Das Motiv ist ganz eindeutig von den Galions-
Gguren inspiriert und von der überlieferten
Schiffsikonographie abzuleiten. In der Ge-
schichte des Automobilbaues war es zu diesem
Zeitpunkt ein absolutes Novum, den Auto-
kühler mit einem serienmäßig hergestellten
plastischen Schmuck zu versehen. Gleichzeitig
tritt hier ein neuer Aufgabenbereich der bil-
denden Kunst in Erscheinung, wie ihn die
fortschreitende Technik mit sich brachte. Ein
solcher Auftrag stellte selbstverständlich auch
in ikonographischer Hinsicht eine völlig neue
Aufgabe. Wir werden im einzelnen noch
darauf zurückkommen. Rolls-Royce vergab
diesen Auftrag über Claude Johnson an
Charles Sykes (1875e1950) (Abb. 4). Es
war dies ein auf vielerlei Gebieten tätiger
Künstler, der durch sein plastisches Erstlings-
werk, eine 1911 in der Royal Academy in
London und im gleichen Jahre im Pariser
Salon ausgestellte Bronzestatuette einer Bac-
chantin, gerade damals bekannt geworden
war J. Gönner und Freund von Charles Sykes
war John, 2nd Lord Montagu of Beaulieu,
ein Pionier des Motorsports in England. Et
gab eine Zeitschrift „The Car Illustrated"
heraus, für die Sykes4 regelmäßig Weihnachts-
titelblätter entwarf, die farbig reproduziert
wurden. Die Beziehungen von Lord Montagu
zu Sykes bestanden bereits seit dem Jahre
1903, wo der letztere für die Zisterzienser-
kirchc Beaulieu, Wo Lord Montagu Laienabt
war, ein Triptychon (eine Kreuzabnahme
Christi) malte sowie eine Muttergottesstatue
in Lebensgröße aus Bronze für das „Palace
House" schuf. Es ist daher durchaus denkbar,
daß der von Rolls-Royce an Sykes vergebene
Auftrag direkt auf den Rat von Lord Montagu
hin erfolgte.
Dies ist um so wahrscheinlicher, als der
Künstler um die gleiche Zeit, in der die Kühler-
i-igur konzipiert wurde, für Lord Montagu
ein „persönliches" Mascot für dessen Rolls-
Royce schuf. Unverkennbar ist die Ähnlichkeit
dieses Stückes, wenn man von der differen-
zierten Fußstellung absieht, mit dem serien-
mäßig hergestellten Rolls-Roycc-Mascot. Zwei-
fellos nimmt das Montagu-Mascot eine Schlüs-
sclposition auf dem Weg der endgültigen
Klärung der Komposition der Rolls-Royce-
KühlerFigur ein. Sehr charakteristisch ist bei
dem Montagu-Mascot die Geste der vor den
Mund gehaltenen linken Hand, wovon sich
der Name „The Whisper" ableitet, der den
leisen Lauf des Rolls-Royce-Motors sym-
bolisieren soll.
Durch die Tochter des Künstlers, Joe Phillips-
Sykcs, der wir ganz besonders zu Dank ver-
pHichtet sind, ist der Inhalt der gemeinsamen
Gespräche überliefert, die der Bildhauer mit
Lord Montagu führte, als er sich mit dem
Entwurf für das Rolls-Royce-Mascot beschäf-
tigte. Sykes sagte nämlich: „The car travelled
so smoothly in spite of the specd that (he)
imagined that even so delicate a crcaturc as a
fairy eould ride on the bonnet and not lose
balance." Es ist, wie man sieht, die typisch
englische Märchenwelt mitihren „fairy stories",
wie sie dem bildhaften Denken von Charles
Sykes damals vorschwebte und wie sie, um
nur diese Künstler zu nennen, durch Jessie
M. King, W. Heath Robinson, Andrew Lang
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