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Volltext: Alte und Moderne Kunst XIX (1974 / Heft 135)

"l Renä Mu riNe, Der Befreier, 1947. Ul, 39x31 cm. 
Los Angeias County Museum of Ar! 
In der Geschichte „Der Tisch ist ein Tisch" er- 
zählt der Schweizer Autor Peter Bichsel über 
einen alten Mann, der sehr unter der Einförmig- 
keit des Lebens leidet. Vergebens hofft er dar- 
auf, daß sich einmal etwas ändert, aber wenn 
er von seinen Spaziergängen nach Hause zu- 
rückkehrt, ist im Zimmer alles, wie es war: ein 
Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Voller Enttäuschung 
setzt er sich hin, trommelt auf den Tisch und 
schreit: „Es muß sich ändern, es muß sich än- 
dernl" Derartig ungeduldiges Gehaben ist ia 
auch von Künstlern bekannt, die unbedingt aus 
der Tradition ausbrechen möchten. Der alte 
Mann meint, eine Lösung gefunden zu haben. 
Er ändert die Bezeichnung der Gegenstände, 
die ihn täglich umgeben. Zum Bett sagt er Bild, 
zum Tisch Teppich, zum Stuhl Wecker, zur Zei- 
tung Bett und so fort. Doch das Glück des alten 
Mannes währt nur kurz, die Geschichte endet 
traurig, denn er baut sich so konsequent seine 
Privatsprache auf, daß er nicht mehr die Leute 
und sie ihn nicht mehr verstehen können. 
Woran ist der alte Mann gescheitert? Er hat die 
Konvention, die regelt, wie wir auf bestimmte 
Zeichen (Wörter) zu reagieren haben, gekün- 
digt und dagegen seine privaten Regeln gestellt. 
Das Wort „Bild" wird aber nie so verwendet, 
daß aus dem Zusammenhang hervorgehe, man 
könne sich in diesen Gegenstand „hineinlegen". 
Die Gebrauchsregeln des alten Mannes, die die 
Bedeutungen der Wörter bestimmen, unterschei- 
den sich von den Regeln, denen die Mehrheit 
der Sprachgemeinschoft folgt. 
So einfach scheint es also nicht zu sein, aus der 
Konvention auszubrechen. Wie das Beispiel zeigt, 
ist der Preis dafür die Isolation. Dies ist aber 
nicht die einzige Moral aus der Geschichte. Der 
Autor hat die Beziehung zwischen dem Wort 
und seiner ieweiligen Bedeutung zum Thema er- 
haben. Aber ist es nicht bloß ein exotischer Ein- 
fall, wie er eben kennzeichnend für einen Schrift- 
steller ist, das Selbstverständlichste von der Welt, 
eben daß ein Bett ein Bett und ein Bild ein Bild 
ist, in Frage zu stellen? Was ist von einem Künst- 
ler zu halten, der an seinem Material zweifelt? 
Vielleicht ist dies ober nur bei den Schriftstellern 
so. Sie haben es ia auch nicht ganz leicht, denn 
von ihnen wird verlangt, daß sie aus demselben 
Sprachbestand, mit dem wir täglich umgehen, 
der also einem erbarmungslosen Verschleiß aus- 
gesetzt ist, etwas Kunstvolles und womöglich Er- 
bauliches machen, und als „poetische Freiheit" 
gestehen wir ihm höchstens zu, daß er bei Reim- 
schwierigkeiten zu irgendwelchen kühnen Wort- 
bildungen greift. Aber jahrhundertelang hat al- 
les bestens funktioniert: Auf der einen Seite gab 
es die Dichter, auf der anderen die Leser. Nicht 
anders in der bildenden Kunst: die Maler einer- 
seits und die Kunstbetrachter andererseits. Unter- 
schiede bestanden nur darin, wie die Natur nach- 
geahmt wurde, ob größtmögliche Entsprechung 
gesucht wurde, ob idealisierend oder desillusio- 
nierend verfahren wurde. Diese Beobachtung 
findet sich bereits bei Aristoteles in dessen „Poe- 
tik": „So werden entweder Menschen nachge- 
ahmt, die besser sind, als es bei uns vorkommt, 
oder schlechtere oder solche wie wir selber. Sa 
tun es auch die Maler: Polygnotos hat schönere 
Menschen gemalt, Pauson häßlichere, Dionysios 
aber ähnliche." 
Großes Unbehagen an seinem Medium, der 
Sprache, ist erstmals bei Hofmannsthal zu kon- 
statieren. ln dem „Brief des Lord Chandos" 
drückt sich seine Skepsis aus, angesichts der all- 
gemeinen „Sprachvernutzung" das Handwerk 
des Dichtens weiter zu betreiben. Wie sehr sich 
Hofmannsthal allerdings mit Lord Chandos iden- 
tifiziert hat, bleibt fraglich, denn die Erschütte- 
rung des Vertrauens in die Sprache hat ihn 
nicht daran gehindert, für Strauss zahlreiche 
Opernlibretti zu schreiben und sprachlich vir- 
tuose Komödien. Die Reflexion auf die Sprache 
hat aber -im 20. Jahrhundert von seiten der Wis- 
senschaft (Ferdinand des Saussure etwa) und der 
Philosophie (Ludwig Wittgenstein beispielsweise) 
verstärkt eingesetzt. Die Sprache wurde als ein 
Regelsystem erkannt, das unseren gesamten Kon- 
takt mit der Wirklichkeit bestimmt. Durch das 
Einüben von Mustern in frühester Kindheit wird 
die Erfahrungsweise festgelegt. Wittgenstein 
stellte diese Gegebenheiten noch ohne Wertung 
fest. Autoren der Gegenwart, unter ihnen Peter 
Handke, die sich auf ihn berufen, machten auf 
den Zwangscharakter dieser Regeln aufmerksam 
und wiesen in diesem Zusammenhang auf das 
weite Feld der Manipulationsmöglichikeiten hin. 
Dies alles hat das Dichten ein wenig schwieriger 
gemacht, denn die beste Absicht kann durdw die 
tückische Eigengesetzlichkeit der Sprache des- 
avouiert werden. Die Frage stellt sich, wie gut 
taugt sie dazu, Wirklichkeit wiederzugeben. Die 
großen Romane der Erzähler des 19. Jahrhun- 
derts sind noch nicht von derlei Gedanken- 
blässe angekränkelt. Sie wähnten sich im Voll- 
besitz imaginierender Potenz. Aus der kritischen 
Sicht unserer Zeit aber erweisen sich auch ihre 
Werke als Produkte der Künstlichkeit, und nur 
Vertrauensselige können sie für Natur halten. 
Wie beneidenswert gegen diese tiefgreifende 
lrritation in der Literatur ist das ungestörte Ver- 
hältnis der bildenden Kunst zur Wirklichkeit. 
Hier ist die Staffelei, da die Landschaft; ietzt 
kommt es nur noch auf das mehr oder weniger 
geschickte Übertragen an. Vielleicht gibt es 
einige Maler, für die sich der ganze Vorgang so 
unproblematisch darstellt. Die Naiven scheinen 
zu ihnen zu gehören, und wir betrachten ihre 
Bilder wie Kleinodien, die aus einem Paradies 
stammen, aus dem wir längst vertrieben sind. 
Denn die bildende Kunst ist in ihrem Selbstver- 
ständnis auch erschüttert worden. Mehr als die 
Literatur durch äußere Umstände. Die Befreiung 
vom Auftraggeber, der Kirche oder dem Fürsten, 
hat eine Fülle von Fragen ausgelöst. Nur in 
ienem Teil der Welt, da eine Partei klare Doktri- 
nen vorgibt, braudit sie sich der Künstler nicht 
zu stellen. Da hat er seinen festen Platz und 
baut mit am Ruhm und Wohl des Staates. An- 
derswo ist er aber - absehen kann man von 
ienen Belieferern des Marktes, die ihre Produk- 
tion industriellen Methoden angeglichen haben 
- dem bohrenden Zweifel ausgesetzt, was er 
mit seiner Kunst vermag, welchen Platz sie inner- 
halb der Gesellschaft einnehmen soll. Die Legi- 
timation durch den „inneren Drang" allein scheint 
nicht mehr ausreichend zu sein. 
Zu einem radikalen Neuonsotz in diesem Jahr- 
hundert kam es durch den Dadaismus und Sur- 
realismus. Dichtung, Malerei und Musik waren 
davon gleichermachen betroffen. Die Neubesin- 
nung war international. Velemir Chlebnikov et- 
wa, Protagonist der russischen Avantgarde, for- 
mulierte: „Wir haben aufgehört, auf Wortbau 
und Aussprache der Worte nach grammatikali- 
schen Regeln zu schauen. Wir haben begonnen, 
in den Buchstaben Wegweiser für die Wörter 
zu sehen... Vokale verstehen wir als Zeit und 
Raum, Konsonanten als Farbe, Klang, Duft." 
Und die bekannte Forderung des italienischen 
Futuristen Agostino Marinette lautete: „Parole 
in liberta", also ebenfalls die Befreiung des 
Wortes aus seinen grammatikalischen Bindun- 
gen. Die Eigenwertigkeit des Lautes wurde ent- 
deckt, Lautgedichte entstanden. Manche Vertre- 
ter der neuen Poesie machten ihre Versuche so- 
wohl in der Literatur als auch in der Malerei. 
So etwa Kurt Schwitters. 
Die surrealistische Bewegung verstand sich, in- 
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