Rudolf Kuhn
Cranachs Christus am Kreuz
(von 1503) als Marienklage
Lucas Cranach der Ältere ist 1472 in Oberfran-
ken, in Kronach - daher sein Name - geboren
und 1553 in Weimar, einundachtzigiährig, ge-
starben.
Der wichtigste Einschnitt während seines Berufs-
lebens war der Eintritt in den Dienst des Kurfürsten
von Sachsen. Der Maler war damals zweiund-
dreißig Jahre alt und hatte kurz zuvor geheiratet.
Cranach trat damit in Wittenberg, bald wohlhabend,
in einen festen bürgerlichen Verband, dem er selbst
auch zweimal (1537-1544, Wiederwahl 1540) als
Bürgermeister vorstand. Er kam in die genannte
enge Verbindung zum Hof der drei Kurfürsten,
Friedrichs des Weisen (bis 1525), dessen Bruders
Johanns des Beständigen (bis 1532) und dessen
Sohnes Johann Friedrichs des Großmütigen, und
damit in einen mittelbaren Zusammenhang und für
ihn selbst auch in eine unmittelbare Auswirkung
der politischen Verhältnisse und Auseinandersetzun-
gen des Reiches. Diese persönliche Auswirkung wird
darin sichtbar, daß Cranach nach der Schlacht von
Mühlberg (1547) seinem Landesherrn und Kurfürsten
Johann Friedrich noch mit achtundsiebziglachtzig
Jahren (1550152) (auf des „Kurfürsten gnädiges Be-
gehren und aus einem untertänigen Mitleiden, und
damit demselben in der langwierigen Verhaftung die
Zeit nicht zu lang würde", wie es in einem kur-
fürstlichen Dekret von 1552 heißt) in die kaiserliche
Haft nach Augsburg und Innsbruck nachfolgte.
Durch diesen Ortswechsel trat Cranach letztlich in
eine persönliche Beziehung zum Mittelpunkt der reli-
giösen Erneuerung, zu Martin Luther, der Taufpate
eines der Kinder Cranachs war, bei dessen Hoch-
zeit dann wiederum Cranach Trauzeuge wurde
und dessen Sohn er ebenfalls als Pate aus der Taufe
hob'.
Dieser Eintritt in die drei neuen Umkreise, den
bürgerlichen, den höfischen und den reformato-
rischen, hat sich, wie kunsthistorischerseits häufig
betont wurde, auch in Cranachs Kunst, und zwar
als Beruhigung - worauf noch kurz zurückzu-
kommen sein wird -, ausgewirkt. Seine unruhi-
gen Lehr- und Wanderiahre waren abgeschlos-
sen, und damit auch iene Jahre seines Wirkens,
aus denen die Kreuzigung von 1503, die uns
hier beschäftigt, vor seinen anderen Werken
noch hervorragt.
Die bisherige kunsthistorische Beschäftigung mit
diesem Gemälde ging in drei Richtungen:
Zunächst galt es, stilkritisch die Autorschaft Cra-
nachs zu erkennen (Franz Rieffel, 1895) und sie
zureichend und dauerhaft zu begründen (Eduard
Flechsig, 1900]".
Sodann galt es, dieses Werk in den Zusammen-
hang einer van den Darstellungen selbst ab-
strahierten Stilgeschichte einzuordnen. Der Kata-
log des Museums (1963) kennzeichnet den gegen-
wärtigen Stand in dieser Frage treffend mit einem
Satz von Peter Halm (1951): „Durch die Aufgabe
der traditionell symmetrischen Komposition, durch
die seitliche Anordnung des in schräger Ver-
kürzung gesehenen Kreuzes Christi und durch die
sehr bewußte Art, wie Kreuze und Figuren als
raumbildende Elemente ausgewertet sind", sei die
neuernde und durch die Neuerung zur Donau-
schule vermittelnde Stellung des Bildes bestimmta.
Letztlich war das Bild aus und für sich selbst
zu verstehen, in der Einheit von lkonographie
und Stil, und als Darstellung seines Gegenstan-
des zu würdigen. Auch auf diesem wesent-
lidien und schwierigsten Wege mußte die An-
ordnung der drei Kreuze und mußte die Stel-
lung der beiden Personen Maria und Johannes
hauptsächlich beurteilt werden. Dabei wurde in
den Monographien über Cranach von Curt
Glaser (1923), Hans Posse (1942), Lilienfein (1944)
und in der ausführlichen Erörterung des Bildes
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durch Johannes Jahn (1953) der Akzent, zu
Recht zwar, aber zu ausschließlich, auf die bei-
den Personen in der Mitte des Bildes, auf das
Psychische, auf die Stimmung in ihnen, auf
die Stimmung in der Landschaft, auf deren Mit-
wirkung überhaupt, und insgesamt auf einen
Gewinn an menschlicher, vertrauterer Wirklich-
keit gelegt, und vielleicht gelegentlich noch das
Verhältnis zwischen Maria und dem Gekreuzig-
ten - als Zwiesprache verstanden - hinzuge-
nommeni Zumeist aber wurde schon das Kruzifix,
regelmäßig die beiden Schächer, als kompo-
sitionell an den Rand gestellt zwar richtig be-
schrieben - „beiseite geschoben" ist das wie-
derkehrende charokterisierende Wort -, aber
zu Unrecht in der Auslegung, wenn ich so
sagen darf, beiseite stehengelassen. Dabei
sollte die treffende Beobachtung des Anschau-
lichen durch Johannes Jahn (1953) und Lottlisa
Behling (1957), daß das Ästegewirr des entlaub-
ten Baumes (nehmen wir es erzähltechnisch: in
einem Vergleich) noch einmal die Dornenkrone
Christi meinei, uns aufmerken lassen und sollte
uns warnen, den Kontext, in dem die beiden
Personen in der Mitte auftreten, zu sehr abzu-
schwächen. Es wäre weiterhin zu fragen, ob
letztlich die beiden Schächer bei einer Deutung
Christi und wiederum mit Christus zusammen
bei einer Deutung Mariae und des Johannes
übersehen werden dürfen 6. In der Einheit dieses
zugleich nach links und rechts geschiedenen
Kreises (Dreiecks) der drei Kreuze, welcher durch
den kreisrunden Baumstumpf im Vordergrund
präludiert wird, und in der Einheit dieses Kreises
mit den beiden Personen, die das Kreiszentrum
besetzt halten, besteht die Komposition.
Weiter hat es, daß in der Auslegung dieses
Bildes Teile der Komposition allzuleicht beiseite
gelassen worden sind, daß deren Einheit über-
sehen und nicht bedacht worden ist, dazu ge-
führt, daß das Bild in der lkonographie, als
Teildisziplin der Kunstwissenschaft, seinen Rang
noch nicht gewonnen hat, daß es z. B. in dem
ausführlichen Handbuch von Gertrud Schiller
(1968) gar nicht genannt ist und in dem kürzeren
von Louis Reau (1959) und in dem einschlägigen
Artikel von Geza Jaszai (1970) im Lexikon der
christlichen lkonographie als Beispiel in Zusam-
menhängen mitläuft, aus denen es bedeutend
genug herausragtÄ
Die genannte Eigentümlichkeit der Komposition
dient auch dazu, die historische Stellung dieses
Werkes zu bestimmen. Es untersdteidet sich
durch die Anordnung des Kreuzes ebenso von
den früheren und üblichen Darstellungen der
drei Kreuze auf Golgotha, wofür Cranachs frü-
heres Gemälde in Wien (Kunsthistorisches Mu-
seum, um 1500) und sein früherer Holzschnitt
(1502) stehen mögen. Wie es andererseits und
keineswegs weniger gründlich von den folgen-
den mit ihm verbundenen Darstellungen, für die
sein späteres Gemälde in Bonn (Rheinisches
Landesmuseum, 1515) und eine Zeichnung des
Monogrammisten J. S. in Berlin (Kupferstich-
kabinett, 1511) stehen mögen, sich dadurch
unterscheidet, daß Maria und Johannes inmit-
ten der drei Kreuze sich befinden.
Dabei ist keineswegs in der Abweichung von den
früheren Fassungen des Gegenstandes - als ge-
schichtliche Tat - ein hieratischer Kanon preis-
gegeben worden (so Glaser') oder ein symbo-
lisch-repräsentativer Charakter zugunsten einer
Stärkung des Wirklichkeitscharakters abge-
sdiwächt worden (so Jahn) V, denn weder als hie-
ratisch noch als symbolisch-repräsentativ lassen
sich das Gemälde in Wien und der Holzsdnnitt be-
zeichnen. Bei ihnen ist die Kreuzigung viel eher
mit Drastik und Derbheit geschildert, Momenten,
von denen Cranach bei der Arbeit an
Münchner Bilde abgesehen hat.
Abgewichen ist Cranach vielmehr van der '
tion, ein besonderes Moment des Berichte
Evangeliums mit darzustellen welches s:
repräsentativen, hieratischen, symbolische
realistischen, drastischen und anderen D1
lungsweisen zugrunde zu liegen pflegt. Di
dem Evangelium wird übereinstimmend l:
tet:
Zusammen mit ihm wurden dann zwei Räub
kreuzigt, einer zur Rechten und einer zur
(Mt. 27, 38). Mit ihm kreuzigten sie noch zwe
ber, einen zu seiner Rechten und einen zu
Linken (Mk. 15, 17). Als sie an den Ort kan
kreuzigten sie ihn dort und die Verbreche
einen zur Rechten und den anderen zur
(Lk. 23, 33). Und endlich, seinerseits durch r
sche Mittel das Hoheitsmativ gestaltend, Jah
dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei a
rechts und links, Jesus aber in der Mitte (Jh. '
Das bildmäßige, anschauliche Äquivalent
historischen Aussage ist die übliche, die nc
Darstellung. Indern Cranach von der Neb
anderreihung der drei Kreuze abwich, l
darauf verzichtet, dieses Moment des Bei
in der Bildsprache evident zu machen.
Bei genauerem Betrachten des Bildes b:
man, daß Cranach die Anordnung der t
doch so getroffen hat, daß die Schöche
Christus gesehen, links und rechts vor Jes
kreuzigt sind. Auf diese Weise vermied cf!
der unantastbar geltenden Überlieferung
vier Evangelisten zu widersprechen. So Wlfi
aber mit vermehrter Dringlichkeit nach
Grunde suchen, der ihn veranlassen konnt
der Darstellungsnorm abzuweichen, und
sehen müssen, wieweit dieser Grund trägt,
die neue Anordnung nicht als artistische Vl
die sich der Tradition ohne aus der Sacl
wonnene Begründung entzieht, beurteilt Vl
soll. Dabei muß das Doppelte gesehen
Auseinandersetzung Christi und der Sch
der einen nach links und des anderen
rechts, zusammengenommen werden mit d-
ordnung aller drei im Kreis, in welchen Cl
von den Schächern geschieden, doch wied
ihnen ins gleiche gebracht ist. Das zu wü
hilft Markus.
Lukas hat zwar eine hervorzuhebende Pro
des Jesaio (Js. 53, 12) auf das Ganze de
sion Christi bezogen: Christi Ausspruch:
ich sage euch, was geschrieben steht: z
Übeltätern wurde er gezählt, muß an n
füllt werden (Lk. 22, 37). Markus aber hat
Prophetie unmittelbar an den Satz Übt
Aufstellung und Anordnung der Kreuze
fügt und auf diese bezogen: Und es wun
Schrift erfüllt, die sagt: Zu den Ubeltätern
er gezählt (Mk. 15, 28).
Nun erkennt man die neue Thematik. Man
wie Cranach von der Darstellung der Aufri
der drei Gekreuzigten und der Auszeicl
Hervorhebung, Erhöhung Christi inmitten
abgewichen ist; und statt dessen zunäch:
gestellt hat, daß Christus, der unter die
täter gezählt wurde, mit ihnen ins gleicl
bracht wurde. Tamen est latronibus I l
passionibus". ln anschaulicher Weise Ul
seine an die üblidie Darstellung gewöhnte
genossen überraschend hat er neben der
Hervorkehrung der Gleichheit auch die Di-
sichtbar gemacht, die in dieser Gleichhei
indem Christus, mit den Schächern ins g
des Kreises geordnet, von ihnen geschiede
für uns, ihnen entgegengesetzt, entgegen
net ist.
Dieses: Gleichheit mit, Geschiedenheit vo
gensatz zu den Schächern, ist aber, wie g