte, und der Exi- 
stenz mittlerer Staaten nach den Konzep- 
tionen von Napoleon: ein Großherzogtum 
Baden, ein Königreich Bayern, ein Königreich 
Württemberg, hervorgegangen aus dem alten, 
feudalen Stückwerk. Neununddreißig Staaten 
wurden auf diese Art wiederhergestellt, davon 
vier freie Städte. Frankfurt wurde der Sitz 
eines vom österreichischen Kaiser präsidierten 
Landtages. Der Artikel dreizehn versprach 
allen Staaten des Reiches eine landesständische 
"s Verfassung, worunter man ebenso die alten 
Institutionen verstehen konnte wie ein libera- 
les, den Wünschen des Bürgertums und des 
Volkes aufgeschlossenetes Regime. 
Diesem zweideutigen, unsicheren Deutsch- 
land, dem man im Namen des allgemeinen 
Gleichgewichtes, wie man es in Wien verstand, 
keine anderen Zugeständnisse machen konnte, 
stand ein erneuertes Österreich gegenüber, das _ 
Metternich wie es war akzeptierte, wenn es 
auch seinem Ideal nicht vollkommen entsprach. 
Denn dieser Rheinländer hattefwenn es nach 
ihm gegangen wäre, den Breisgau nicht gegen 
das Erzbistum Salzburg ausgetauscht. Aber 
die Militärs hielten es nichtEir klug, Posi- 
tionen zu halten, die "im Falle eines Krieges 
schwer zu verteidigen gewesen wären. Aus 
den nämlichen Gründen opferte man Belgien 
und verschmolz es mit dem Königreich der 
Niederlande. Das alte Reich der Habsburger, 
I erhielt. 
erstreckte, fand sich nun zu einem einheit-i 
liehen, mächtigen Block zusammengeschweißt. 
Zum festen Kern seiner Erbstaaten: dem 
Königreich Böhmen und seinen Provinzen, 
dem Erzherzogturn Österreich nrit seinen 
wiedergewonnenen Ländern von Tirol und 
Vorarlberg waren die von Bayern abgetretenen 
Regionen, das Hausruckviertel, das Innviertel 
und Salzburg gekommen. Nach Osten er- 
streckte sich der Block auf das Königreich 
Ungarn, bezog ganz Norditalien bis zum 
Tessin und- zum Po ein, wo Österreich die 
Lombardei und das Festland von Venedig 
Und schließlich umschlossen seine 
Länder einen Teil des Adriatischen Meeres. 
Alpen und Donau stellten die geographische 
Achse des österreichischen Kaiserreiches dar. 
Diese Masse von Staaten konnte als ein 
Schutzdamm erscheinen, fähig, die "euro- 
päische Sicherheit zu garantieren. Metternich 
meinte, daß sie, politisch gesprochen, einemi 
Herrenhaus gleiche als Gegengewicht zu den 
wechselnden Launen eines Abgeordneten- 
hauses, worunter er die Nationen verstand. 
Man hat Metternich vorgeworfen, ein künst- V 
liches Gebilde geschaEen zu habenfdessen 
unnatürliche Züge zu radeln im nachhinein 
freilich billig ist. je nach ihren Tempera- 
rnenten und Tendenzen haben die Geschichts- 
schreiber ihn getadelt, den unvermeidlichen 
Konllikt zwischen Österreich und Preußen 
bei der Errichtung eines nationalen deutschen 
Staates verschuldet zu haben, dann wieder, 
sich unnützerweise in Italien eingedrängt zu 
haben, dessen verletztes Nationalgefühl be- 
reits das Risorgimento voraussehen ließ, oder 
auch, sich nicht entschlossen für die Donau- 
lösung entschieden zu haben, den wirtschaft- 
lichen, friedlichen Fortschritt in Ungarn vor- 
bereitend. - 
All das sind Erwägungen im nachhinein, 
die keinerlei Schlüsse über seine wirklichen 
Absichten zulassen. Er hoEte offenbar, aus 
diesem weiten Österreich, dessen lokale Tradi- 
tionen er sicher nicht in einem würgenden 
Zentralismus ersticken wollte, eine durch das 
gemeinsame Prinzip der Monarchie zusammen- 
gehaltene Staatenmasse machen zu können, 
deren innere Beständigkeit zu der Europas 
beitragen sollte. 
Bis zu dem Erdstoß von 1848 hielt die auf 
dem Kongreß festgelegte Ordnung dreiund- 
dreißig Jahre fort. Dreiunddreißig Jahre, in 
mehr erlebte. Dieser Friede ist unbestreitbar 
schritt aller zugute gekommen, hat t 
stehen von Industrien ermöglicht, den 
austausch gefördert, die Verbessert 
Landwirtschaft begünstigt. - Unsere 
'tion weiß aus eigener, bitterer Eri 
Äwieviel Unheil die großen Kriege ü 
Völker bringen, die in sie verwicke 
Sie weiß, was ein zerrissenes, ver 
Europa bedeutet, weiß, was der blir 
der Völker gegeneinander zeitigt: c 
Störung der gemeinsamen Kidtür! W 
da das einfache Wort: dreiunddreißi 
Frieden, sie nicht nachdenklich st 
Unser Verlangen nach einem vez 
Europa ist zu groß, als daß uns diese l 
Europa im Frieden, gleichgültig lassen 
Und dennoch - unter diesen ode 
Vorzeichen - sind wir alle dazu 
worden, die Ordnung, die der Wiener l- 
hervorgebracht hatte, zu mißachten. l 
wissen genau warum, denn es war ei 
nung der Regierungen, nicht der N 
Das Ideal aber, das sich in dem Bev 
aller kultivierten Europäer entwickd 
rein Ideal des für alle gemeinsamen l 
der Gedankenfreiheit, der nationaler 
nomie, der Demokratie und sozial 
rechtigkeit. Die Staatsmänner des 
Kongresses haben derartige Ideen Ohfh 
laß bekämpft, weil sie in ihnen das Wir 
leben der Revolution und die Geh 
Anarchie befürchteten. 
Und so begann sich bereits damals de; 
Konflikt zwischen den Prinzipien der 
revolution und denen der Revolutioi 
zeichnen. Die Männer, die das Werk d 
ner Kongresses vollbrachten, hatte: 
unrecht gehabt, sich an den Lehren d 
gangenheit zu inspirieren und ein stab; 
ausgeglichenes Europa schaffen zu wo] 
hatten mit den von ihnen festgelegten ( 
im großen lIlfld ganzen vernünftige ter 
Gesamtheiten geschaffen. Und mit dem 
des Negerhandels hatten sie versuc 
moderne Welt von der Schandeder SI 
zu befreien. 
Doch das Schicksal des Friedens hii 
der innerlichen Zustimmung der Vö 
dieser Ordnung ab. Diese aber war 1 
von den Staaten damals praktizierten 
nicht zu erreichen. Denn niemals 
Unbeweglichkeit, Starrheit und Gevs 
x _ .Mittel sein, um zu einem dauernden, 
welcher Zeit Europa keinen großen Krieg, 
baren Frieden zu gelangen. Der  
dazu ist das gegenseitige Verstand:
	        
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