4 Egon Schiele, Stein an der Donau. Ol auf Leinwand
90,4x90,4 cm. Sigm: Egon Schiele 1913. Besitz
Dr. Rudolf Leopold, Wien (Kallir, CEuvrevarz. Ni. 185)
5 Stein an der Donau von Norden gegen Gönweig
(Vargleichsbild zu Abb, 4)
erhalten aber durch die Struktur des Pinsel-
striches ein rein künstlerisch wirksames Eigen-
leben. Diesem Leben wird auch die Beziehung
zum Naturvorbild geopfert: der Turm der Pfarr-
kirche erhält s so wie etwa das Kremser Tor -
ein einfaches Pultdach. Die dunkle Stadtmauer
sehen wir rechts von der Frauenbergkirche.
Überhaupt haben sich alle Proportionen ver-
ändert. Der Bildausschnitt ist nicht mehr qua-
dratisch. sondern schmal und hoch. Der Frauen-
bergturm, in den Proportionen bedeutend ge-
streckt, steht nun in der linken Bildhälfte und
setzt so der gewohnten Blickrichtung ein
wirksames Überraschungsmoment entgegen. Das
Dreieck steigt steil an und fällt allmählich ab.
Die Vertikale siegt über die Horizontale. So
verbindet der hohe Turm jetzt die Stadt mit
dem Berg, und es ist gewiß kein Zufall, daß der
Turmhelm vor das dunklere Wiesenstück zu
liegen kommt, aus dem das Zifferblatt wie ein
mächtiges Auge hervorzuleuchten scheint. Die
Weingartenterrassen führen in Stufen zu diesem
Turm empor; deutlich ist die künstlerische An-
ordnung darauf bezogen. Vergleichen wir nun
auch die Maßverhältnisse in der horizontalen
Anordnung: Wie tief sitzt in der Skizze das
Dach der Pfarrkirche. Der Abstand vom First
zum unteren Bildrand entspricht dem des
Frauenbergkirchendaches. Um wieviel höher
erscheint durch dieses Herabrücken der Häuser
das Emporragen des Turmesl Das Motiv hat
sich verändert: Es geht Schiele hier nicht mehr
um eine „künstlerische Vision" der Stadt Stein,
sondern um die Wiedergabe eines konkreten
Erlebnisses: die kleine Stadt am Strom und der
hohe Turm, der in die Berge ragt. Die Details
sind zu einer anderen, größeren Einheit zu-
sammengefügt und gehen in ihr auf.
Mit diesen grundsätzlichen Beobachtungen
haben wir zugleich einen Ausgangspunkt für
die Untersuchung der letzten beiden Bilder
gefunden. Es handelt sich hier (in beiden Fällen)
um eine Ansicht der Stadt Stein, wie sie sich
von der Höhe des Steiner Kreuzberges bietet.
Allerdings ist das Verhältnis der beiden Bilder
zueinander nicht so klar wie in den beiden
bereits besprochenen Fällen. Die größere Natur-
nähe der ausgeführten Arbeit ist nur scheinbar.
Dennoch wollen wir diese Ansicht zuerst be-
handeln.
Für jeden, der die örtliche Situation (Abb. 5)
halbwegs kennt, ist es klar, daß bei dem Bild
(Kallir Nr. 186, ÖllLeinen, 90,4x90,4 cm, Dr. R.
Leopold, Wien, Abb. 4) zwei Motive zusammen-
gefügt sind. In der rechten Bildhälfte sehen
wir einen Teil des östlichen Stadtteiles. Hier
im Vorder- und Mittelgrund den mächtigen
Komplex des ehemaligen Minoritenklosters, am
unteren Bildrand den Klosterhof, wobei Schiele?
was die Fensterordnung und den Anbau an der
nördlichen Außenfront betrifft - eigentlich sehr
exakt die Details wiedergegeben hat. Diese
Genauigkeit sieht man auch am vorgeschobenen
Flügel im Westen, der den Minoritenplatz gegen
Norden abschließt; die Fassadengliederung ist
angedeutet. Sehr genau, in allen charakteristi-
schen Details, ist auch die Kirche wiedergegeben,
jener Bau also, der in den letzten Jahren Schau-
platz der großen Kunstausstellungen war. Man
sieht den hohen gotischen Chor mit den Streben,
den weiten Fenstern und dem mächtigen Dach.
Daran schließt das frühgotisch-spätromanische
niedrige Langhaus mit den charakteristischen
Fensterluken des Mittelschiffes an. Auch der
Turm mit seinem achteckigen Unterbau und
dem gezierten barocken Helm ist exakt nach-
gezeichnet, dahinter sieht man die Häuser der
Steiner Landstraße, am Ende des Minoriten-
platzes die charakteristische Giebelfront des
Hauses Landstraße 27, den ehemaligen Salz-
stadel. Zur Belebung des Motivs zeichnete
Schiele an der Donaulände einen Schleppkahn,
der hier verankert ist.
Im großen und ganzen könnten wir auch hier
von einer ziemlich genauen Naturstudie spre-
chen. Die linke Bildhälfte widerspricht jedoch
der Situation. Anstelle des Göttweiger-Hofes
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