Vermeer gelingt die Integration des ba-
rocken, unendlichen Raums in sein Werk,
ohne daß er die Gesetze der klassischen
Bildkomposition und ihrer Raumstruktur
aufzugeben braucht. Die Raumweite und
die Raumdynamik, diese wesentlichen
Formelemente des Barocks, werden auf
einem dichterischen Umweg symbolisch
umgestaltet und durch stimmungsbildende
Motive und Elemente, durch unpathetische
„Pathosträger" gleichsam, die den Geist
des Zeitalters, sein Unendlichkeitsgefiihl
und seine Dynamik in sich tragen, aus-
gedrückt.
Die Gegenstände, die Sujets der Bilder,
die auf den ersten Anblick spannungslos,
unbexvegt und vor allem unpathetisch
scheinen, führen - wie eine genauere
Analyse zeigt - durch ihre spezifische
Wahl über die engen Grenzen des gemalten
Bildraumes hinaus und suggerieren Weit-
raumigkeit und Unbegrenztheit. Die von
Vermeer dargestellten Sujets sind 4 abge-
sehen von den zwei Landschaften: das
„Gäßchen" (siehe oben) und die „Ansicht
von Delft" (Mauritshuis, Den Haag), den
zwei religiösen Darstellungen: „Christus
bei den zwei Frauen" (National Gallery,
Edinburgh), die „Allegorie auf das Neue
Testament" (Metropolitan Museum, New
York) und schließlich der so hermetischen
Allegorie „Das Atelier des Künstlers",
(Abb. 1) (Kunsthistorisches MuseumAWieny
auffallend gleichförmigü. Es finden sich
etwa neun Musikszenen, sechs Brieflese-
rinnen oder -schreiberinnen, ein Bild, das
Musik und Brief verbindet (Rijksmuseum,
Amsterdam), zweimal ist das Motiv der
Spitzenklöpplerin dargestellt, und ebenso-
oft sieht man Frauen mit Perlen beschäftigt:
sei es mit dem Wägen derselben oder mit
dem Anlegen einer Kette vor dem Spiegel
(ehem. Kaiser-Friedrichs-Museum, Berlin).
Wie überhaupt Vermeers Frauen eine
Vorliebe für Perlenschmuck zeigen, am
auffallendsten das „Mädchen mit Turban"
(Mauritshuis, Den Haag). Am häufigsten
sind jedoch Musikszenen und Brieflese-
rinnen (Abb. 2, 3) oder -schreiberinnen dar-
gestellt. Die Vorliebe für dieses Sujet ist
so auffallend, daß man sich fragen darf,
ob sich hinter diesen Sujets nicht eine
Bedeutung verbirgt, die den Künstler be-
sonders angesprochen hat, und ob diese
Vorliebe nicht durch sehr bestimmte Über-
legungen diktiert worden ist. So ist einmal
zu untersuchen, ob diesen auf den ersten
Blick so ungleichartigen Sujets nicht etwas
Gemeinsames innewohnt, eine innere Ver-
wandtschaft besteht, die sie zu einer Be-
deutungsgruppe zusammenschließen würde.
Auf ein stilistischcs Element, den allen
gemeinsamen inneren Rhythmus, auf das
Still-dahin-Fließende, haben wir schon hin-
gewiesen.
Ein wesentliches Merkmal jeder musi-
kalischen Vorführung, die ihr inhärente
und speziiische Eigentümlichkeit ist, daß
sie nicht auf den Raum, in dem sie ausge-
führt wird oder auf die musizierenden
Personen allein beschränkt bleibt. Ihr
Inhalt, eben die Musik, dringt vielmehr -
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idealiter 4 über den geschlossenen Bild-
raum hinaus, um sich in unserem realen
Lebensraum fortzusetzen, ebenso wie sie
im Hinblick auf Zuhörer 4 sie mögen
dargestellt sein oder nicht 4 ausgeführt
wird. Das erklärt wohl auch die stille,
die innere Gespanntheit, wie sie dem
Lauschen eigentümlich ist, die in den
Bildern herrscht. Es ist die gleiche Stille
und innere Gesammeltheit, wie wir sie
etwa im „Konzert" von Giorgione (Palazzo
Pitti, Florenz) oder in Tizians „Nymphe
und Hirte" (Kunsthistorisches Museum,
Wien) finden. Auch hier ist „Musik" das
zentrale Thema der Darstellung. Dazu
kommt, daß die Musik als Kunstgattung
an sich die dynamischeste von allen ist,
daß die Kategorie der Zeit, ihre Rhythmi-
sierung, ihr eigentliches und konstitutives
Element ist14 4 was wohl auch ihre
große Blüte im Zeitalter des Barocks
erklären würde. Die Musik entwickelt
sich aber nicht nur in Zeit und Raum,
sie dringt auch aus den irrationalen Tiefen
des Menschen und untersteht 4 para-
doxerweise 4 zutiefst mathematischen
Gesetzen. So werden bei Vermeer durch
Musikdarstellungen eine Reihe von Asso-
ziationen geweckt, die alle auf die für die
Zeit so kennzeichnenden Form- und Ge-
fiihlswerte weisen und womit diese, wenn
auch indirekt, in die Bildwelt eingeführt
werden. Trotz aller Stille der Figuren,
trotz des geschlossenen, unbewegten und
statischen Raumes wird durch die musi-
kalischen Assoziationen sowohl ein er-
weiterter Raum geschaffen als eine span-
nungsvolle Beziehung zwischen den dar-
gestellten Figuren und dem Beschauer
erzielt. „Quillt" auch der Raum nicht im
barocken Sinne aus dem Bild, so bleibt er
doch wiederum auch nicht 4 wie etwa in
der Renaissance 4 streng von unserem
Realraum abgetrennt, sondern verschmilzt
mit ihm zu einer Einheit. Er greift über
den Rahmen hinaus, ohne diesen zu
„sprengen".
Viel durchsichtiger, ja fast handgreiflich,
liegt die gleiche Absicht im zweiten Lieb-
lingsvorwurf Vermeers, bei der Brief-
leserin (Abb. 2) bzw. der Briefschreiberin
vor. Sicherlich öffnet der Brief, aus unbe-
kannten Fernen kommend oder dorthin
weisend, den kleinen und begrenzten
Raum, in dem sich die Schreiberin oder
Empfängerin 4 bedeutungsvollerweise
meist vor einem offenen Fenster stehend 4
befindet. Viel deutlicher als beim Motiv
der Musik erkennt man hier die Funktion
des Briefes. Er suggeriert ferne Horizonte,
weite unbekannte Meere und Länder, be-
sonders wenn man bedenkt, daß zu dieser
Zeit der Verkehr der Niederlande mit dem
Fernen Osten auf seinem Höhepunkt ge-
wesen sein muß. So öffnet auch der Brief
den geschlossenen Bildraum, läßt ihn sich
über den Rahmen ergießen, ohne daß das
statische Raumgefüge des Bildes geopfert
werden muß.
Und dürfte nicht auch, mit aller Vorsicht,
ein weiteres Motiv in diesem Zusammen-
hang erwähnt werden: die Perle? Eine
auffallend große Zahl von Vermeers weib-
lichen Figuren sind mit Perlen geschmückt,
und in dem „Mädchen mit Turban"
(Mauritshuis, Den Haag), wird die Perle
zu einem so bestimmenden formalen Mittel,
daß man mit Panofsky sagen darf: „In a
work of art, ,form' cannot be divorced
from ,content'; the distribution of color
and lines, light and shade, volumes and
planes. . . must also be understood as
carrying a more-than-visual meaning."15
Und sollte die Vermeer'sche Paraphrase
„Die Perlenwägerin" (Sammlung Widener,
Philadelphia) nach der „Goldwägerin" von
Pieter de Hooch, die Malraux bereits auf-
gefallen ist 26, die Substitution von
Perlen für Gold, ohne jede Bedeutung und
nur ein reiner Zufall sein? Sicher, der matte
Glanz der OberHäche einer Perle mußte für
den Maler Vermeer eine besondere An-
ziehungskraft haben. Aber besaß die Perle
nicht auch einen assoziativen Wert, brachte
sie nicht die Kunde von fernen, unbe-
kannten Meeren, beschwor sie nicht neue
und fremde Kulturen, die im Bewußtsein
der Menschen damals, in der Zeit der
Gründung des ostasiatischen Kolonial-
reiches von besonderer Aktualität gewesen
sein mußte?
Mögen solche Deutungen vielleicht weit-
hergeholt scheinen, so werden sie jedoch von
einem Motiv, dessen symbolischer und
assoziativer Gehalt nicht geleugnet werden
kann, nämlich der Landkarte, doch wieder
bestätigt. Sicher kommen Landkarten, die
Karte der „Sieben Provinzen" nicht allein
bei Vermeer vor, sie werden in der zeit-
genössischen holländischen Malerei oft und
gerne verwendet. Nirgends aber erscheinen
sie mit solchem Nachdruck und mit dieser
Häufigkeit wie bei Vermeer. (Von einund-
dreißig Innenräumen sind in sieben Land-
karren dargestellt.) Mag der Brief auf ferne
Länder weisen, mag die Perle ferne Meere
suggerieren, die Landkarte bringt sie deut-
lich und unmittelbar vor Augen. Durch
sie dringt in das enge Zimmer der unbe-
grenzte, offene Freiraum. Die Karte lädt
zum Reisen ein, sie ist Sinnbild der Be-
wegung, der Unruhe und des Abenteuers.
Und welches Symbol könnte besser als die
Landkarte die Unbegrenztheit des Raumes
verdeutlichen. S0 ist auch dieses Motiv
mehr als nur ein Stilelement, dessen ortho-
gonales Liniensystem - wie in den Bilder-
rahmen an dcr Wand, den Fenstern und
Wandschränken - sich günstig in den
Bildaufbau fügt. Es gehört seiner Bedeu-
tung nach in dieselbe Reihe wie die vor-
geführten Elemente. Wie der Musik 4
als gleichsam abstraktem Faktor -, wie
dem Brief und vielleicht auch der Perle,
wohnt der Landkarte eine bestimmte sug-
gestive Kraft inne. Auch sie bedingt, daß
der enge, geschlossene Bildraum sich über
seine gesetzten Grenzen weitet, aus seinem
Rahmen quillt. Sie bringt aber auch Span-
nung und Unruhe, eine Geisteshaltung, die
einer Zeit, die ebenso große Astronomen
wie Seefahrer hervorgebracht hat, nur
gemäß war.
Unter den letzten Bildern des Künstlers