Wenn auch nicht so stark ausgeprägt wie in der
älteren deutschen Malerei, so geht doch auch hier
die genaue Beachtung aller Details, das Ab-Bilden
jeder Einzelheit über die primär visuelle Er-
scheinung des Gesamtbildes hinaus. Jedes Motiv
wird einzeln aufgenommen und neben die nächste
Einzelbeobachtung gesetzt. Die damit auch wech-
selnden Blickpunkte ergeben einen vielfältigen
Eindruck, der zu Unstimmigkeiten der Gesamt-
erscheinung führen kann, wenn man die einheitlich
konstruierte Linearperspektive als Maßstab setzt.
Dieses „additive" Sehen ist schon bei den Bildern
des älteren Lucas Cranach beobachtet und be-
schrieben worden und auch in diesem Werk
seines Sohnes. allerdings in wesentlich gemilder-
terer Form, vorhanden. So sind Mund, Nase und
Augenpartie der Dargestellten nicht vOn einem
einheitlichen Blickpunkt aus gesehen und wirken
untereinander leicht verschoben. Bei anderen
Motiven. die an sich kleiner und kleinteilig sind,
wie bei den Halsketten, Händen. Ringen. ist dieses
Phänomen nicht so auffällig.
Es handelt sich keineswegs um eine Frage des
Könnens. der künstlerischen Qualität, sondern ist
das Ergebnis einer anderen Optik als der vielfach
für allein "richtig" und gültig angesehenen
Zentralnersnektive,
Cronachs Porträt ist eine Summe von Einzel-
beobochtungen, die Bausteine einer ruhigen,
ausgewogenen Komposition sind. Vorgegebene
Fakten werden diesem Aufbau sinnvoll eingefügt,
wie die Folten des Kleides und der Schürze, die
einen Sockel bilden. der durch die quergelegten
Unterarme begrenzt ist. Darauf baut sich der
schlanke Leib als Träger des Gesichtes auf. Das
Oval des Antlitzes findet mehrfache Wiederholung
in der Reihe der Ketten, diese wiederum eine auch
farbige Entsprechung im Hoornetz. Der obere
Abschluß der Figurenpyromide ist durch die aus-
geprägte Horizontale der Kappe betont. In der
formalen Verwendung und Einordnung in ein
umfassenderes Konzept solcher, zweifellos modisch
bedingter Einzelheiten zeigt sich die Meisterschaft
des Malers.
Pablo Picasso, "Bildnis einer jungen Frau, nach
Cranach d. J." 1958.
Linolschnitt in 6 Farben. 65x53 cm.
Picasso, auf das Bild der Wiener Gemäldegalerie
durch die farbige Postkarte hingewiesen, bediente
sich in seiner Auseinandersetzung mit dieser Vor-
lage einer für ihn neuen Technik. des Linol-
schnittes. Die deutlich konturierte und mit wenigen,
kräftigen Farbokzenten ausgeführte Malerei des
iünaeren Cranach bietet naturoemüß eine ae-
eignete Ausgangsposition für diese ebenfalls mit
festen Konturen und großflächigen, einheitlichen
Farbwerten am besten wirkende Technik. Die
Notwendigkeit, mit kräftigen Linien zu arbeiten,
verbunden mit der Freiheit, die das relativ weiche
Material zuläßt, mußte Picasso besonders liegen,
doch ist die Virtuosität erstaunlich, mit der er die
Möglichkeiten des farbigen Linolschnittes sogleich
erkannte und ausnützte.
Gegenstündlich ist diese Paraphrase nach einem
Bild eines alten Meisters eine der getreuesten und
daher für die rein formale Betrachtung besonders
aufschlußreich.
Eine geringe Veränderung des Figurenmaßstabes
hebt mit der wohl technisch bedingten, doch
durchaus im Sinne dieser Veränderung liegenden
Seitenverkehrung die räumliche Andeutung völlig
auf. Aus der in die Tiefe fallenden Linie von
Vorhang-Kopf-Schatten ist eine aufsteigende. in die
Fläche wirkende Projektion geworden. Die breiter
proportionierte Figur ist näher an die Bildränder
gerückt und auch enger mit den beiden seitlichen
Begleitformen, Vorhang und Schatten, verbunden.
Die Gesamtdarstellung wird so kompakter und
monumentaler. Ebenso monumentalisierend wirkt
die Vereinfachung der Einzelformen. Dagegen
wird der bei Cranach unbetont gelassene Luftraum
von Picasso durch eine dynamische graphische
Strukturierung zu einem wesentlichen Bildelement,
die „negative Form" zu einem Spannungsträger.
Ebenso wird eine weitere „leere" Form, die weißen
Ärmel. farbig und graphisch bereichert. Durch die
gleiche Behandlung im Duktus wird der stofflich-
sinnliche Charakter der einzelnen Teile, wie
Kleid, Ärmel, Luftraum, Gesicht, aufgehoben und
die Bildeinheit betont. Verdeutlicht ist auch der
tektonische Aufbau des Bildes durch das Hervor-
heben des Basischarakters des Rockes. dessen
Falten wie Streben wirken. In die Schürze sind
Horizontalelemente eingeführt. die Unterarme
sind proportionsmäßig verändert und fügen sich
so der Kuppelform stärker ein, der rote Mieder-
einsatz ist gesenkt und schließt diesen unteren
Formkomplex jetzt wirklich gegen das zweite
Geschoß des schwarzen Leibchens ab. Anderseits
ist die Verbindung durch die farbig stärkere
Akzentuierung der Ärmel wieder betont. Die bei
Cranach so eindrucksvolle Vorbereitung des
Gesichtsovals durch die gleichlaufenden Ketten-
reihen ist in ein Kontrastmotiv verschoben. die
Trennung zur Kopfpartie durch das Einfügen
einer achten, fast horizontal verlaufenden Hals-
kette hervorgehoben. Dennoch sind auch in
Picassos Anordnung die Linienzüge des Hals-
schmuckes in Beziehung zum Gesicht gesetzt. denn
auch dieses ist in einer sehr bewegten Weise ver-
ändert. Hier ist der größte Eingriff in die Materie
des Varbildes erfolgt: statt der nur leicht gedrehten
Wendung des En-face Porträts stellt Picasso En-
face- und Profilansicht in simultaner Projektion
dar. Diese zu den Grundelementen kubistischer
Betrachtungsweise gehörende Auffassung ist in
einer sehr geschlossenen und eindringlichen Weise
formuliert. Die Nasenlinie setzt sich über die
Stirn und die Mund-Kinn-Partie fort und teilt so
das Oval des Gesichtes in zwei Kompartimente.
die gegenseitig je eine Profildarstellung ergeben,
ohne die En-face-Form zu sprengen. Die graphische
Behandlung des gesamten Kopfkomplexes lüßt ihn
jederzeit als ornamentale Einheit erscheinen und
ermöglicht doch die verschiedene Lesbarkeit ein
und derselben Einzelheit.
Hier ist das Prinzip des additiven Sehens, das bei
dem Bild des jüngeren Cranach andeutungsweise
spürbar ist, zu einer extremen Konsequenz ver-
dichtet, ohne daß man sagen dürfte. es sei der
gleiche Weg zur Bewältigung der Darstellung
dreidimensionaler Gebilde in der Fläche. Doch
mag dieser Berührungspunkt ein Grund, bewußt
oder unbewußt. für das Interesse Picassos an
diesem Vorbild gewesen sein. Weiters mußte der
strenge Aufbau in relativ großen Formen, die
klare Farbigkeit und die starken graphischen
Elemente anregend gewirkt haben, diese Kompo-
sition zu verdichten. stärker zu akzentuieren.
farbig zu vertiefen und so die formalen Anliegen
des einen Jahrhunderts an einem Exempel eines
früheren zu demonstrieren