Christian Theuerkauff
nKunststückhe von
Helfenbeinii- zum Werk
der Gebrüder Stainhart
I
ln dem, nach dem heutigen Stand der Forschung
beurteilt, äußerst kenntnisreichen Katalogteil zur
Kleinplastik in Elfenbein bezeichnet J. G. Mann
1930 im Catalogue of Sculpture, The Wallace
Collection, London, unter Nr. S 265, Abb. Taf. 67,
ein hochformatiges Elfenbeinrelief mit der Dar-
stellung der „Entdeckung der Schande der
Callisto" (Abb. 1) als „Flemish or German, circa
1700"'. Das Relief mit der in der barocken
(elfenbeinernen) Kleinplastik so beliebten Dar-
stellung (nach Ovid, Met. 11, 465 ff.) zahlreicher,
fast unbekleideter weiblicher Gestalten in „ber-
gender" Waldlandschaftf vereinigt mehrere Sze-
nen, so auch den rechts hinten herannahenden
Jäger Aktäon und das Bad der Nymphen unter-
halb eines antikischen Tempels. Es kann heute
mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit als eigenhän-
dige Arbeit des aus Weilheim, Oberbayern,
stammenden Dominikus Stainhart (1655-1712)
gelten, der um 1674 mit seinem älteren Bruder
Franz 1. (1651-1695) für sechs Jahre nach ltalien
zog und dort in Rom u. a. 1678-1680 urkundlich
nachweisbar die Elfenbeinteile, u. a. 28 Reliefs
alt- und neutestamentlichen Themas sowie mit
Darstellungen aus der antiken Mythologie und
Geschichte, an dem berühmten Prunkschrank des
Fürsten Colonnaa, heute in der Galleria Co-
lonna, Rom, schuf, der auf einem Gesamtentwurf
des Architekten Carlo Fontana basierti
Zum Vergleich der - wahrscheinlich im Sinne
einer graphischen Vorlage des späten 16., frühen
17. Jahrhunderts (Tizian-Kreis, Paulus Moreelse
u. a.) - gelöngten Figurentypen und ihrer zum
Teil wie geknetet wirkenden Draperien sowie
zur schnitztechnischen Behandlung prall mo-
dellierter Körperoberflächen und fein differen-
zierten Details an Bodenformation und land-
schaftlichem Hintergrund sei nur auf das „DS"
monogrammierte, gegen 1690-1700 (?) entstan-
dene Relief „Diana mit Nymphen und Satyrn" im
Bayerischen Nationalmuseum München (Abb. 2)
verwiesens. In dieser zeitlich späteren, ausge-
sprochenen Diagonalkampasition ist der Raum
um, zwischen und hinter den Figuren enger, alle
Details bis in den Schnitt von Gesichtern oder
Blattformen sind verhärtet, schärfer geworden.
Diese Tendenz entspricht der friesartigen Figu-
renverbindung des teilweise stark erhaben ge-
schnittenen, bildhaften Reliefs, die aber keine
starke Räumlichkeit erzielt und bisweilen die
italienische Schulung des Dominikus Stainhart zu
leugnen scheint, die viele frühe Werke auszeich-
nzet (s. Teil II, Abb.1 f.).
Die unmittelbare stilistische wie zeitliche Vor-
aussetzung für das Londoner Relief dürfte in
Dominikus' römischen Tafeln und kastenförmig
gerahmten Reliefs des Prunkschrankes von 1678
bis 1680 in der Galleria Colonna zu sehen sein,
beispielsweise in dem Weltgericht nach Michel-
angelo (Abb. 3)". Außer auf den Figurenstil
und die Gewandbehandlung sei auch auf die
Schichtung der Reliefebenen, auch auf Details
wie die Wolkenbaliungen verwiesen. Die weib-
lichen Gestalten, etwa in der linken unteren
Ecke, zeigen dieselbe „Handschrift" des Schnit-
zers wie die Figuren des Londoner Reliefs. Eine
möglicherweise eigenhändige, vereinfachende
spätere Wiederholung des Weltgerichtsreliefs in
den Stiftssammlungen Klosterneuburg (Abb. 3a)7.
Hieran sind stilistisch wie auch zeitlich - viel-
leicht etwas später als das gegen 1685 zu datie-
rende Londoner Relief - die Münchener Reliefs
mit der „Vertreibung des ersten Menschenpaa-
res" (10,9 x 7,3 cm; Abb. 4)" und - mit einem
gewissen qualitativen Abstand - die „Taufe
Christi" (6,9 x 12,6 cm) und der heilige Sebastian
(11,5 x 6,1 cm; Abb. 4a) anzuschließen, wie
schon R. Berliner 1926 bemerkte, ohne an ein und
dieselbe Hand zu denken '.
Nach seiner Rückkehr aus Rom zu Ende des
Jahres 1682, als er bis 1690 in Weilheim, dann
in der Kurfürstlichen Residenzstadt München tä-
tig war, scheint Daminikus in allen Themenbe-
reichen und für vielerlei Zweck Bestellungen für
kleinplastische „Bilder" und Figuren entgegen-
genommen zu haben, urteilt man nach den
wenigen erhaltenen Belegen für den Münchener
Hof, während sein Bruder Franz 1. auch als
Großplastiker tätig war (s. Anm. 4). So kann ihm
(oder einem seiner Mitarbeiter?) wohl auch das
aus der Stuttgarter Kunstkammer stammende,
29 cm lange Hifthorn aus Elfenbein mit unge-
markter, silbervergoldeter Fassung (Abb. 5, 5a)
im Württembergischen Landesmuseum zugeschrie-
ben werden, das in ähnlicher Baumlandschaft
wie das Londoner Relief (Abb. 1) unten die
„Entdeckung der Schande der Ca1listo" in Ver-
bindung mit einer Hirschiagd zeigt, oben, wie
bei einem Hirten oder Jäger unter anderen
Tieren Widder und Stier von wolfsähnlichen
Hunden und einem Bären angefallen, Kraniche
in der Luft von Raubvögeln angegriffen werden.
Reliefauffassung, Figurentypen und plastischer
Stil sowie alle Eigenheiten etwa der atmo-
sphärischen Landschaftsszenerie sind - dein Ob-
iekt entsprechend im Röumlichen komprimierter
und im Technischen der Durchführung etwas
summarischer - den oben genannten Arbeiten
des Dominikus unmittelbar ähnlich.
Gegenüber einer solchen Schnitzerei im Bereich
der sogenannten angewandten Kunst mag-nach
Stil und Anspruch - die hier erstmals abgebil-
dete, 29 crn hohe Elfenbeinstatuette des gemar-
terten hl. Sebastian (Abb. 6), die sich 1966 im
Kunsthandel befand" und deren heutiger Auf-
bewahrungsort mir unbekannt ist, fremd wirken;
und doch könnte es sich um ein Werk des Domi-
1 Entdeckung der Schande der Callisto. Damii
2 Diana mit Nymphen und Satyrn.
Stainhart zugeschrieben. Um 1685. The Wa
Collection, London
Domii
Stainhart. Gegen 1690-1700. Bayerisches
tionalmuseum, München
Teil 1
A
l
nmerkungen 1-11
24,2x14,6 cm ohne den gegossenen, geschmiet
silbervergoldeten, blattwerk- und blumenverzierten
men, dessen Entstehung - ohne Marken! - wie dii
Bekrönung - im 19. Jahrhundert nicht ausgeschl
scheint. - Ein 11. Teil zum Werk der Gebrüder Staii
auf den im Folgenden öfter verwiesen wird mit „:
hart ll. Teil", kann dank des Entgegenkommen:
Herausgeber an derselben Stelle erscheinen.
Vergl. u. a. Reliefs Francis van Bossuits (1635-
lgnaz Elhafens und seines Kreises und von V. (
Haberg (C. Theuerkauff, in: Wiener Jahrbuch für i
geschichte, XXI, 1968, S. 113, Kot-Nr. 42 ff., 119
Abb. 9B, mit Abbildungsnadiweis und graphischen
lagen, s. auch KaL-Nr. 6D f., Abb. 104; C. S51
Die Braunschweiger Elfenbeinsammlung, Leipzig,
s. 95, Nr. 297, Taf. 46).
C. Theuerkauff, Scultura Barocca in avorio, nuove
buzioni ad Adam Lenckhardt e o Dominicus Staii
in: Antichita Viva, 2, MörzlApril 1971, S. 33 ff., Al
20 ff. mit Lit. (vor allem R. Berliner, 1926, und K. F4
mayr in: Thieme-Becker, Band 31, 1937, S. 450 f.
einen großen Teil der in München erhaltenen 11
arbeiten aus und nach der Zeit der Stainhart: rui
ten und datierten). - Leider ist bis heute au er
Gesamtansicht und zwei Details (Mittelreliet, Weltge
Bekehrung Sauli) keine photographische Aufnahmi
Colonna-Schrankes vorhanden, so daß keine unmittell
Vergleichsstücke der Jahre 1673-1680 für die im folgt
für Dominikus und Franz 1. diskutierten Arbeiten
bilden sind. _
Einige Überlegungen zum Problem Ei enhändigki
Werkstatt - Umkreis - Nachfolge anlä lich der h
graphie von E. Grünenwald, Leonhard Kern, Schvvc
Hall, 1969, in: The Burlington Magazine, 1972 (ir
scheinen), und L. L. Möller, in: Pantheon, 111,_Jg_.
MailJuni 1972, S. 252 ff. Für diese Frage wichtig
für ausgesprochene Kleiriplastiker wie Dorriinikus
Franz l. Stainhart, eventuell nachweisbare Werke grä
Formats in anderem Material Rückschlüsse auf
Werkstattbetrieb zulassen (von ihrem Vater Ma
[gest. 1672] die gefaßten Holzfiguren einer Maria
eines Johannes im Gang des Bürgerheimes an
ehemaligen Franziskanerkircfie Weilheim, eine Pie
der Kapelle der Schmerzhaften Maria am Anger
1661; von Franz 1. die vergoldeten hölzernen Si
figuren am Hochaltar der Koppel H1. Blut bei L
ammer au von 1687, van seinem Sohh, dem Frater F
1721, (Fie figürlichen Teile der Kanzel in der Eichs
Jesuitenkirche. S. u. a. K. Feuchtmayr, Thierne-Ei
Allg. Lexikon . . ., XXXI, 1937, S. 451; Dehio, Oberba
19567, S. 182, 211 f. Jakob Mais, Pfarrkirche L
ammergau und Kapelle „Heilig Blut", Hannes-O:
Verlag Ottobeuren 1969, S. 12 f., Abb. S. 9. - I
Bauer, Die Kappelkirche IUM HI. Blut bei Unterari
gau, in; Kalender bayerischer und schwäbischer 1'
25. Jg., 1929, S. 19 f., Abb. S. 17), Bezeichnender
fehlt der Name Stainhart in H. Schindler, Große B!
sche Kunstgeschichte ll, München 1963.
lnv.-Nr, 311273, 13,5x3B cm. VersL-Katalog R. L
Berlin, 2043, 12.113. Mai 1931, S. 240, Nr. 233:,
s. 241, ex Coll. Stroganoff, Leningrad. - Tneiieri
Stainhart, 1971, S. 40 f., Anm. 41. Zuletzt A. Schodle
Alte und moderne Kunst, 122, 1972, S. B, Anm. 35, Ab)
der Berliners KaL-Nr. 206-209 als Werke des Domii
nicht des Franz I. ansieht.
Theuerkauff, Stainhart, 1971, S. 39 f., Abb. 19, Anrri.
Vergl. vor allem das Mittelrelief der Auferstehung C
in der Attika l16x29,5 cm), die_ Schöpfung Eva
Raffaels Loggien als zweites Relief von rechts iri
untersten Reihe (9,BX15,7 cm).
C. Theuerkauff, Elfenbein in Klasterneubur , K14
neuburger Kunstsdiötze, Band 2, Klasterneu urg
S. 17 f., Kot-Nr. 15, Abb. 15 f.
Die Bildwerke des Bayerischen Nationalmuseums,
R. Berliner, Die Bildwerke in Elfenbein..., Aug:
1926, S. 115, KaL-Nr. 577, Taf. 228 (Deutsch1and?, 1. 1'
des 18. Jahrhunderts, van _dernse1ben_ Schnitzer
Kot-Nr. 544, Bekehrung Sauli). S. Stainhart, ll.
Abb. 1 f. und Elfenbein in Klosterneuburg, 1962, E
rnit Lit. auch für die in den folgenden Anmerki.
erwähnten Reliefs.
Berliner, 1926, S. 115. KaL-Nr. 575, Taf. 228 (steht
Nr. 577 nahe), Kot-Nr. 579, Taf. 70 (von demsi
Sdinitzer wie KaL-Nr. 578). E. von Philipnovich, 1
bein, Braunschweig 1961, S. 209 f. - ln der Nach
dieser Gruppe entstand das Elfenbeinrelief einer Ca
Allegorie, Bx5,5 crn, im Musee de Cluny, Paris,
Nr. 15.353.
lnv.-Nr. KK 40; Schallöffnung 3,1 cm im Durchrm
wohl aus der Kunstkcimmer stammend. Für freunt
Hilfe bei der Beschaffung von Photos danke ich Hei
Meurer. - Bei E. von Philiopovich, Elfenbein, B
schweig 1961, S. 209, Abb. 153, als Werk des „Pal
meisters", s. Elfenbein in Klosterneuburg, 1962, S.
unter KaL-Nr. 16.
1m JunifJuli 1966 dem Germanischen Ndfiorialmu
Nürnberg angeboten. Die Pfeile weitgehend abg
Ehen; aus einem Stück geschnitten. Für freuridlidie
teilung danke ich Günther Schiedlausky.