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Volltext: Alte und Moderne Kunst XIV (1969 / Heft 103)

 
4 Egon Schiele, Stein an der Donau. Ol auf Leinwand 
90,4x90,4 cm. Sigm: Egon Schiele 1913. Besitz 
Dr. Rudolf Leopold, Wien (Kallir, CEuvrevarz. Ni. 185) 
5 Stein an der Donau von Norden gegen Gönweig 
(Vargleichsbild zu Abb, 4) 
erhalten aber durch die Struktur des Pinsel- 
striches ein rein künstlerisch wirksames Eigen- 
leben. Diesem Leben wird auch die Beziehung 
zum Naturvorbild geopfert: der Turm der Pfarr- 
kirche erhält s so wie etwa das Kremser Tor - 
ein einfaches Pultdach. Die dunkle Stadtmauer 
sehen wir rechts von der Frauenbergkirche. 
Überhaupt haben sich alle Proportionen ver- 
ändert. Der Bildausschnitt ist nicht mehr qua- 
dratisch. sondern schmal und hoch. Der Frauen- 
bergturm, in den Proportionen bedeutend ge- 
streckt, steht nun in der linken Bildhälfte und 
setzt so der gewohnten Blickrichtung ein 
wirksames Überraschungsmoment entgegen. Das 
Dreieck steigt steil an und fällt allmählich ab. 
Die Vertikale siegt über die Horizontale. So 
verbindet der hohe Turm jetzt die Stadt mit 
dem Berg, und es ist gewiß kein Zufall, daß der 
Turmhelm vor das dunklere Wiesenstück zu 
liegen kommt, aus dem das Zifferblatt wie ein 
mächtiges Auge hervorzuleuchten scheint. Die 
Weingartenterrassen führen in Stufen zu diesem 
Turm empor; deutlich ist die künstlerische An- 
ordnung darauf bezogen. Vergleichen wir nun 
auch die Maßverhältnisse in der horizontalen 
Anordnung: Wie tief sitzt in der Skizze das 
Dach der Pfarrkirche. Der Abstand vom First 
zum unteren Bildrand entspricht dem des 
Frauenbergkirchendaches. Um wieviel höher 
erscheint durch dieses Herabrücken der Häuser 
das Emporragen des Turmesl Das Motiv hat 
sich verändert: Es geht Schiele hier nicht mehr 
um eine „künstlerische Vision" der Stadt Stein, 
sondern um die Wiedergabe eines konkreten 
Erlebnisses: die kleine Stadt am Strom und der 
hohe Turm, der in die Berge ragt. Die Details 
sind zu einer anderen, größeren Einheit zu- 
sammengefügt und gehen in ihr auf. 
Mit diesen grundsätzlichen Beobachtungen 
haben wir zugleich einen Ausgangspunkt für 
die Untersuchung der letzten beiden Bilder 
gefunden. Es handelt sich hier (in beiden Fällen) 
um eine Ansicht der Stadt Stein, wie sie sich 
von der Höhe des Steiner Kreuzberges bietet. 
Allerdings ist das Verhältnis der beiden Bilder 
zueinander nicht so klar wie in den beiden 
bereits besprochenen Fällen. Die größere Natur- 
nähe der ausgeführten Arbeit ist nur scheinbar. 
Dennoch wollen wir diese Ansicht zuerst be- 
handeln. 
Für jeden, der die örtliche Situation (Abb. 5) 
halbwegs kennt, ist es klar, daß bei dem Bild 
(Kallir Nr. 186, ÖllLeinen, 90,4x90,4 cm, Dr. R. 
Leopold, Wien, Abb. 4) zwei Motive zusammen- 
gefügt sind. In der rechten Bildhälfte sehen 
wir einen Teil des östlichen Stadtteiles. Hier 
im Vorder- und Mittelgrund den mächtigen 
Komplex des ehemaligen Minoritenklosters, am 
unteren Bildrand den Klosterhof, wobei Schiele? 
was die Fensterordnung und den Anbau an der 
nördlichen Außenfront betrifft - eigentlich sehr 
exakt die Details wiedergegeben hat. Diese 
Genauigkeit sieht man auch am vorgeschobenen 
Flügel im Westen, der den Minoritenplatz gegen 
Norden abschließt; die Fassadengliederung ist 
angedeutet. Sehr genau, in allen charakteristi- 
schen Details, ist auch die Kirche wiedergegeben, 
jener Bau also, der in den letzten Jahren Schau- 
platz der großen Kunstausstellungen war. Man 
sieht den hohen gotischen Chor mit den Streben, 
den weiten Fenstern und dem mächtigen Dach. 
Daran schließt das frühgotisch-spätromanische 
niedrige Langhaus mit den charakteristischen 
Fensterluken des Mittelschiffes an. Auch der 
Turm mit seinem achteckigen Unterbau und 
dem gezierten barocken Helm ist exakt nach- 
gezeichnet, dahinter sieht man die Häuser der 
Steiner Landstraße, am Ende des Minoriten- 
platzes die charakteristische Giebelfront des 
Hauses Landstraße 27, den ehemaligen Salz- 
stadel. Zur Belebung des Motivs zeichnete 
Schiele an der Donaulände einen Schleppkahn, 
der hier verankert ist. 
Im großen und ganzen könnten wir auch hier 
von einer ziemlich genauen Naturstudie spre- 
chen. Die linke Bildhälfte widerspricht jedoch 
der Situation. Anstelle des Göttweiger-Hofes 
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