Wilhelm Mrazek
Experimentelle
Photographie -das Ende
der Kunst?
Zu Arbeiten der Wiener Photographen
Hans Mayr und-W. Narbutt-Lieven
Die „documenta '72" in Kassel hat in einer kaum
für möglich gehaltenen Weise die Bedeutung
der Photographie für die zeitgenössischen künst-
lerischen Schöpfungen vor Augen gestellt. Zu
keiner Zeit wie in der Gegenwart bedienten
sich die Maler der Photographie in so eindeuti-
ger Weise, daß man geradezu von völliger Ab-
hängigkeit sprechen kann.
Seit der Erfindung der Photographie gab es
immer schon ein Wechselgesprüch zwischen ihr
und der Malerei. Dies führte mit den Jahren und
der Vervollkommnung der photographischen Er-
gebnisse am Beginn unseres Jahrhunderts
schließlich zur Befreiung der Malerei, die nicht
mehr illustrieren und abbilden brauchte und
daher den folgerichtig letzten Schritt tun kannte:
sich gänzlich vom sichtbaren Gegenstand abzu-
lösen, sich ieder Bindung an ihn zu enthalten,
sich dem freien Spiel von Rhythmen, Form- und
Farbklängen hinzugeben und in einer ungegen-
stündlichen Malerei ihr Ziel zu sehen. Damit
war die saubere Trennung der beiden Gebiete
erreicht und der Photographie allein die Auf-
gabe zugewiesen, die Realität abzubilden und
sich ausschließlich im Dienste der Informations-
medien, der wissenschaftlichen Dokumentation
und der Kunstreproduktion zu betätigen.
Diese Verweisung der Photographie in die Be-
reiche der sichtbaren Realität konnte nicht end-
gültig sein. Denn ietzt begannen die Photogra-
phen, die Fragen nach den Grundlagen ihrer
Disziplin zu stellen. Sie untersuchten experimen-
tell ihre elementaren Möglichkeiten und Mittel,
um aus dem zugewiesenen Getto der sichtbaren
Realität auszubrechen und einen Ausgangspunkt
für einen neuen Anfang zu finden. Das Wechsel-
gespräch zwischen Photographie und Malerei
begann von neuem. Es ließ sich nicht verhindern,
wenn Photographieren mehr sein sollte als ob-
iektive Gebundenheit an den Gegenstand,wenn
auch dem Photographen formendes Schaffen als
eine Möglichkeit seiner technischen Mittel zu-
stehen sollte. Wer hätte letztlich auch die Photo-
graphen daran hindern können, den Weg einer
autonomen Photographie zu beschreiten und du-
bei zu Ergebnissen zu kommen, die eigenständi-
gen Wert besitzen?
Als es im Jahre 1839 dem Maler Jacques Louis
Daguerre (1787-1851) in Weiterführung einer
Erfindung des französischen Offiziers Joseph
Nicephore Niepce (1765-1833) gelang, mit Hilfe
einer technischen Apparatur und eines chemi-
schen Prozesses „dauerhafte BiIder" herzustel-
len, war die Photographie, „eine der schönsten
und nützlichsten Erfindungen", geboren worden.
Von Anbeginn fand diese Erfindung vor allem
bei den Malern größtes Interesse, denn seit der
Renaissancezeit hatten diese sich auch mit den
Problemen des Lichtes, der Camera obscura
und der Laterna magica, Vorformen des photo-
graphischen Apparates, beschäftigt. Es ver-
wundert daher nicht, daß Jacques Louis Daguerre
über Betreiben des Kanzlers Fürst Metternich
im Jahre 1843 zum Ehrenmitglied der Wiener
Akademie der bildenden Künste ernannt wurde.
Frühzeitig wurde iedoch auch die Problematik
des Verhältnisses zwischen Photographie und
Kunst erkannt. Im Jahre 1847 fand Rudolf von
30
Eileluergel, uer uegruuuer uer umher konstru-
storischen Schule und der erste Direktor des
Österreichischen Museums für Kunst und Indu-
strie, in seiner Antrittsvorlesung hiefür die Wor-
te: „Die Kunst war (durch die Photographie) in
ein neues Stadium getreten, eine neue Ära wurde
prophezeit. Wir alle waren Zeugen gewesen der
Bewunderung, die das Daguerreotyp erregte,
einer verdienten, wenn es sich um die Lösung
physikalischer Probleme handelt. ich bitte Sie,
sich recht lebendig vor die Seele zu führen, wie
insbesondere die Naturforscher mit wahrem Ju-
bel porträtierten und sprachen: die Kunst hat
ihr Ende erreicht, denn die Natur selbst hat sich
an die Staffelei gesetzt und macht nicht in
Tagen, in Minuten und Sekunden das, und zwar
besser und getreuer als es ein Künstler ie ver-
mochte, was man da sah, betrachtete man nur
als Anfang, man erwartete sich Landschaften in
Farben und Tönen und so langsam und nach
und nach das Ende der Kunst."
Auf diese frühe Anerkennung und Aufzeigung
des problematischen Verhältnisses zwischen
Photographie und Kunst folgten in den näch-
sten Jahnehnten in Wien zahlreiche Ereignisse,
die für die Entwicklung der Photographie von
großer Bedeutung sein sollten, da gab es den
ersten Chronisten der Photographie, den Kustos
der Wiener Universitätsbibliothek Karl Josef
Kreutzer, der von 1855-1857 drei Bände „Jah-
resbericht über die Fortschritte und Leistungen
im Gebiete der Photographie und Stereoskopie,
mit genauer Nachweisung der Literatur" heraus-
brachte. Im Jahre 1861 erfolgte dann der erste
Zusammenschluß der Wiener Photographen zur
Photographischen Gesellschaft, zu deren Leitung
Pioniere wie A. und L. Angerer sowie Josef
Maria Eder gehörten, der ab 1887 das „Jahrbuch
für Photographie und Reproduktianstechnik" her-
ausgab und der erste Direktor der im Jahre 1888
gegründeten Graphischen Lehr- und Versuchs-
anstalt für Photographie und Reproduktions-
technik war. Josef Maria Eder war auch der erste
Historiagraph der neuen Kunst. Im Jahre 1891
erschien seine „Geschichte der Photochemie und
Photographie vom Altertum bis in die Gegen-
wart", ein Werk, das nach im Jahre 1932 seine
vierte Auflage erlebte. Das Jahrhundert be-
schloß schließlich die Jubiläumsausstellung der
Photographischen Gesellschaft im Jahre 1898,
die wohl ein einmaliger Höhepunkt der seit
1864 durchgeführten Ausstellungstätigkeit der
Wiener Photographen gewesen ist. War in
Entsprechung zur allgemeinen Entwicklung im
Zeitalter des industriellen Fortschrittes in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Photo-
graphie vor allem als eine Errungenschaft der
Technik angesehen worden und hatte eine immer
mehr um sich greifende Großindustrie diesen
Eindruck gefördert, so fand dennoch das Wech-
selgespräch zwischen Maler und Photograph
seine Fortsetzung. Die Kunst war gezwungen, die
Photographie ernst zu nehmen. Denn die Ver-
vollkommnung des optisch-mechanischen Weges
der Photographie erbrachte Bilder, deren „Ob-
iektivität" alle anderen malerischen und gra-
phischen Verfahren übertraf. Die Malerei ver-
suchte daher, neue Sehweisen zu finden, die
keine Ähnlichkeit mehr mit dem wissenschaft-
Iichen Dokumentationscharakter der photogra-
phischen Bilder hatten. Auf der Suche, das zu
finden, was der Malerei eigentlich zukam, was
ihr Wesen ausmachte, was sie vom rein optisch-
mechanischen Abbilden unterscheidet, war sie
gezwungen, die bisher als gültig interpretierten
traditionellen Grenzen einer sich im Abbildhaf-
ten erschöpfenden Imitation naturae zu über-
schreiten. Der Impressionismus, der Expressionis-
mus und schließlich die Abstraktion faßten die
1 Hans Mayr, Aeolsharfe, 1972. 50 x 40 cm
2 W.
Meer", 1972, 50 x 78 cm
3 Das „team" der Experimentellen, links
Narbutt-Lieven, rechts Hans Mayr
Narbutt-Lieven, „Der alte Mann und das
W.