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Volltext: Alte und Moderne Kunst XI (1966 / Heft 85)

Vermeer gelingt die Integration des ba- 
rocken, unendlichen Raums in sein Werk, 
ohne daß er die Gesetze der klassischen 
Bildkomposition und ihrer Raumstruktur 
aufzugeben braucht. Die Raumweite und 
die Raumdynamik, diese wesentlichen 
Formelemente des Barocks, werden auf 
einem dichterischen Umweg symbolisch 
umgestaltet und durch stimmungsbildende 
Motive und Elemente, durch unpathetische 
„Pathosträger" gleichsam, die den Geist 
des Zeitalters, sein Unendlichkeitsgefiihl 
und seine Dynamik in sich tragen, aus- 
gedrückt. 
Die Gegenstände, die Sujets der Bilder, 
die auf den ersten Anblick spannungslos, 
unbexvegt und vor allem unpathetisch 
scheinen, führen - wie eine genauere 
Analyse zeigt - durch ihre spezifische 
Wahl über die engen Grenzen des gemalten 
Bildraumes hinaus und suggerieren Weit- 
raumigkeit und Unbegrenztheit. Die von 
Vermeer dargestellten Sujets sind 4 abge- 
sehen von den zwei Landschaften: das 
„Gäßchen" (siehe oben) und die „Ansicht 
von Delft" (Mauritshuis, Den Haag), den 
zwei religiösen Darstellungen: „Christus 
bei den zwei Frauen" (National Gallery, 
Edinburgh), die „Allegorie auf das Neue 
Testament" (Metropolitan Museum, New 
York) und schließlich der so hermetischen 
Allegorie „Das Atelier des Künstlers", 
(Abb. 1) (Kunsthistorisches MuseumAWieny 
auffallend gleichförmigü. Es finden sich 
etwa neun Musikszenen, sechs Brieflese- 
rinnen oder -schreiberinnen, ein Bild, das 
Musik und Brief verbindet (Rijksmuseum, 
Amsterdam), zweimal ist das Motiv der 
Spitzenklöpplerin dargestellt, und ebenso- 
oft sieht man Frauen mit Perlen beschäftigt: 
sei es mit dem Wägen derselben oder mit 
dem Anlegen einer Kette vor dem Spiegel 
(ehem. Kaiser-Friedrichs-Museum, Berlin). 
Wie überhaupt Vermeers Frauen eine 
Vorliebe für Perlenschmuck zeigen, am 
auffallendsten das „Mädchen mit Turban" 
(Mauritshuis, Den Haag). Am häufigsten 
sind jedoch Musikszenen und Brieflese- 
rinnen (Abb. 2, 3) oder -schreiberinnen dar- 
gestellt. Die Vorliebe für dieses Sujet ist 
so auffallend, daß man sich fragen darf, 
ob sich hinter diesen Sujets nicht eine 
Bedeutung verbirgt, die den Künstler be- 
sonders angesprochen hat, und ob diese 
Vorliebe nicht durch sehr bestimmte Über- 
legungen diktiert worden ist. So ist einmal 
zu untersuchen, ob diesen auf den ersten 
Blick so ungleichartigen Sujets nicht etwas 
Gemeinsames innewohnt, eine innere Ver- 
wandtschaft besteht, die sie zu einer Be- 
deutungsgruppe zusammenschließen würde. 
Auf ein stilistischcs Element, den allen 
gemeinsamen inneren Rhythmus, auf das 
Still-dahin-Fließende, haben wir schon hin- 
gewiesen. 
Ein wesentliches Merkmal jeder musi- 
kalischen Vorführung, die ihr inhärente 
und speziiische Eigentümlichkeit ist, daß 
sie nicht auf den Raum, in dem sie ausge- 
führt wird oder auf die musizierenden 
Personen allein beschränkt bleibt. Ihr 
Inhalt, eben die Musik, dringt vielmehr - 
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idealiter 4 über den geschlossenen Bild- 
raum hinaus, um sich in unserem realen 
Lebensraum fortzusetzen, ebenso wie sie 
im Hinblick auf Zuhörer 4 sie mögen 
dargestellt sein oder nicht 4 ausgeführt 
wird. Das erklärt wohl auch die stille, 
die innere Gespanntheit, wie sie dem 
Lauschen eigentümlich ist, die in den 
Bildern herrscht. Es ist die gleiche Stille 
und innere Gesammeltheit, wie wir sie 
etwa im „Konzert" von Giorgione (Palazzo 
Pitti, Florenz) oder in Tizians „Nymphe 
und Hirte" (Kunsthistorisches Museum, 
Wien) finden. Auch hier ist „Musik" das 
zentrale Thema der Darstellung. Dazu 
kommt, daß die Musik als Kunstgattung 
an sich die dynamischeste von allen ist, 
daß die Kategorie der Zeit, ihre Rhythmi- 
sierung, ihr eigentliches und konstitutives 
Element ist14 4 was wohl auch ihre 
große Blüte im Zeitalter des Barocks 
erklären würde. Die Musik entwickelt 
sich aber nicht nur in Zeit und Raum, 
sie dringt auch aus den irrationalen Tiefen 
des Menschen und untersteht 4 para- 
doxerweise 4 zutiefst mathematischen 
Gesetzen. So werden bei Vermeer durch 
Musikdarstellungen eine Reihe von Asso- 
ziationen geweckt, die alle auf die für die 
Zeit so kennzeichnenden Form- und Ge- 
fiihlswerte weisen und womit diese, wenn 
auch indirekt, in die Bildwelt eingeführt 
werden. Trotz aller Stille der Figuren, 
trotz des geschlossenen, unbewegten und 
statischen Raumes wird durch die musi- 
kalischen Assoziationen sowohl ein er- 
weiterter Raum geschaffen als eine span- 
nungsvolle Beziehung zwischen den dar- 
gestellten Figuren und dem Beschauer 
erzielt. „Quillt" auch der Raum nicht im 
barocken Sinne aus dem Bild, so bleibt er 
doch wiederum auch nicht 4 wie etwa in 
der Renaissance 4 streng von unserem 
Realraum abgetrennt, sondern verschmilzt 
mit ihm zu einer Einheit. Er greift über 
den Rahmen hinaus, ohne diesen zu 
„sprengen". 
Viel durchsichtiger, ja fast handgreiflich, 
liegt die gleiche Absicht im zweiten Lieb- 
lingsvorwurf Vermeers, bei der Brief- 
leserin (Abb. 2) bzw. der Briefschreiberin 
vor. Sicherlich öffnet der Brief, aus unbe- 
kannten Fernen kommend oder dorthin 
weisend, den kleinen und begrenzten 
Raum, in dem sich die Schreiberin oder 
Empfängerin 4 bedeutungsvollerweise 
meist vor einem offenen Fenster stehend 4 
befindet. Viel deutlicher als beim Motiv 
der Musik erkennt man hier die Funktion 
des Briefes. Er suggeriert ferne Horizonte, 
weite unbekannte Meere und Länder, be- 
sonders wenn man bedenkt, daß zu dieser 
Zeit der Verkehr der Niederlande mit dem 
Fernen Osten auf seinem Höhepunkt ge- 
wesen sein muß. So öffnet auch der Brief 
den geschlossenen Bildraum, läßt ihn sich 
über den Rahmen ergießen, ohne daß das 
statische Raumgefüge des Bildes geopfert 
werden muß. 
Und dürfte nicht auch, mit aller Vorsicht, 
ein weiteres Motiv in diesem Zusammen- 
hang erwähnt werden: die Perle? Eine 
auffallend große Zahl von Vermeers weib- 
lichen Figuren sind mit Perlen geschmückt, 
und in dem „Mädchen mit Turban" 
(Mauritshuis, Den Haag), wird die Perle 
zu einem so bestimmenden formalen Mittel, 
daß man mit Panofsky sagen darf: „In a 
work of art, ,form' cannot be divorced 
from ,content'; the distribution of color 
and lines, light and shade, volumes and 
planes. . . must also be understood as 
carrying a more-than-visual meaning."15 
Und sollte die Vermeer'sche Paraphrase 
„Die Perlenwägerin" (Sammlung Widener, 
Philadelphia) nach der „Goldwägerin" von 
Pieter de Hooch, die Malraux bereits auf- 
gefallen ist 26, die Substitution von 
Perlen für Gold, ohne jede Bedeutung und 
nur ein reiner Zufall sein? Sicher, der matte 
Glanz der OberHäche einer Perle mußte für 
den Maler Vermeer eine besondere An- 
ziehungskraft haben. Aber besaß die Perle 
nicht auch einen assoziativen Wert, brachte 
sie nicht die Kunde von fernen, unbe- 
kannten Meeren, beschwor sie nicht neue 
und fremde Kulturen, die im Bewußtsein 
der Menschen damals, in der Zeit der 
Gründung des ostasiatischen Kolonial- 
reiches von besonderer Aktualität gewesen 
sein mußte? 
Mögen solche Deutungen vielleicht weit- 
hergeholt scheinen, so werden sie jedoch von 
einem Motiv, dessen symbolischer und 
assoziativer Gehalt nicht geleugnet werden 
kann, nämlich der Landkarte, doch wieder 
bestätigt. Sicher kommen Landkarten, die 
Karte der „Sieben Provinzen" nicht allein 
bei Vermeer vor, sie werden in der zeit- 
genössischen holländischen Malerei oft und 
gerne verwendet. Nirgends aber erscheinen 
sie mit solchem Nachdruck und mit dieser 
Häufigkeit wie bei Vermeer. (Von einund- 
dreißig Innenräumen sind in sieben Land- 
karren dargestellt.) Mag der Brief auf ferne 
Länder weisen, mag die Perle ferne Meere 
suggerieren, die Landkarte bringt sie deut- 
lich und unmittelbar vor Augen. Durch 
sie dringt in das enge Zimmer der unbe- 
grenzte, offene Freiraum. Die Karte lädt 
zum Reisen ein, sie ist Sinnbild der Be- 
wegung, der Unruhe und des Abenteuers. 
Und welches Symbol könnte besser als die 
Landkarte die Unbegrenztheit des Raumes 
verdeutlichen. S0 ist auch dieses Motiv 
mehr als nur ein Stilelement, dessen ortho- 
gonales Liniensystem - wie in den Bilder- 
rahmen an dcr Wand, den Fenstern und 
Wandschränken - sich günstig in den 
Bildaufbau fügt. Es gehört seiner Bedeu- 
tung nach in dieselbe Reihe wie die vor- 
geführten Elemente. Wie der Musik 4 
als gleichsam abstraktem Faktor -, wie 
dem Brief und vielleicht auch der Perle, 
wohnt der Landkarte eine bestimmte sug- 
gestive Kraft inne. Auch sie bedingt, daß 
der enge, geschlossene Bildraum sich über 
seine gesetzten Grenzen weitet, aus seinem 
Rahmen quillt. Sie bringt aber auch Span- 
nung und Unruhe, eine Geisteshaltung, die 
einer Zeit, die ebenso große Astronomen 
wie Seefahrer hervorgebracht hat, nur 
gemäß war. 
Unter den letzten Bildern des Künstlers
	        
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