Mit dieser Architektur der Türme wird um 1900
schan manches von der Wirkung vorweggenommen,
die heute von der „skyline" amerikanischer Städte
ausgeht. Sie ist monumentaler als das, was die
Diktatoren der dreißiger Jahre bauten oder bauen
wollten.
Der größte Teil des Werkes ist iedoch dem mensch-
lichen Körper und seinen Ausdrucksmöglichkeiten
gewidmet. Es geht niemals um das Individuum,
die Menschen scheinen Masken zu tragen, es geht
um die Gestik, um das Umsetzen von Gefühlen in
geböndigte Bewegung. So werden selbst Schlach-
tenszenen völlig irreal. Niemals fließt Blut. Alles
Geschehen ist wie im Tanz durch das Zueinander
und Gegeneinander der Körper ausgedrückt, die
den Gesetzen musikalischer Komposition gehorchen.
Auch die einzelne Aktzeichnung ist nicht nur Vor-
stufe: sie zeigt Hingabe und Zorn, Aufbäumen und
Geworfensein. Sie ist in den Raum eingeordnet wie
ein fertiges Bild - und gelegentlich signiert.
Da wir uns hier von vornherein in einer irrealen
Welt bewegen, entspringt die Verwendung von
Themen der antiken Mythologie nicht dem Ehrgeiz
des klassisch Gebildeten: es ist eher eine Selbst-
bescheidung. Der Künstler glaubte, in diesem The-
menkreis bereits Varwände genug zu finden, um all
das wiederzugeben, was die Menschen aller Zeiten
bewegen könne. ln dem gleichen Zusammenhang
mag die Beobachtung wichtig sein, daß Jettmar mit
der Tradition der Historienmalerei - der er doch
durch seine Lehrer entstammt - radikal gebrochen
hat. Nach Verlassen der Akademie hat er nie
wieder freiwillig ein Ereignis dargestellt, das nicht
der mythischen Sphäre angehörte. Als ihn ein Auf-
trag der Gemeinde Wien zwingt, Fußballspieler
darzustellen, wirkt das, als wären Dämonen oder
Heroen zum Kampf um das Leder angetreten.
Heute sieht man den geistigen Hintergrund dieser
Wendung. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts,
nicht zuletzt durch Sigmund Freud, hat man den
Mythos als außerzeitliche Realität erkannt, er ist
nicht fiktive Vorgeschichte, sondern er spielt in
einer anderen Dimension, in der die Entscheidungen
erfolgt sind, bevor das Spiel in der unseren beginnt.
Die gleiche Zeit ist auch des Schicksals und seiner
Übermacht innegeworden. Der Verfasser kann hier
seine Beispiele aus dem ldeenvarrat der eigenen
Disziplin beziehen: Wenn Leo Frobenius von
„paideuma" sprach, dann meinte er „Kultur als
übermächtigen Auftrag und Verhängnis", er sah
sie wie eine dunkle Wolke über den Völkern
hängend, sie ergreifend und wieder preisgebend,
um andere in den Bann zu zwingen.
Das spätromantische Gedankengut, das in Wien
niemals aufgegeben wurde, ist damit zu einer
Härte und Gnadlasigkeit weitergeführt worden, die
ihren Ausdruck auch in den reifsten Gedichten Rilkes
findet. Man könnte Verse, die von der „lautlosen
Landschaft" sprechen, von den „Schluchten, in
denen das Furchtbare lag, noch satt von den Vä-
tern" unter manche Radierungen Jettmars setzen.
Eine Zeitlang konnte man sich der Illusion hingeben,
als habe die sogenannte moderne Kunst - in
Österreich spät und etwas abrupt zum Siege ge-
langt - mit all dem nichts zu tun. Heute entpuppt
sie sich gerade in ihren lebendigsten Vertretern als
Manierismus, der sich zum Teil realistischer, ia klas-
sischer Formen bedient. Zeitgenössische Grafiker
schaffen wieder eine Traumwelt neben dem Alltag.
Sie fordern aber auch eine soziale Realität (wie
unlängst Ernst Fuchs, der Jettmar hoch schätzt,
in einer Fernsehsendung], die von einer phantasti-
schen Architektur mitbestimmt wird. Damit wird der
geistige Raum, in dem Rudolf Jettmar gelebt hat,
plötzlich aktuell.
7 Rudolf Jettmar, Herkules erlegt die Iernäische Hydra,
wae. Radierung
a Rudolf Jettmar, Aktskizzen, 1910. Bleistift
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