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Volltext: Alte und Moderne Kunst XIII (1968 / Heft 98)

Grad der bis dahin erreichten Bekanntheit zu 
steigern vermögen. Es werden sich immer neue 
Gesetzlichkeiten ergeben und ein tieferes Erfassen 
des Strukturellen einer Gestalt möglich machen. 
Bei einer einmaligen Wahrnehmung werden nicht 
genügend Informationen von Bezug auf die Ge- 
setzlichkeit einer Gestalt gewonnen. und zwar 
infolge des "Überangebotes" an Reizdarbietungen: 
K. Lorenz spricht vom "Lärm" der chaotischen 
Reizdaten. 
In der Hypnose können Wahrnehmungsinhalte 
reproduziert werden. die in wachem Zustand nicht 
erinnert werden können, eine Tatsache, die ex- 
perimentell erhärtet ist. 
Das Sammeln von optischen Informationen kann 
durch Jahre auf ratiomorphe Weise fortgesetzt 
werden. so daß - manchmal spät und uner- 
wartet - Grundlagen für eine gesuchte Gesetz- 
mäßigkeit gefunden werden können. 
Dieselben Mechanismen, welche die Dingkonstanz 
bewirken, vermögen auf ratiomorphem. aber 
nicht rationalem Weg an verschiedenen Gestalt- 
individuen gewonnene Beobachtungen von Kon- 
figurationen durch Abstraktion eine Gesetzlichkeit 
abzuleiten. welche einer bestimmten Gruppe von 
Individuen oder Gegenständen als Gestaltsqualität 
zu eigen ist. Es ist hier an die zahlreichen Studien 
Marinis über das Pferd zu denken, der kein be- 
stimmtes Pferd. sondern das ..Pferdhafte". den 
Extrakt aus dem ..Pferdlichen" darzustellen suchte, 
ebenso an Städtebilder von .l.Villon. an seine 
„Soldaten auf dem Marsch". also an die Versuche, 
das Wesenhafte. das "Hintergründige", unter der 
Haut Liegende zu abstrahieren und darzustellen. 
AusdemungeheurenReservoirderWahrnehmungs- 
elemente produziert die abstrakte Malerei ihre 
Schöpfungen. wobei Hratiomorphe" neben .,ratio- 
nalen" Mechanismen eine Rolle spielen. erstere 
besonders in der Weise. daß sie auf das Vor- 
handensein von optischen Entdeckungsmöglich- 
keiten hinweisen. Marinis Arbeiten. J.Villons 
Stadtbilder enthalten Gestaltsresiduen. gehören 
daher nicht zum lnformel im engeren Sinne. bilden 
aber einen wichtigen Übergang zur völlig gegen- 
standslosen Malerei. 
Über die Rolle der ratiomorphen Mechanismen. 
die Anlaß zu den erwähnten Rückschlüssen sein 
können, mögen noch einige Bemerkungen gemacht 
werden. 
Versuche eines Malers. der gleichzeitig medi- 
zinisch tätig ist. sich bildnerisch gegenstandslos 
auszudrücken. ergaben. daß das Dargestellte viel- 
fach eine gewisse Verwandtschaft mit mikro- 
skopischen Bildern hatte. allerdings völlig un- 
beabsichtigt. Dies könnte bei der Versuchsperson 
darauf schließen lassen. daß ein ratiomorphes 
Hattenbleiben mikroskopischer Bilder die Grund- 
lagen seiner Abstraktion waren. Dies gilt in gleicher 
Weise für "abstrakte" wie für "gegenständliche" 
Bilder; es handelt sich beim Malen um die 
Erschaffung van .ßegenständlichkeiten". die je 
nach der Veranlagung des Malers. manchmal dem 
"wirklichen" Gegenstand (auch ein individueller 
Extrakt aus dem "Lärm" der uns bedrüngenden 
Sinnesdaten) ähnlich ist, sonst oft keinem dem 
Durchschnitt geläufigen Gegenstand gleicht. Beide 
Formen der Darstellung schöpfen aus derselben 
Quelle, erscheinen daher gleichberechtigt. ebenso 
wie der Surrealismus. der aus den durch die 
Psychoanalyse erforschbaren Tiefenerlebnissen zu 
schöpfen trachtet und sich dabei teils altmeister- 
licher. teils mechanischer oder halbmechanischer 
Verfahren bedient. Das eigentliche Gewicht liegt 
bei dieser Richtung nicht so sehr irn Suchen nach 
einer neuen ästhetischen Ausdrucksform in engerem 
Sinn als im Aufdecken untergründiger. seelischer 
Wirklichkeit. 
Daß das sowohl beim Erwachsenen wie auch beim 
Kind schon vorhandene Differenzierungsvermögen 
auf der Basis "ratiomorpher" Vorgänge beruht. 
hat Lorenz als vergleichender Zoologe unter 
anderem durch Selbstbeobachtung zunächst für 
den Erwachsenen bewiesen. Er sagt. die Meldung 
besteht aus Gruppen abstrahierender Gestalts- 
Wahrnehmungen in einer einzigen Erlebnis- 
qualitöt. die aber nichts darüber aussagt. welche 
Merkmale und Merkmalkombinationen es sind. 
die als qualitätsbestimmende Glieder in die 
Ganzheit dieser Qualität eingehen. Die Breite der 
Verschiedenheit innerhalb einer zoologischen 
Familie sei weit größer als die durchschnittlichen, 
äußerlich sichtbaren Unterschiede zwischen den 
Familien. 
Bemühungen. die Merkmale herauszuünden. die 
die unverwechselbaren Qualitäten etwa der 
„Cichliden" bestimmen, zeitigten nur zwei nega- 
tive Aussagen, nämlich daß es erstens nicht die 
groben Charaktere wie Körperform. Zahl und 
Art der Flossen usw. sind. die die Qualität bestim- 
men. und zweitens, dal] es nicht gesagt ist. daß 
die in scheinbar eindringlicher Form vorhandenen 
Merkmale notwendigerweise als qualitätsbestim- 
mend in die von der Wahrnehmung vollzogenen 
Quasiabstraktion eingehen. 
Wir müssen dazu bemerken. daß eine positive 
Aussage sich allerdings mittels der sich aus der 
lnformationstheorie bietenden Faktorenanalyse 
mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen ließe. 
Lorenz beschreibt Beobachtungen an seiner fünf- 
jährigen Tochter über hochspezialisierte Leistungen 
der Gestattswahrnehmung. die ihr ermöglichen. 
alle Rallenvögel als solche zu erkennen. Die ihr 
bekannten Rallenvögel waren Schwimmvögel von 
äußerlich entenähnlicher Körperform. Das Fehlen 
dieses Merkmales bei der ersten ihr begegnenden 
unbekannten Rallengattung störte sie nicht im 
geringsten im Wiedererkennen der Qualität des 
"Rallenhaften". Es macht den Eindruck. daß hier 
ein .Jnformationstheoretisches Rätsel" vorliegt. 
Eine Lösung bietet mit einer gewissen Wahrschein- 
lichkeit der Vergleich "rationaler" und "ratio- 
morpher" Leistungen. 
Bei einer auf rationalem Wege gestellten Diagnose 
der betroffenen Gruppe hätte der Schwimmvogel- 
Charakter in den Bestimmungsschlüssel irrtümlich 
aufgenommen werden müssen. Um vor diesen 
Irrtümern bewahrt zu bleiben. braucht man sehr 
viele Informationen, die man auf ratiomorphem 
Weg erhält. - Hierher gehört etwa. daß die 
Schlangen den Vierfüßlern zuzuzählen sind. daß 
das Fehlen der vier Beine nur etwas Akzidentelles 
ist. 
Die Gestaltswahrnehmung vermag ..unbewußt" 
eine außerordentlich große Zahl von Merkmalen 
zu berücksichtigen. Für die in Betracht kommenden 
Merkmale bei Reptilien spricht Lorenz von astro- 
nomischen Ziffern. Hier liegt unseres Erachtens 
ein wesentliches Forschungsfeld für Leistungen und 
Entwicklungsmöglichkeiten abstrakter Kunst. 
Auch das Gedächtnis für Gestalten spielt eine sehr 
bedeutende Rolle. Die Gestaltswahrnehmung er- 
möglicht uns im Laufe von Jahren eine sehr 
gewaltige ratiomorphe Anhäufung von Tatsachen- 
material. welches das rationale übertrifft. Die 
ratiomorphe Abstraktionsleistung ist zur rationalen 
Forschung in Analogie zu setzen. Eine der für 
unsere spezielle Betrachtung wichtigen Erkenntnisse 
besteht darin, daß die Aufstapelung von Infor- 
mationen durch ratiomorphe Gestaltswahrneh- 
mung im Zustand tiefer geistiger Ruhe des Wahr- 
nehmenden erfolgt. während derselbe in die 
Schönheit eines bestimmten Objektes versunken 
ist. Daß auf diese Ergebnisse exakter Natur- 
forschung bei dem Bestreben. gedanklich einen 
„nuturwissenschaftlich" fundierten Zugang zur 
Malerei zu finden, besonders eingegangen werden 
muß. liegt auf der Hand. 
Es dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit anzu- 
nehmen sein, daß der Künstler. im besonderen der 
nicht illusionistisch. der antinaturalistisch. vor 
allem der ungegenständlich arbeitende Künstler. 
aus seinem eigenen ungeheuren. durch ratio- 
morphe Abstraktionsleistungen geschaffenen Reser- 
voir schöpft. Diese Vermutung, diese Arbeits- 
hypothese als Betrachtung aus naturwissenschaft- 
licher Voraussetzung "künstlerischen" Erlebens und 
Schaffens. möge hier nachdrücklich ausgesprochen 
sein. 
Diese Hypothese erleichtert das Verständnis der 
künstlerischen „lntuition". eines sehr vielfach ge- 
brauchten und auch reichlich verschwommenen 
Begriffes. Goethe hat die intuitive Offenbarung. 
für die er die Leistungen der eigenen Gestalts- 
Wahrnehmung hielt und die ihm die geniale 
Entdeckung des Zwischenkiefers sowie botanische 
und zahlreiche andere naturwissenschaftliche Er- 
kenntnisse und Theorienbildungen ermöglichte. 
sehr hoch geschätzt. Die ..lntuition" entspringt 
höchstwahrscheinlich den Leistungen der Gestalts- 
Wahrnehmung, sie ist natürlich wie alle Erkennt- 
nisse der Gestaltswahrnehmung ihrer Natur nach 
subjektiv. 
Ob auf der Suche nach einer Erklärung der 
seelischen Vorgänge bei der künstlerischen Ge- 
staltung sowohl wie bei der Betrachtung von 
Kunstwerken der Versuch eines kritischen Ge- 
brauches der Erkenntnisse der Gestaltswahr- 
nehmung gemacht wurde. ist uns nicht bekannt 
geworden. Nach Lorenz kommt jede Entdeckung 
einer einigermaßen komplexen Regelhaftigkeit 
grundsätzlich durch die Funktion der Gestalts- 
Wahrnehmungen zustande. Dies gilt nach seiner 
Meinung auch für die Mathematik und wird von 
den Mathematikern auch bereitwillig bestätigt. 
Wenn man ganz allgemein geistige und künstle- 
rische Leistungen als Ausdruck von ordnenden 
und regelnden Funktionen im Menschen gelten 
lassen will. die sich in der Fähigkeit zum Aus- 
wählen. Anordnen, Zusammenfassen. Gegen- 
überstellen - bei der bildenden Kunst im be- 
sonderen der Elemente der Form, der Farbe. der 
Oberfläche w äußern, so kann man in Analogie 
zur Mathematik diese Auffassung auch auf die 
Malerei anwenden. 
Ob sie von der Kunstwissenschaft. wie von Mathe- 
matikern. bereitwillig anerkannt würde, ist nicht 
ohne weiteres anzunehmen. ..Der zoologische und 
botanische Phylogenetiker, der medizinische Kli- 
niker und der Humanpsychologe europäischer 
Prägung sind wohl diejenigen. die sich dieses 
Wertes (nämlich des Wertes der Gestaltswahr- 
nehmung) am meisten bewußt sind und sie 
systematisch benutzen" (Lorenz). 
Eine typische Eigenschaft der Gestaltswahrnehmung 
ist ihre Empfindlichkeit gegen Selbstbeobochtung. 
Sie läßt uns erfahrungsgemäß im Stich. wenn wir 
unsere Aufmerksamkeit auf dieselbe richten. Diese 
Eigenschaft deckt sich mit der oft betonten und 
unterstrichenen Mitteilung zahlreicher "abstrakt" 
arbeitender Maler, daß sie grundsätzlich ihre 
Werke ohne Mitbeteiligung. ja nur unter völliger 
Ausschaltung der "ratio". zu vollbringen imstande 
sind bzw. eine solche Mitbeteiligung grundsätzlich 
ablehnen. Aus solchen Bildern lassen sich als 
..Zeichen" mehr oder weniger chaotisch gelagerte 
Reste organischer oder anorganischer Formen wie 
kristallähnliche oder lebensführende "Urformen" 
herauslesen oder in dieselben hineinlegen. 
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