G ünther Feuerstein
ARCHITEKTUR - 1969
Die Szenerie im österreichischen Architekturge-
schehen hat sich in den letzten Jahren entschei-
dend verändert. Nicht etwa, daß sich die
Voraussetzungen für eine lebendige Entwicklung
wesentlich verbessert hätten, aber das Auf-
rücken neuer Kräfte in das aktive Baugeschehen
hat zu einer Bereicherung und Differenzierung
der Situation geführt.
Die einfache Polarität der fünfziger Jahre zwi-
schen arrivierten, konservativen oder geschmäck-
lerischen alteren Kollegen auf der einen Seite
und den jungen progressiven Kräften auf der
anderen Seite existiert nicht mehr. Eine breite
Skala der Zwischenwerte, vielfältige Verflech-
tungen, Beziehungen, Konkurrenzen und Kon-
takte haben dazu geführt, daß eine "Gruppierung"
nach Schulen, nach einzelnen Trends kaum
mehr möglich ist. Völlig kontinuierlich verlaufen
die Gefälle von Qualität, Auftragsstand, Engage-
ment, Progressivität und Persönlichkeit quer
durch die verschiedenen Altersschichten. Auch
die Dialektik rational und emotional bestimmter
Strömungen ist nur schwer aufzuzeigen.
Wenn wir dennoch nach Kriterien fragen, so
könnten sie am ehesten in einem Maß an
Reflexion, an geistiger und sachlicher Über-
legung gefunden werdemdas beiden Architekten
sehr unterschiedlich ist. Die starke Hinwendung
der Architektur zu wissenschaftlichen Diszi-
plinen, vor allem zur Soziologie und Psychologie,
findet bei den jüngeren Architekten großen
Widerhall und die verbale Interpretation wird zu
einem wichtigen Faktor. Dieser Trend zu einer
artikulierten theoretischen Fundierung geht zu
einem Großteil auch von den Hochschulen,
und zwar vor allem von den Studenten aus, die
sich zu einer universelleren Definition der Archi-
tektur bekennen.
Trotz des allmählichen Wirksamwerdens jener
Generation, die man in den funfziger Jahren als
die junge und progressive bezeichnete, ver-
sickern die sichtbaren baulichen Außerungen in
der Menge des Mittelmaßes. Noch ist kein
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