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Volltext: Alte und Moderne Kunst XI (1966 / Heft 87)

nur den Lippen des geschlossenen Mundes 
vorbehalten. 
Wie alle Bildnisse Cranachs aus den 
zwanziger und dreißiger Jahren, ist auch 
dieses Gemälde von einer Porträtauffassung 
charakterisiert, die sich hart an der Grenze 
des Individuellen und Allgemeinen, des 
Einmaligen und Typischen, des Persön- 
lichen und Unpersönlichen, der Stilisierung 
und Natürlichkeit bewegt. Der Maler 
konzentriert sich hier auf die Grundzüge, 
die allerdings ebenso einzigartig wie für 
die Zeit typisch sind. Das Individuum wird 
in dieser Auffassung zugleich zum Träger 
der Eigenschaften seiner ganzen Gesell- 
schaftsklasse, zum Repräsentanten seiner 
Zeit und Generation. Dazu kommt noch 
der Umstand, daß es sich bei diesem 
Porträt wahrscheinlich um eine Werkstatt- 
arbeit nach einer Studie des Meisters 
handelt5 und auch dieser Vorgang in 
nicht geringem Maße zum Verwischen der 
ursprünglichen physischen Erscheinung des 
Porträtierten beitrug, die durch weitere 
Abstraktion zweifellos viel von der ur- 
sprünglichen sinnlichen Lebensnähe der 
vorauszusetzenden Skizze verlor. Vom 
Charakter einer Werkstattarbeit zeugt auch 
die verhältnismäßig flüchtige Ausführung, 
die besonders in der Mantelpartie auf- 
fällt. 
Dieser Neigung zur Typisierung des Por- 
träts entspricht auch die konsequente 
Überführung des Volumens in die Fläche, 
was nicht einmal die Diagonale verhindern 
kann, die beide Schultern der Figur ver- 
bindet und diese aus der Vertikalachse und 
der BildHäche herausdreht. Die Hächige 
Auffassung wird noch unterstrichen durch 
die verstärkte Rolle, die der stilisierenden 
Linie, besonders der Umrißlinie, auf Kosten 
der dreidimensionalen Modellierung der 
Form zufällt, durch die Beschränkung der 
Binnenzeichnung auf ein Mindestmaß sowie 
durch die gleichmäßige, volle Beleuchtung 
des Kopfes, der sich von der dunklen 
Folie des neutralen Hintergrundes kontrast- 
reich abhebt. Das Bild gibt nur die Haupt- 
ziige der Physiognomie, des Kustüms und 
des Beiwerks wieder, und der Maler ver- 
weilt auch hier nicht einmal bei den 
Einzelheiten. 
Die genaue Datierung des Gemäldes er- 
leichtert seine Eingliederung in die Reihe 
von Cranachs Bildnissen aus den zwanziger 
Jahren. Gerade aus dem Jahre 1526, das 
für das PorträtschaHen Cranachs außer- 
ordentlich fruchtbar war, blieben mehrere 
signierte und mit dieser Jahreszahl be- 
zeichnete Gemälde erhalten, mit denen 
unser Bild auch die gleiche Entwicklungs- 
stufe der Porträtauffassung, das Verhältnis 
zwischen Figur und Fläche, die Art ihrer 
Einfügung in den Rahmen und natürlich 
auch das Kostüm teiltö. Es hat mit ihnen 
die Dreiviertelwendung nach links 
gemeinsam (die auch sonst bei Cranach 
absolut überwiegt), die Darstellung als 
Halbligur und die Haltung der Hände, die 
jedoch bei der Mehrzahl von Cranachs 
Bildnissen stärker beschäftigt sind. Auch 
das Verhältnis zwischen dem beleuchteten 
Antlitz und dem dunklen Hintergrund 
wiederholt sich auf einer Reihe der ange- 
führten Beispiele. Der Pelzkragen des 
Mantels, die Kette und das Halsband mit 
den aufgefadelten Ringen sowie die Perlen- 
stickerei kommen in vielen weiteren Ge- 
genstücken von Cranach aus dieser Zeit 
vor. Unser Bild unterscheidet sich von 
ihnen nur durch sein kleines Format, das 
mit Rücksicht auf das Modell wahrschein- 
lich absichtlich gewählt wurde7, und natür- 
lich auch durch geringere Qualität. 
Der Platz unseres Bildes in der Gruppe 
von Cranachs Porträts aus dem Jahre 1526 
ist also festgelegt. Seine Bedeutung liegt 
jedoch vor allem darin, daß es sich um 
ein Kinderbildnis handelt, das, wie be- 
kannt, in Cranachs Schaffen nur selten, ja 
ausnahmsweise vorkommtß. Außer dem 
bekannten Mädchenbild im Louvre, das 
gleichfalls aus den zwanziger Jahren stammt, 
und den zwei Bildnissen der sächsischen 
Prinzen Moritz und Severin (Darmstadt, 
Großherzogliche Sammlung)9 sowie dem 
weniger bekannten, signierten und 1529 
datierten Porträt eines unbekannten Prinzen 
(aber nicht sächsischer Herkunft) in Köln 
(Wallraf-Richartz-Museum)10 ist, soweit wir 
wissen, auf dem Gebiet des Staffeleibildes 
kein weiteres Beispiel für ein Interesse 
Cranachs am Kinderbildnis erhalten ge- 
blieben. Der Grund dafür ist nicht ganz 
klar. Vielleicht lag es am Mangel an Ge- 
legenheiten, also an Bestellungen, vielleicht 
auch am Umstand, daß die Kinderl-igur 
diesem Maler etwas fremd war. Es ist 
kein bloßer Zufall, daß das Interesse für 
die Lebenstreue in weit größerem Maße 
in den Männerbildnissen Cranachs als z. B. 
in seinen Frauenporträts zur Geltung 
kommt. 
Die beiden Darmstädter signierten Kinder- 
bilder entstanden im gleichen Jahre wie 
die Bildnisse der sächsischen Kurfürsten 
Johann des Großmütigen und Johann des 
Beständigen (Weimar, Schloßmuseum und 
Dresden, Galerie)1l. Obwohl wir den 
Knaben auf unserem Bild vorläufig nicht 
identißzieren können - zum Unterschied 
von den beiden sächsischen Prinzen linder 
sich seine Darstellung nicht unter den 
deutschen Renaissancemedaillen -, darf 
man doch auf Grund der Entstehungszeit 
und der reichen Ausstattung annehmen, 
daß auch er ein Angehöriger des sächsischen 
Hauses war. Schließlich ist die Möglichkeit 
nicht ausgeschlossen, daß das Porträt mit 
jenen der sächsischen Herzöge und Prinzen 
im Zusammenhang steht und im gleichen 
Jahre geschaffen wurde. 
ANMERKUN GEN 1 - l 1 
1 Der Katalog der Galerie im ursprünglichen Zustand 
erschien im Jahre 1737 in Brux im Druck. 
1 Als Cranachs Arbeit wird (s im Verzeichnis der Gemälde 
ungefähr aus der Mim: des 19. Jahehnnderrs angeführt 
(J. v. Simak, Verzeichnis der Gelnalde der ehemaligen 
Duxer Galerie, Cawpis spoleenosri prarel sraroiitnosti 
Ccskych. XXVllljl922, S. 43). Zusammen mit ihm wird 
auch das Bild Adam und Eva und das Porträt eines Mannes 
in schwarzem Gewand als Arbeit dieses Malers erwilult. 
Das erste Bild bßflhdßl sich htutt als Arbeit aus Cranachs 
Werkstatt in der Nationalgalerie in Prag. das zweite 
läß! sich nicht idcntirizitren. Unser Bild ist dagegen 
im alten Katalog aus dem 18. Jahrhundert nicht angeführt. 
cs scheint also, daß es erst später in die Sammlung auf- 
genommen worden ist. Dagegen werden andere Arbeiten 
Cranachs genannt, die unter dem vcrstümmelten Namen 
Lucas Kreyner (sic!) erwähnt sind, u. zw.: unter Nr. 171 
ein Madonncnbild, unter Nr. 211 ein Bild der hl. Schulastika, 
unter Nr. 219 das Bild des Absch eds Christi von Maria. 
unter Nr. 220 eine Madnnna mit dem Kind und unter 
Nr. 229 das Bildnis der Gemahlin des Malers. Von diesen 
kann man heute mit Sicherheit nur das Bild Nr. 219 
identißzieren, das zusammen mit einer Reihe weiterer 
hervorragender Werke in der zweiten Hälfte des 18. jahr- 
hunderß in die Gemäldegalerie in Dresden kam. Es 
man: sich um eine gut: Werkstattkopie des Gemäldes 
aus dem Kunsrhistorischen Museum in Wicn aus der 
Zeir um 1520 (M. Friedlanderl]. lkosenberg, Die Gemälde 
von Lucas Cranach. Berlin 1932, Nr. 113). Die Zuschrei- 
bungen des alten Inventars können freilich nur mit Vor- 
behalt gelten; das triiTl auch auf eine Reihe anderer 
Bilder zu, die als Werke Durers und Holbeins bezeichnet 
werden. Für die wertvollen Hinweise, die sich auf die 
Sammlung in Dux beziehen. danke ich den Mitarbeitern 
der Nadonalglcrie in Prag. Dr. 1. Preiss und Dr. J. Safarik. 
die den Katalog der vorbereiteten neuen Aufstellung im 
Schluss: Dux bearbeiten. 
3 Die Signatur und jahrszahl wurde nach dem Abnehmen 
der Fimisschicht und Retuschen auf dem linken Rand 
des Bildes über der rechten Schulter des Knaben entdeckt. 
Das Bild ist auf 5 mm starkem Fichtenholz gemalt. Die 
Grundierung unter der ganzen Malerei ist weiß ohne 
lmprimitur. Sie isr nicht geschliffen, so daß der Pinsel- 
strichstruktural auf der sonsr glatten MllfifiChC zur Geltung 
kommt. Unter dem lnkarnat sehe t die hlaue Grund- 
zeichnung durch. Die Fleisch artien sind in den Lokal- 
farbcn angelegt. der plasrisc e Eindruck wird durch 
Aufhellen und wärmere {Ole Töne erzielt. Datum und 
Signatur sind mit gclbweißer Farbe gezeichnet und mir 
der übrigen Malerei homogen. Die Maloherßiche zeigte 
eine Menge kleiner Beschädigungen: die bei der Restaun 
rierung des Bildes durch Retuschen beseitigt oder ver- 
kitret wurden. 
' B stammte aus dem ehemaligen Waldsleirfschen Schlcß 
in Hirschberg, wohin Spile! ein Teil der Sammlung aus 
Dux übertragen wurde. Ein weiterer Teil kam ins Schlcß 
in Münchengritz. 
5 Von der Ar! der im Aller und Typus ihnlicheren Zeich- 
nung eines unbekannten sächsischen Prinzen. die sich im 
Museum in Reims beßnder. - Ich danke hier herzlich 
Dr. Chrisrian Allgraf Salm in München. daß er mich 
auf diese Zeichnung sowie auch auf das weitere Bildnis 
(s. Anm. 10) aufmerksam gemacht hat. 
5 F: handelt sich vor allem um die Arbeiten. die Fried- 
länderlllosenbetg, l. c.. unter folgenden Karalognummern 
und Abb. anführen: 238, 243, 244. 245. 246, 247 und 250. 
7 Ein ähnliches Formal hat auch das Midchenponräz im 
Louvre (Fricdlinderlllosenberg. 1. c., Kam-Nr. und 
Abb.130). 
5 H. Lilienfein. Lucas Cranaeh und seine Zeir. Bielefeld! 
Leipzig 1942, s. w. 
9 Fricdlinderlllosexiberg. l.c KaL-Nr. und Abb. 245146. 
m Auch diese! Bild steht dem unseren in mancher Hinsieht 
nahe, weicht jedoch von ihm in der Zeichnung des Mundes 
sowie auch in der Frisur und der Farbe der Haare ah. 
11 Friedlanderlkoaenberg, l. 6.. Kam-Nr. 243 und 250. 
15
	        
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