Die Nachmessung der Basislinie des ursprüng-
lichen Dreiecks der Primustafel lieferte ein denk-
würdiges Ergebnis: Sie beträgt annähernd die
Hälfte der Breite der Kreuzigungstafel von 1449.
Der Verdacht einer ursprünglichen Zugehörigkeit
der Salzburger Zwickel zu einem Retabel läßt
sich, wie wir noch sehen werden, vor allem
durch die lkonographie erhärten. Die bisherige
Dotierung der Primustafel legt den Gedankerf
ebenfalls nahe.
Wie wir nachträglich feststellten, ist die Idee
einer Zugehörigkeit der Zwickel zur Kreuzigung
von 1449 nicht neu. Franz Kieslinger hatte sie
bereits 1938 ausgesprochen". Allem Anschein
nach hat er dazu die ursprüngliche Dreiecksform
intuitiv erfaßt, da er den Nachweis dafür, wie
er dazu kam, nie erbrachte. Diese seine richtige
Entdeckung legt den Vergleich mit ienem be-
rühmten Korn nahe, denn sein nachfolgender
Text ist alles eher als das Ruhmesblott eines
Wissenschaftlers. Die apodiktisch ausgesprochene
Unterbringung der beiden Zwickel als obere
Enden der geöffneten Flügel zur Kreuzigungs-
tafel von 1449 erfüllte die Gestalt des hl. Hermes
zwar mit völlig neuer Bedeutung, ließ aber
zugleich aus der Symmetrie in der Anordnung
der Flügelaufsätze, aus der Gleichwertigkeit der
Bezugsorte zur Kreuzigung die Diskrepanz zur
Gestalt des hl. Primus überdeutlich werden. Da
Kieslinger iedoch das zu den bereits bekannten
Datierungsschwierigkeiten führende Problem of-
fensichtlich nicht erkannt hatte, mußte ihm auch
die naheliegende Möglichkeit zu seiner end-
gültigen Lösung verborgen bleiben. Wesentlicher
Bestandteil dieser Lösung ist zunächst schon die
fundamental neue Sinnerfüllung, die dem Her-
mesbild nun zufließt und die dazu zwingt, von
der bisherigen Interpretation dieser Gestalt als
beziehungslose und für sich existierende Einzel-
figur abzurücken. Die großartig angelegte Be-
wegung und Gebärde der Figur verlieren damit
das Selbstzweckhafte, das ihnen bisher anhaf-
tete, und machen sie zu echten Funktionen des
Schriftbandtextes: [PRAEFECTU] RAM NON PER-
DlDl-SED-MUTAVI-IN-NO-MINE-DOMINIm. Her-
mes hatte sich durch sein Martyrium eine ewig-
währende Präfektur im Himmel erworben. in
metapherartiger Weise spricht er von diesem
seinem Martyrium, mit dem er Christus für den
Glauben in den zeitlichen Tod gefolgt war. Aus
dem Zeigegestus heraus wird die Figur als ein-
heitlicher Guß entworfen. Eine völlig neuartige
und unmittelbare Beziehung zwischen Hermes
und Primus tritt zutage, sobald man erkannt hat,
doß auch der zweite Heilige als wohlgelunge-
ner Versuch der bildlichen Darstellung literari-
scher Unterlagen zu verstehen ist. Sie allein
aber würden die tatsächlich bestehenden funda-
mentalen Unterschiede im Vergleich zur Hermes-
tafel nicht erklären. Wir haben also zunächst
die richtige Position der Primustafel festzulegen.
Eine ausreichende Handhabe dazu gibt uns die
lkonagraphie, aus der sich notwendigerweise
die Forderung nach einer Darstellung des Bru-
ders Felician ableitet. Van einer solchen Dar-
stellung aber ist zu erwarten, daß sie als gleich-
wertig zur Primusdarstellung aufgefaßt worden
war. Eine solche Gleichwertigkeit ergibt sich
wiederum nur dann, wenn die beiden Brüder
sich nicht nur in den Größenverhältnissen ent-
sprechen, sondern auch innerhalb der Retabel-
rekonstruktion gleichwertige Plätze einnehmen.
Wäre nicht bereits St. Hermes unverrückbar
Inhaber des Platzes über dem linken Flügel, so
könnte an seiner Stelle eine Feliciantafel unter-
gebracht werden. So aber bleibt nur mehr der
Giebel über der Kreuzigung, um dieses heilige
„Zwillingspaar" richtig unterzubringen. Zweifler
am Ergebnis dieser Überlegungen werden mit
10
Recht die Frage ins Treffen führen, ob eine ver-
tikale Teilung des Giebelfeldes in zwei symme-
trische Teile über der ungeteilten Kreuzigungs-
tafel überhaupt erwartet werden könne. Ihnen
sei entgegengehalten, daß Paolo Veneziano im
Aufbau des Polyptychons der hl. Lucia über der
Hauptdarstellung sogar eine Dreiteilung vor-
nimmt. Die Frage, inwieweit eine von der Mitte
abgewendete Figur in einem solchen zentralen
Giebel möglich sei (diese Wendung der Figur
nach der entsprechenden Flügelaußenseite ist
mit Sicherheit auch für den fehlenden hl. Feli-
cian anzunehmen), ist mit einem Zitat aus der
Vita der beiden Heiligen zu beantworten: „...und
da sie fest im Glauben verharrten, wurden sie
gar grausam zerfleischt; und wurden vonein-
ander getrennt . . ."". Diese an sich unauffällige
Textstelle erhält erst dadurch Gewicht, daß der
Spruchbandtext des hl. Primus einen Teil ihres
Inhalts als wesentlich voraussetzt. Dieser Text
enthält nämlich die Antwort des hl. Primus auf
die verführerische Lüge des heidnischen Richters:
„Siehe, dein Bruder ist den kaiserlichen Geboten
gehorsam gewesen und wird darum in großen
Ehren gehalten im Palast: das sollst du auch
tun, so kommst du zu gleichen Ehren." Die volle
Antwort des auf die Glaubenskraft des Bruders
vertrauenden Primus war: „Wenn du auch ein
Sohn des Teufels bist, so hast du doch einen
Teil wahr gesagt, denn MEIN BRUDER HAT DEN
GEBOTEN DES HIMMLISCHEN KAISERS GE-
HORCHT"".
Die sicherlich nicht alltägliche Situation, daß
zwei im Mittelgiebel des Retabels dargestellte,
gleichwertige Figuren einander den Rücken zu-
kehren und voneinander durch eine vertikale
Mittelspange getrennt sind, erklärt sich uns so-
mit als bildliche Übersetzung einer besonderen
Situation im Leben der beiden heiligen Brüder.
Das herkömmliche Schema einer passiven Prä-
sentation von Heiligengestalten, die sich dem
Betrachter durch landlöufige Attribute zu erken-
nen geben - Laib hat es mit den Heiligen des
Pettauer Altares wiederaufgenommen -, wird
zur lnszenierung hin vorgetrieben. Wohl im Zu-
sammenhang damit ist der Verzicht auf Attribute
zu erklären, die hier durch die konkret gegebe-
nen Heiligennamen ersetzt werden. Ein Stück
des Textes lädt den wissenden Betrachter ein,
bei sich selbst die Szene zu ergänzen.
Eine der wesentlichen Stützen für die verschie-
denzeitliche Dotierung der beiden erhaltenen Hei-
ligengestolten ist der starke Größenunterschied,
der auch - ganz abgesehen vorn blockhaft Ge-
schlossenen der Primusgestalt und dem aktiv
Bewegten der Hermesgestalt - zu einem anders-
artigen Verhältnis von Figur und Grund führen
muß. lhn glauben wir aus dem formalen Bestand
des rekonstruierten Retabels erklären zu können.
Der Zwickel mit dem hl. Hermes bildet den Auf-
satz des linken Retabelflügels, der eine Geburt
Mariä" und eine Verkündigung (beide Padua,
bischöflicher Palast) zeigt. Dem Gegenflügel ge-
hören eine Geburt Christi (Padua, bischöflicher
Palast) und ein Marientod (Venedig, Seminaria
pat-riarcale) an. Der diesen Flügel bekrönende
Dreieckswinkel ist verschollen. Aus ikonographi-
schen Gründen nehmen wir an, daß er einen
hl. Papst Alexander zeigte. Er dürfte als sym-
metrisches Pendant zum hl. Hermes ähnliche
Proportionen aufgewiesen haben und hätte da-
mit ebenso wie die Hermesgestalt größenmäßig
eine Mittlerrolle zwischen den kleineren Figuren
der Flügeltofeln und den größeren Figuren der
Mitteltafel innegehabt. Primus und damit wohl
auch der verschollene Felician sind in ihrer
überragenden Größe wohl von der Gestalt des
Gekreuzigten abhängig. Möglicherweise aber
hat hier die Beschreibung des hl. Primus der
legenda aurea zu einer größenmäßigen l
renzierung der Aufsatzfiguren geführt. Hier
es: „Primus ist soviel als der höchste ode
große Jener war hoch und groß an Wi
keit, da er das Martyrium erlitt; an Gewa
er Wunder wirkte; an Heiligkeit, da sein I
vollkommen war; an Glückseligkeit, da ei
haftig ward der Glorie..."". Die Rück:
der beiden erhaltenen Retabelaufsätze m
abgehobelt worden sein. Der dadurch en
dene Verlust kann nicht allzugroß sein, di
geschlossene Retabel zwei schlanke Hei
gestalten, einen Korbinian und einen Fl
zeigt, denen die Flügelaufsätze höchstens
architektonischen oberen Abschluß abgebe
ben können.
Nach dem erhaltenen Bestand an gotische:
gelaltären scheint der Typus, der mit den
uns rekonstruierten Altar faßbar wird, 1
zu sein. Auf ein brauchbares Vergleichsbei
nämlich den Mortinsaltar im Besitz der G
Galerie Joanneum, hat bereits Ludwig Bc
hingewiesen. Der nach dem van Laib 144
malten Altar entstandene Altar von Bernhau
Obb. scheint einen Reflex des Laib-Altares
zustellen. Er entspricht der von uns rekonst
ten Form, das Verhältnis zwischen den S;
und dem Hauptteil der Tafeln ist ebe
äußerst ähnlich, wobei allerdings die trenne
Spangen aufgelöst werden und die Szener
Figuren vom ganzen Format Besitz erg
haben. Verglichen mit der italienischen
wicklung ist diese Altarform altertümlich
entspricht dort einer Entwicklung des Trecei
Abschließend sei noch darauf hingewiesen,
der ursprüngliche Aufstellungsort des Al
dann wenigstens annähernd umrissen wi
kann, wenn die Rekonstruktion sich als r
erweist. Es kann in diesem Fall keinen Zv
darüber geben, daß Laib ihn entweder für
Kapelle oder für eine Kirche gemalt hat, die
hll. Primus und Felician geweiht war. Der E
in Frage stehende Salzburger Dorn scheidet
einer neuerlichen Überprüfung der VGFSCiIlt
sten Patrozinien aus. Lediglich eine Neben
die des hl. Hermes, würde für den Dom spre
Als weiterer möglicher Aufstellungsort hat 2
seit langem Badgastein zur Debatte gestai
Es wäre nach eine kleine Landkirche hinzu
gen, die alleinstehende Kirche von Buchberi
Bischofshofen. Sie ist Primus und Feliciar
weiht; in einem .lnventar von 1636 wird au
Vorhandensein einer schönen Tafel mit
Kreuzigung Christi hingewiesen, die als ar
Wand hängend bezeichnet wird. Freilich
sich auch aus dieser Angabe kein endgü
Schluß ziehen, da es um 1636 sicher in v
Kirchen noch gotische Tafeln mit einem
wichtigsten Themen der Heilsgeschichte g
ben haben wird.
Selbst wenn es gelungen wäre, alle stilistis
Unterschiede zwischen Hermes und Primus (
unsere in erster Linie von ikonagraphischen
sichtspunkten bestimmte Rekonstruktion ai
schalten, bleibt es letztlich dabei, daß die Ge
des Hermes, wo-immer man sie im Werk
Conrad Laib unterzubringen versucht, eine g
Überraschung darstellt. Vielleicht ließe sicl
Entstehung dieser Hermestafel um 1449 al:
Phänomen der „Ungleichzeitigkeit" einst
also als ein Wurf, den Conrad Laib
später nicht mehr zu übertreffen vermc
Immerhin aber enthält auch die Kreuzigi
tafel selbst neben Figuren mit altertümli
Zügen einzelne überraschende Gestalten,
den mächtigen Reiter der rechten Bildhälfte
unglaublich verkürzte Pferd links vor dem I
zesstamm oder den Ritter schräg unterhalk
rechten Schächers.