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Volltext: Alte und Moderne Kunst XVI (1971 / Heft 118)

 
 
Mit dieser Architektur der Türme wird um 1900 
schan manches von der Wirkung vorweggenommen, 
die heute von der „skyline" amerikanischer Städte 
ausgeht. Sie ist monumentaler als das, was die 
Diktatoren der dreißiger Jahre bauten oder bauen 
wollten. 
Der größte Teil des Werkes ist iedoch dem mensch- 
lichen Körper und seinen Ausdrucksmöglichkeiten 
gewidmet. Es geht niemals um das Individuum, 
die Menschen scheinen Masken zu tragen, es geht 
um die Gestik, um das Umsetzen von Gefühlen in 
geböndigte Bewegung. So werden selbst Schlach- 
tenszenen völlig irreal. Niemals fließt Blut. Alles 
Geschehen ist wie im Tanz durch das Zueinander 
und Gegeneinander der Körper ausgedrückt, die 
den Gesetzen musikalischer Komposition gehorchen. 
Auch die einzelne Aktzeichnung ist nicht nur Vor- 
stufe: sie zeigt Hingabe und Zorn, Aufbäumen und 
Geworfensein. Sie ist in den Raum eingeordnet wie 
ein fertiges Bild - und gelegentlich signiert. 
Da wir uns hier von vornherein in einer irrealen 
Welt bewegen, entspringt die Verwendung von 
Themen der antiken Mythologie nicht dem Ehrgeiz 
des klassisch Gebildeten: es ist eher eine Selbst- 
bescheidung. Der Künstler glaubte, in diesem The- 
menkreis bereits Varwände genug zu finden, um all 
das wiederzugeben, was die Menschen aller Zeiten 
bewegen könne. ln dem gleichen Zusammenhang 
mag die Beobachtung wichtig sein, daß Jettmar mit 
der Tradition der Historienmalerei - der er doch 
durch seine Lehrer entstammt - radikal gebrochen 
hat. Nach Verlassen der Akademie hat er nie 
wieder freiwillig ein Ereignis dargestellt, das nicht 
der mythischen Sphäre angehörte. Als ihn ein Auf- 
trag der Gemeinde Wien zwingt, Fußballspieler 
darzustellen, wirkt das, als wären Dämonen oder 
Heroen zum Kampf um das Leder angetreten. 
Heute sieht man den geistigen Hintergrund dieser 
Wendung. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, 
nicht zuletzt durch Sigmund Freud, hat man den 
Mythos als außerzeitliche Realität erkannt, er ist 
nicht fiktive Vorgeschichte, sondern er spielt in 
einer anderen Dimension, in der die Entscheidungen 
erfolgt sind, bevor das Spiel in der unseren beginnt. 
Die gleiche Zeit ist auch des Schicksals und seiner 
Übermacht innegeworden. Der Verfasser kann hier 
seine Beispiele aus dem ldeenvarrat der eigenen 
Disziplin beziehen: Wenn Leo Frobenius von 
„paideuma" sprach, dann meinte er „Kultur als 
übermächtigen Auftrag und Verhängnis", er sah 
sie wie eine dunkle Wolke über den Völkern 
hängend, sie ergreifend und wieder preisgebend, 
um andere in den Bann zu zwingen. 
Das spätromantische Gedankengut, das in Wien 
niemals aufgegeben wurde, ist damit zu einer 
Härte und Gnadlasigkeit weitergeführt worden, die 
ihren Ausdruck auch in den reifsten Gedichten Rilkes 
findet. Man könnte Verse, die von der „lautlosen 
Landschaft" sprechen, von den „Schluchten, in 
denen das Furchtbare lag, noch satt von den Vä- 
tern" unter manche Radierungen Jettmars setzen. 
Eine Zeitlang konnte man sich der Illusion hingeben, 
als habe die sogenannte moderne Kunst - in 
Österreich spät und etwas abrupt zum Siege ge- 
langt - mit all dem nichts zu tun. Heute entpuppt 
sie sich gerade in ihren lebendigsten Vertretern als 
Manierismus, der sich zum Teil realistischer, ia klas- 
sischer Formen bedient. Zeitgenössische Grafiker 
schaffen wieder eine Traumwelt neben dem Alltag. 
Sie fordern aber auch eine soziale Realität (wie 
unlängst Ernst Fuchs, der Jettmar hoch schätzt, 
in einer Fernsehsendung], die von einer phantasti- 
schen Architektur mitbestimmt wird. Damit wird der 
geistige Raum, in dem Rudolf Jettmar gelebt hat, 
plötzlich aktuell. 
7 Rudolf Jettmar, Herkules erlegt die Iernäische Hydra, 
wae. Radierung 
a Rudolf Jettmar, Aktskizzen, 1910. Bleistift 
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