Grad der bis dahin erreichten Bekanntheit zu
steigern vermögen. Es werden sich immer neue
Gesetzlichkeiten ergeben und ein tieferes Erfassen
des Strukturellen einer Gestalt möglich machen.
Bei einer einmaligen Wahrnehmung werden nicht
genügend Informationen von Bezug auf die Ge-
setzlichkeit einer Gestalt gewonnen. und zwar
infolge des "Überangebotes" an Reizdarbietungen:
K. Lorenz spricht vom "Lärm" der chaotischen
Reizdaten.
In der Hypnose können Wahrnehmungsinhalte
reproduziert werden. die in wachem Zustand nicht
erinnert werden können, eine Tatsache, die ex-
perimentell erhärtet ist.
Das Sammeln von optischen Informationen kann
durch Jahre auf ratiomorphe Weise fortgesetzt
werden. so daß - manchmal spät und uner-
wartet - Grundlagen für eine gesuchte Gesetz-
mäßigkeit gefunden werden können.
Dieselben Mechanismen, welche die Dingkonstanz
bewirken, vermögen auf ratiomorphem. aber
nicht rationalem Weg an verschiedenen Gestalt-
individuen gewonnene Beobachtungen von Kon-
figurationen durch Abstraktion eine Gesetzlichkeit
abzuleiten. welche einer bestimmten Gruppe von
Individuen oder Gegenständen als Gestaltsqualität
zu eigen ist. Es ist hier an die zahlreichen Studien
Marinis über das Pferd zu denken, der kein be-
stimmtes Pferd. sondern das ..Pferdhafte". den
Extrakt aus dem ..Pferdlichen" darzustellen suchte,
ebenso an Städtebilder von .l.Villon. an seine
„Soldaten auf dem Marsch". also an die Versuche,
das Wesenhafte. das "Hintergründige", unter der
Haut Liegende zu abstrahieren und darzustellen.
AusdemungeheurenReservoirderWahrnehmungs-
elemente produziert die abstrakte Malerei ihre
Schöpfungen. wobei Hratiomorphe" neben .,ratio-
nalen" Mechanismen eine Rolle spielen. erstere
besonders in der Weise. daß sie auf das Vor-
handensein von optischen Entdeckungsmöglich-
keiten hinweisen. Marinis Arbeiten. J.Villons
Stadtbilder enthalten Gestaltsresiduen. gehören
daher nicht zum lnformel im engeren Sinne. bilden
aber einen wichtigen Übergang zur völlig gegen-
standslosen Malerei.
Über die Rolle der ratiomorphen Mechanismen.
die Anlaß zu den erwähnten Rückschlüssen sein
können, mögen noch einige Bemerkungen gemacht
werden.
Versuche eines Malers. der gleichzeitig medi-
zinisch tätig ist. sich bildnerisch gegenstandslos
auszudrücken. ergaben. daß das Dargestellte viel-
fach eine gewisse Verwandtschaft mit mikro-
skopischen Bildern hatte. allerdings völlig un-
beabsichtigt. Dies könnte bei der Versuchsperson
darauf schließen lassen. daß ein ratiomorphes
Hattenbleiben mikroskopischer Bilder die Grund-
lagen seiner Abstraktion waren. Dies gilt in gleicher
Weise für "abstrakte" wie für "gegenständliche"
Bilder; es handelt sich beim Malen um die
Erschaffung van .ßegenständlichkeiten". die je
nach der Veranlagung des Malers. manchmal dem
"wirklichen" Gegenstand (auch ein individueller
Extrakt aus dem "Lärm" der uns bedrüngenden
Sinnesdaten) ähnlich ist, sonst oft keinem dem
Durchschnitt geläufigen Gegenstand gleicht. Beide
Formen der Darstellung schöpfen aus derselben
Quelle, erscheinen daher gleichberechtigt. ebenso
wie der Surrealismus. der aus den durch die
Psychoanalyse erforschbaren Tiefenerlebnissen zu
schöpfen trachtet und sich dabei teils altmeister-
licher. teils mechanischer oder halbmechanischer
Verfahren bedient. Das eigentliche Gewicht liegt
bei dieser Richtung nicht so sehr irn Suchen nach
einer neuen ästhetischen Ausdrucksform in engerem
Sinn als im Aufdecken untergründiger. seelischer
Wirklichkeit.
Daß das sowohl beim Erwachsenen wie auch beim
Kind schon vorhandene Differenzierungsvermögen
auf der Basis "ratiomorpher" Vorgänge beruht.
hat Lorenz als vergleichender Zoologe unter
anderem durch Selbstbeobachtung zunächst für
den Erwachsenen bewiesen. Er sagt. die Meldung
besteht aus Gruppen abstrahierender Gestalts-
Wahrnehmungen in einer einzigen Erlebnis-
qualitöt. die aber nichts darüber aussagt. welche
Merkmale und Merkmalkombinationen es sind.
die als qualitätsbestimmende Glieder in die
Ganzheit dieser Qualität eingehen. Die Breite der
Verschiedenheit innerhalb einer zoologischen
Familie sei weit größer als die durchschnittlichen,
äußerlich sichtbaren Unterschiede zwischen den
Familien.
Bemühungen. die Merkmale herauszuünden. die
die unverwechselbaren Qualitäten etwa der
„Cichliden" bestimmen, zeitigten nur zwei nega-
tive Aussagen, nämlich daß es erstens nicht die
groben Charaktere wie Körperform. Zahl und
Art der Flossen usw. sind. die die Qualität bestim-
men. und zweitens, dal] es nicht gesagt ist. daß
die in scheinbar eindringlicher Form vorhandenen
Merkmale notwendigerweise als qualitätsbestim-
mend in die von der Wahrnehmung vollzogenen
Quasiabstraktion eingehen.
Wir müssen dazu bemerken. daß eine positive
Aussage sich allerdings mittels der sich aus der
lnformationstheorie bietenden Faktorenanalyse
mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen ließe.
Lorenz beschreibt Beobachtungen an seiner fünf-
jährigen Tochter über hochspezialisierte Leistungen
der Gestattswahrnehmung. die ihr ermöglichen.
alle Rallenvögel als solche zu erkennen. Die ihr
bekannten Rallenvögel waren Schwimmvögel von
äußerlich entenähnlicher Körperform. Das Fehlen
dieses Merkmales bei der ersten ihr begegnenden
unbekannten Rallengattung störte sie nicht im
geringsten im Wiedererkennen der Qualität des
"Rallenhaften". Es macht den Eindruck. daß hier
ein .Jnformationstheoretisches Rätsel" vorliegt.
Eine Lösung bietet mit einer gewissen Wahrschein-
lichkeit der Vergleich "rationaler" und "ratio-
morpher" Leistungen.
Bei einer auf rationalem Wege gestellten Diagnose
der betroffenen Gruppe hätte der Schwimmvogel-
Charakter in den Bestimmungsschlüssel irrtümlich
aufgenommen werden müssen. Um vor diesen
Irrtümern bewahrt zu bleiben. braucht man sehr
viele Informationen, die man auf ratiomorphem
Weg erhält. - Hierher gehört etwa. daß die
Schlangen den Vierfüßlern zuzuzählen sind. daß
das Fehlen der vier Beine nur etwas Akzidentelles
ist.
Die Gestaltswahrnehmung vermag ..unbewußt"
eine außerordentlich große Zahl von Merkmalen
zu berücksichtigen. Für die in Betracht kommenden
Merkmale bei Reptilien spricht Lorenz von astro-
nomischen Ziffern. Hier liegt unseres Erachtens
ein wesentliches Forschungsfeld für Leistungen und
Entwicklungsmöglichkeiten abstrakter Kunst.
Auch das Gedächtnis für Gestalten spielt eine sehr
bedeutende Rolle. Die Gestaltswahrnehmung er-
möglicht uns im Laufe von Jahren eine sehr
gewaltige ratiomorphe Anhäufung von Tatsachen-
material. welches das rationale übertrifft. Die
ratiomorphe Abstraktionsleistung ist zur rationalen
Forschung in Analogie zu setzen. Eine der für
unsere spezielle Betrachtung wichtigen Erkenntnisse
besteht darin, daß die Aufstapelung von Infor-
mationen durch ratiomorphe Gestaltswahrneh-
mung im Zustand tiefer geistiger Ruhe des Wahr-
nehmenden erfolgt. während derselbe in die
Schönheit eines bestimmten Objektes versunken
ist. Daß auf diese Ergebnisse exakter Natur-
forschung bei dem Bestreben. gedanklich einen
„nuturwissenschaftlich" fundierten Zugang zur
Malerei zu finden, besonders eingegangen werden
muß. liegt auf der Hand.
Es dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit anzu-
nehmen sein, daß der Künstler. im besonderen der
nicht illusionistisch. der antinaturalistisch. vor
allem der ungegenständlich arbeitende Künstler.
aus seinem eigenen ungeheuren. durch ratio-
morphe Abstraktionsleistungen geschaffenen Reser-
voir schöpft. Diese Vermutung, diese Arbeits-
hypothese als Betrachtung aus naturwissenschaft-
licher Voraussetzung "künstlerischen" Erlebens und
Schaffens. möge hier nachdrücklich ausgesprochen
sein.
Diese Hypothese erleichtert das Verständnis der
künstlerischen „lntuition". eines sehr vielfach ge-
brauchten und auch reichlich verschwommenen
Begriffes. Goethe hat die intuitive Offenbarung.
für die er die Leistungen der eigenen Gestalts-
Wahrnehmung hielt und die ihm die geniale
Entdeckung des Zwischenkiefers sowie botanische
und zahlreiche andere naturwissenschaftliche Er-
kenntnisse und Theorienbildungen ermöglichte.
sehr hoch geschätzt. Die ..lntuition" entspringt
höchstwahrscheinlich den Leistungen der Gestalts-
Wahrnehmung, sie ist natürlich wie alle Erkennt-
nisse der Gestaltswahrnehmung ihrer Natur nach
subjektiv.
Ob auf der Suche nach einer Erklärung der
seelischen Vorgänge bei der künstlerischen Ge-
staltung sowohl wie bei der Betrachtung von
Kunstwerken der Versuch eines kritischen Ge-
brauches der Erkenntnisse der Gestaltswahr-
nehmung gemacht wurde. ist uns nicht bekannt
geworden. Nach Lorenz kommt jede Entdeckung
einer einigermaßen komplexen Regelhaftigkeit
grundsätzlich durch die Funktion der Gestalts-
Wahrnehmungen zustande. Dies gilt nach seiner
Meinung auch für die Mathematik und wird von
den Mathematikern auch bereitwillig bestätigt.
Wenn man ganz allgemein geistige und künstle-
rische Leistungen als Ausdruck von ordnenden
und regelnden Funktionen im Menschen gelten
lassen will. die sich in der Fähigkeit zum Aus-
wählen. Anordnen, Zusammenfassen. Gegen-
überstellen - bei der bildenden Kunst im be-
sonderen der Elemente der Form, der Farbe. der
Oberfläche w äußern, so kann man in Analogie
zur Mathematik diese Auffassung auch auf die
Malerei anwenden.
Ob sie von der Kunstwissenschaft. wie von Mathe-
matikern. bereitwillig anerkannt würde, ist nicht
ohne weiteres anzunehmen. ..Der zoologische und
botanische Phylogenetiker, der medizinische Kli-
niker und der Humanpsychologe europäischer
Prägung sind wohl diejenigen. die sich dieses
Wertes (nämlich des Wertes der Gestaltswahr-
nehmung) am meisten bewußt sind und sie
systematisch benutzen" (Lorenz).
Eine typische Eigenschaft der Gestaltswahrnehmung
ist ihre Empfindlichkeit gegen Selbstbeobochtung.
Sie läßt uns erfahrungsgemäß im Stich. wenn wir
unsere Aufmerksamkeit auf dieselbe richten. Diese
Eigenschaft deckt sich mit der oft betonten und
unterstrichenen Mitteilung zahlreicher "abstrakt"
arbeitender Maler, daß sie grundsätzlich ihre
Werke ohne Mitbeteiligung. ja nur unter völliger
Ausschaltung der "ratio". zu vollbringen imstande
sind bzw. eine solche Mitbeteiligung grundsätzlich
ablehnen. Aus solchen Bildern lassen sich als
..Zeichen" mehr oder weniger chaotisch gelagerte
Reste organischer oder anorganischer Formen wie
kristallähnliche oder lebensführende "Urformen"
herauslesen oder in dieselben hineinlegen.
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