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Melodien niemals andere Stimmen neben sich hatten, sogar in der Epoche, in welcher ihre
Mehrstimmigkeit keinem Zweifel unterliegt; aber so viel ist gewiß, daß der berühmte
Theoretiker Szaidurow im XVI. Jahrhundert die Polyphonie als eine sehr alte Kunst
behandelt. Unterricht und Muster mochte das ruthenische Volk aus Griechenland, Bulgarien
und Serbien erhalten haben, aber die Ausbildung und Verallgemeinerung des mehr
stimmigen Gesanges war das Werk und das Resultat der Begabung der ganzen Nation.
Der Chorgesang ist also uralt, und das Volk sang in der Kirche, bei den Festlich
keiten, während des Marsches, vor und nach der Schlacht. Das Kyrie Eleison, welches aus
Griechenland kam, wurde bald ein nationales Lied, welches besonders vor der Schlacht
ähnlich wie die polnische „Bogarodzica" vom Heere gesungen wurde. Im XIII. Jahr
hundert war der antiphonische Gesang in der Kirche üblich, Doppelchöre waren keine
Seltenheit.
Das Verbot, welches die Hierarchen im X. Jahrhundert erließen, weder Blas-,
noch Saiteninstrumente in der Kirche einzuführen, war für die Ausbildung des Chorgesanges
von großem Nutzen; statt der Instrumente leiteten die Vorsänger (Didaskalen, Domestici,
Regenten) den Volksgesang in der Kirche. Die Terzengünge kamen sehr früh in Gebrauch,
aber darin äußert sich die musikalische Begabung des ruthenischen Volkes, daß es
nicht unbeholfen an den Terzen haftete, sondern in den Modulationen andere Intervalle
aufsuchte. Es kamen nun sehr oft schreiende Dissonanzen vor, außer den Quinten und
Octavengängen auch Secnndengänge auf- und abwärts, und im XVI. Jahrhundert zur
Zeit Szaidurows scheute man solche Harmonien nicht im geringsten, aber gleichzeitig
begann sich eine dritte Stimme geltend zu machen, und der dreistimmige Gesang beherrschte
bald sowohl Kirchen- als auch weltliche Lieder. Dieser mehrstimmige Gesang hatte jedoch
mit der Polyphonie des Abendlandes nichts gemein. Die Hauptmelodie lag in der oberen
Stimme, die anderen bewegten sich homophonisch. Die Polyphonie mit der contrapnnktlichen
Beweglichkeit der Stimmen und mit allen möglichen Lagen des (lantus tirrmm drang
zwar in neuerer Zeit in den kleinrussischen Kirchengesang ein, vermochte jedoch nirgends
festen Fuß zu fassen und wurde schließlich verworfen. Statt dessen begegnen wir einer Art
freien Canons und freier Nachahmung.
Im XVI. Jahrhundert kamen im Kirchengesange verschiedene Richtungen zum
Vorschein, die oft im grellen Widerspruch zu einander standen. Der figurale Gesang hatte
Anhänger und Widersacher; im XVIII. Jahrhundert haben sogar in Lemberg die Bischöfe
Leo Szeptycki und Peter Bielanski einen männlichen Chor mit Orchester unterhalten, im
XIX. Jahrhundert sang in Lemberg ein gemischter Chor mit Orchester, aber alle diese
Neuerungen, mochten sie auch momentan musikalische Gemüther lebhaft beschäftigt haben,
fanden doch im Grunde wenig nachhaltigen Anklang. Die Einfachheit und der ungezwungene