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Volltext: Alte und Moderne Kunst XVII (1972 / Heft 120)

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Forum der österreichischen Kunstkritik 
Johann Muschik 
Vom Wesen der Kunstkritik 
folgenden Überlegungen betreffen vor al- 
die Kritik auf dem Felde der bildenden 
st. Vornehmlich die umstrittene Erscheinung 
FBTI, der in Zeitungen und Zeitschriften 
eibt, ist ihr Gegenstand. Die Verfasser von 
iern über Gegenwartskunst gehören zu einer 
lichen Kategorie. 
Kritiker hat viele Gegner. Ihm wird, seit es 
gibt, erstens von Künstlern mit Feindseligkeit 
egnet. Viele von ihnen haben sich kaum ie 
(stematischer Weise Gedanken gemacht über 
I und Berechtigung der Kritik, und ihrer mehr 
1 fühlen sich, ob zu Recht oder Unrecht, nicht 
r nur ungenügend anerkannt und iedenfalls 
trem Geschäftsbetrieb gestört. Künstler stel- 
ihre Werke unter anderem ia auch zu Ver- 
iszwecken her. Eine Kritik, die entschiedener 
r den Begriff der bloßen Berichterstattung, 
Erläuterung oder besser noch der Werbung 
tfl würde, wäre manchem Bildhauer oder 
er weit eher genehm. 
zweiten Klasse von Menschen, die sich mit 
Kritik nicht selten auf Kriegsfuß befinden, 
ien die Repräsentanten anderer Kunstgat- 
en gehören. Gerne ergreifen sie Partei für 
bildenden Künstler, machen auch sie Front 
an die Kunstkritik. Sie sehen sich in dersel- 
Position wie die Bildhauer oder Maler, den 
riffen des gleichen Feindes ausgesetzt. Es 
ia schließlich auch eine Kritik der Literatur, 
Musik, des Tanzes und des Schauspiels. Das 
nt an, Bündnisse zu schließen; die Sache der 
it sei gemeinsam. 
dritte Klasse ist mit Galeriebesitzern, Mu- 
isleitern und Verwaltern anderer kultureller 
er besetzt. Sie alle können sich zu den 
tkritikern in einem Verhältnis der Feind- 
ft befinden (oder auch der mehr oder min- 
aewaffneten Neutralität oder auch der Kom- 
inschaft, was ia selbst zwischen Künstlern 
Kunstkritikern vorkommt). 
iiereligion 
vierte Klasse schließlich stellt iener Teil des 
ikums dar, welcher dem Künstler grundsätz- 
nit Ergriffenheit gegenübersteht. Seit Carlyle, 
Jm die Mitte des vergangenen Jahrhunderts 
Buch über Helden und Heldenverehrung 
eb, gibt es diese nahezu kultische Haltung. 
hren Wurzeln reicht sie über Schopenhauer 
die Romantik in den Sturm und Drang, in 
Spätbarock, in die Renaissance und, was 
Verehrung des Dichters anlangt, bis in die 
re zurück. Auch im Künstler spreche etwas 
liches, das angebetet werden müsse. Der 
Künstler sei ein Märtyrer, weil in der Regel von 
der Mitwelt verkannt. Als einen, der dem Heili- 
gen gleich sei, hörte ich ihn erst kürzlich wie- 
der in einer Diskussion über Kunst von einem 
Enthusiasten preisen. 
Die Genieverehrung, die nicht allein der gro- 
Ben künstlerischen Persönlichkeit gilt, hat reli- 
gionsähnliche Züge. Es ist bemerkenswert, daß 
sie gerade in ienem 19. Jahrhundert in besonde- 
rer Breite aufzutreten begann, das sich mit be- 
sonderer Systematik ans Werk der Religionskri- 
tik machte. Der Geniekult ist eine Ersatzreligion. 
Feststellung der Wahrheit 
Und wie einst den Kritikern der Religion, ist 
man den Kritikern dessen, was an Stelle der 
Religion gesetzt wurde, des Genies, der künst- 
lerischen Persönlichkeit, des neuen Heiligen und 
Märtyrers fürs erste mit einer tiefempfundenen 
Abneigung begegnet. Seinen Gott läßt sich der 
Gläubige nicht gerne nehmen, und zum Geschäft 
des Kritikers gehört es nun einmal, zu prüfen, 
ob das oft vorschnell Verehrte der Verehrung 
auch wirklich wert ist. Er hat der Wahrheit die 
Ehre zu geben, das scheinbar Göttliche auf das 
Menschliche zurückzuführen. Auch Kritiker kön- 
nen verehren. Zum Unterschied von den Ver- 
kündern und Anhängern der Geniereligion ver- 
ehren sie aber nicht um ieden Preis. 
Die ersten Kritiker waren die Künstler 
Das vielgeschmöhte Volk der Kritiker kann auf 
einen für manche seiner Gegner vielleicht er- 
staunlichen Umstand verweisen. Die ersten Kri- 
tiker waren gar nicht die Kritiker, sondern die 
Künstler selber, und zwar die in der Antike gar 
nicht sehr angesehenen bildenden Künstler. Sie 
begannen gewissermaßen auch aus Notwehr 
zu schreiben, in jenem goldenen perikleischen 
Zeitalter, das sie den Handwerkern gleichstellte 
und als Banausen ansah, die einer kulturellen, 
vollmenschlichen Entwicklung gar nicht fähig 
wären. 
Die bildende Kunst ist ia tatsächlich aus dem 
Handwerk entstanden. Der Literat, der Histori- 
ker, der Philosoph, der Komödiendichter, der 
Rhetoriker galten als von höherer Herkunft. Das 
Mundwerk hatte vor dem Handwerk den Vor- 
zug. Der bildende Künstler war durch den Ma- 
kel körperlicher Arbeit geschändet. 
Kunstliebhaberei bildete sich schon in der An- 
tike heraus. Doch noch bei dem Philosophen 
und Historiker Plutarch, der im ersten nachohrist- 
lichen Jahrhundert wirkte, hieß es: „Wenn wir 
uns auch am Kunstwerk erfreuen, so verachten 
wir doch den Künstler." Kein iunger Mensch von 
guter Anlage werde, wenn er die weltberühm- 
ten Werke des Phidias oder Polyklet sehe, auch 
ein Phidias oder Polyklet werden wollen, und 
wenn ein Werk gefällt, so brauche darum sein 
Verfertiger noch nicht der Aditung des Publi- 
kums wert zu sein. 
Der berühmte „Kanon" des Polyklet wurde 
von Albert Dresdner in seinem schönen Buch 
über Kunstkritik die erste kunstkritische Schrift 
genannt. 
In der Antike ist eine ganze Literatur entstan- 
den, die bildende Künstler zu Verfassern hat. 
Diskussionen über grundlegende Probleme der 
Kunsttheorie, und insbesondere auch prinzipielle 
Auseinandersetzungen der verschiedenen Schu- 
len miteinander, machten den Inhalt dieser Schrif- 
ten aus. Die Künstler wurden die ersten Kunst- 
kritiker, indem sie sich und ihre Leistungen mit 
denen ihrer Kollegen verglichen. 
Aus der Art der Argumentation ist zu ersehen, 
daß sie mit dieser schriftstellerischen Betätigung 
auch ihr Recht auf höhere soziale Geltung ver- 
fochten. Die Kunst sei der Wissenschaft gleich 
oder ihr zumindest benachbart, verlauteten sie 
mehr oder minder ausdrücklich. Die Wissen- 
schaft nämlich war sozial hoch angesehen. 
Das Mittelalter machte die bildende Kunst, wie 
nahezu alles kulturelle Leben, der Religion dienst- 
bar. Der Künstler wurde zum Anonymus und 
wieder nicht höher als der Handwerker ge- 
schätzt. Was, zu welchem Zweck (und in hohem 
Maße auch wie) gemalt oder gebildhauert wer- 
den sollte, bestimmten die Theologen. Das Ge- 
schäft des Künstlers selber konnte keinen eige- 
nen geistigen Rang beanspruchen. Als eine„nütz- 
liche Beschäftigung der Hände" wurde es von 
Theophilus Presbyter um 1110 bezeichnet. Erst 
Leone Bottista Alberti, Baumeister, Bildhauer, 
Maler, universale Persönlichkeit, pries die Ma- 
lerei als ein Vermögen rein geistiger Art und 
zählte sie den „freien Künsten" zu, als da waren: 
die Grammatik, die Dialektik, die Rhetorik, die 
Arithmetik, die Geometrie, die Musik und die 
Astronomie. Für Leonardo war der Künstler der 
Herr der Welt. Die Malerei galt ihm als die vor- 
nehmste Kunst,der Dichtung, derMusik, derSkulp- 
tur überlegen. Michelangelo schließlich berief 
sich gern auf seine adelige Abstammung und 
hätte den Plebeier am liebsten von der Ausübung 
der Kunst ausgeschlossen. „ll divino", der Gött- 
liche genannt, war er der erste Künstler, der so 
aufgefaßt wurde, wie die Geniereligion des 19. 
und 20. Jahrhunderts den überragenden Men- 
schen überhaupt sieht. 
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