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Volltext: Alte und Moderne Kunst XIX (1974 / Heft 136 und 137)

das einer iüngeren Schwester (Abb. 1B). Nach 
all dem Gesagten ist es nicht mehr als folge- 
richtig, wenn man erstmals Günthers letzte Schöp- 
fung, die großartige Pieta in der Friedhofska- 
pelle in Nenningen (1774), in den hier zu disku- 
tierenden Komplex der Typenfixierung mitein- 
bezieht. Dies bezeugt ihre dreifache Abwand- 
lung: der erste zeichnerische Entwurf (Abb. 19), 
München, Staatliche Graphische Sammlung, lnv.- 
Nr. 32.2113," das aus Lindenhalz geschnitzte Mo- 
dell (Abb. 20), München, Bayerisches National- 
museum; Neuerwerbung 1974, und die entspre- 
chend variierte Ausführung (Abb. 21). Der so er- 
kennbare künstlerische Formprozeß erstreckt 
sich demnach auch auf die jeweilige Variation 
einer hier vorliegenden typusmäßigen Gestal- 
tung. Es verwundert daher nicht, daB auch die 
Gesichter der hl. Scholastika und der wie eine 
Ordensfrau dargestellten Maria auf dem Nen- 
ninger Vesperbild einander vergleichsweise sehr 
nahestehen, obwohl ihre Entstehungszeit so viele 
Jahre auseinander liegt (Abb. 22). 
Das letzte Werk in der Reihe der großen Altar- 
bauten Günthers ist der Hochaltar (1768-1770) 
in der ehemaligen Benediktinerabteikirche in 
Mallersdorf. Er ist nicht, wie bereits Adolf Feui- 
ner" richtig sah, ein Werk der „ersten Ur- 
sprünglichkeit, sondern ein Werk des Ausklan- 
ges". Das von kompetenter Seite abgegebene 
Urteil, mit dern wir völlig konform gehen, be- 
zieht sich vor allem auf den plastischen Schmuck, 
vier überlebensgroße polierweißgefaßte Figu- 
ren, zu ie einem Paar gruppiert. Bei den beider- 
seits des Altarblattes stehenden Gestalten be- 
stätigt sich unsere ikonographische Beobach- 
tung, daß in der Ausstattung benediktinischer 
Ordenskirchen als Gegenstück zu dem hl. Bene- 
dikt von Nursia meist die hl. Scholastika als 
zweite der beiden Kardinalerscheinungen abend- 
ländischen Mönch- bzw. Nonnentums dargestellt 
ist. Durch die prononcierte Kopfhaltung, die 
Blickrichtung und durch das Motiv der rhetorisch 
erhobenen Rechten, die ursprünglich den Krumm- 
stab hielt (Abb. 23), ist die Figur auf ein größeres 
Ganzes, d. h. in diesem Falle auf die Altarmitte, 
bezogen. Der Äbtissinnenstab, das an einem 
Band um den Hals hängende goldene Kreuz und 
das Regelbuch in ihrer linken Hand sind gene- 
relle Attribute. Eine auf dem Buch mit ausge- 
breiteten Flügeln sitzende Taube ist iedoch indi- 
viduelles Beiwerk. Sie weist auf die Vision hin, 
die der hl. Benedikt im Augenblick des Todes 
seiner Schwester hatte. Nach dem in den Dia- 
logen ll zu findenden Bericht des hl. Gregor sah 
der hl. Benedikt in seiner Zelle ihre abgeschie- 
dene Seele in Gestalt einer Taube in den Him- 
mel fliegen. Im Werk lgnaz Günthers war die 
Mallersdorfer hl. Scholastika bisher die einzige 
bekannte Gestalt dieses Themas. Es erscheint 
daher unumgänglich notwendig, sie mit der the- 
mengleichen Plastik zu konfrontieren, mit der 
wir uns bisher beschäftigt haben. Mit ihr ver- 
glichen, zeigt sich bei der Skulptur in Mallers- 
dorf ein auffallender Stilwondel, der für die 
Spätphase Günthers charakteristisch ist. Die Ge- 
wandanordnung beschränkt sich hier auf die 
Wiedergabe großer durchgehender Stoffbah- 
nen, bei denen im Gegensatz zu früher längst 
nicht mehr so tiefe Unterschneidungen gegeben 
sind. Gleichzeitig erscheint das Körperliche viel 
stärker betont, wenn man etwa das Spielbein 
betrachtet, dessen Ober- und Unterschenkel sich 
deutlich unter der Gewandstruktur abzeichnen. 
ist bei der frühen hl. Scholastika noch ein reich 
bewegter unruhiger Umriß feststellbar, so ist im 
Vergleich dazu die Komposition des wesentlich 
später ausgeführten Werkes viel beruhigter ge- 
staltet. Dies äußert sich auch in der fließenden 
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Geschlossenheit des Umrisses. lm ganzen ge- 
sehen, erscheint die auf Einansichtigkeit ange- 
legte späte Günther-Figur bedeutend flächiger 
gegenüber dem etwa 15 Jahre früher ausge- 
führten Werk. Unabhängig von diesen stilisti- 
schen Beobachtungen befremden bei der Mal- 
lersdorfer Ordensheiligen einige Motive. Dies 
erklärt sich dadurch, daß ihr, was bisher noch 
nicht erkannt ist, ein Typus zugrunde liegt, der 
offenbar durch ein kleines Andachtsbild (14x9 
cm) vermittelt wurde. Der nach der Mitte des 
18. Jahrhunderts entstandene Stich (Abb. 24) 
trägt die Signatur „Klauber Cath." (: olici), 
die von den Brüdern Joseph Sebastian (um 
1700-1768] und Johann Baptist (1712-nach 
1787) in Augsburg gemeinsam gebraucht wurde. 
Daß Günther dem vermutlich vom Auftragge- 
ber vorgeschriebenen Typus nicht sklavisch folgte, 
sondern ihn modifizierte, sieht man daraus, daß 
er beispielsweise den Kontrapost im Gegensinn 
verwendete. Was die Charakterisierung des The- 
mas anbetrifft, so stehen sich die frühe und die 
späte Scholastika-Figur Günthers in einer eigen- 
tümlichen Diskrepanz gegenüber. Bei dem Früh- 
werk haben sich Thema, Komposition und Aus- 
druckskraft auf bewundernswerte Weise gestei- 
gert. Es gehört deshalb zu dem Besten, was 
Günther auf dem Gebiet der religiösen Skulptur 
geschaffen hat. Es liegt nicht nur an dem von 
dem Augsburger Andachtsbild übernommenen 
Typus, daß gegenüber dem Frühwerk die späte 
Mallersdorfer Figur qualitativ weit weniger über- 
zeugt. Es ist, als ab die Kraft der künstlerischen 
Imagination hier bereits merklich schwächer ge- 
worden ist. 
Bevor wir unsere Betrachtung abschließen, sei 
vorher noch auf einen Günther kennzeichnenden 
Formzusammenhang aufmerksam gemacht. Die 
geschnitzte Krümme mit einer geöffneten und 
von oben gesehenen Blüte, die als Bekrönung 
des Äbtissinnenstabes bei der frühen bzw. der 
späten Scholastika-Figur erscheint, ist in mor- 
phologischer Hinsicht erstaunlich ähnlich. Dop- 
pelten Wert erhält die noch zu erweiternde 
Beobachtung dadurch, daß eine fast identische 
Krümmenform (Abb. 2527) auch bei anderen 
Günther-Figuren vorkommt. Diese findet sich 
an den Stäben, welche der hl. Korbinian (1759 ff.) 
am Hochaltar in Rott am lnn und der hl. Bene- 
dikt von Nursia in Mallersdorf als Kennzeichen 
ihrer Würde in den Händen tragen. Für den 
besonderen Rang einer Bildhauerwerkstatt wie 
der von Günther in München geführten spricht 
gewiß die in sich konforme Qualität und die 
ieweils kongruente Farm bei einem Gegenstand, 
der als Beiwerk großer Figuren sonst kaum be- 
achtet wird. 
Für die Vervollständigung der noch keineswegs 
lückenlos erfaßten Zusammenstellung der iko- 
nographie über die hl. Scholastika" ist das 
mit seiner späten Nachfolgerin in Mallersdorf 
verglichene themengleiche Frühwerk lgnaz Gün- 
thers gewiß eine willkommene Bereicherung (Abb. 
28, 29). Vom ikonographischen Gesichtspunkt aus 
gesehen, muß man dem genialen Frühwerk atte- 
stieren, daB es dem Bildhauer gelungen ist,damit 
eine der überzeugendsten Scholastiko-Darstel- 
lungen überhaupt geschaffen zu haben. Es ist 
daher nicht zu hoch gegriffen, wenn man be- 
hauptet, daß die um 1755 zu datierende hLiScho- 
lastika zu seinen glücklichsten Erfindungen ge- 
hört. Aus dem zeitgenössischen Schaffen kann 
kaum etwas Vergleichbares ihr an die Seite ge- 
stellt werden. Man hat den Eindruck, daß lgnaz 
Günther bei dieser von ietzt an wieder in sein 
Werk einzureihenden Plastik wirklich sein Be- 
stes geben wollte. 
Anmerkungen 17-23 (Anm. 17-20 s. Text S. 
" A. Schönberger, a. a. 0., S. 24 mit Abb. 6 und 7. 
" A. Sdiönberger, a. a. (l, S. 3D-31 mit de 
133-139. Stilistisch unzutreffend ist eine hier 
sdila ene Dotierung der Büsten in die Zeit „un 
" A. Sgtönberger, a. a. 0., S. 35-36 mit den Abb. 
19, bzw. ebenda, S. 65 f. mit den Abb. 96 und 97. 
"A. Schönberger, a. a. 0., S. 51 mit den Abb. 72 
ferner S. 73l74 mit den Abb. 102 und 103. - G. N 
Neue Funde zum Werk lgnaz Günthers, op. zit., 
- J. Blatner, Beiträge zum Werk von lgnaz Gür 
Deutsche Kunst und Denkmalpflege, 1956, "l, S 
wobei auf die offensichtlich unzutreffende Herlu 
der St-Nikolaus-Kirche in Spalt hier nicht nähe 
gan an werden soll. 
7' .  Woeckel, Die Handzeichnungen des kurbay 
zofbildhauers Franz lgnaz Günther (im Ersdielnei 
r. 79. 
n A. Feulner, lgnaz Günther (ll), München 1947, 1 
A. Schönberger, a. a. O, S. 71-73 mitÄden Abb. 
1' Sehr beachtenswert, dodi so gut W19 ohne i 
Beispiele, ist: B. Heurtebize - P. Triger, Salnte 
stique, Partonne du Mans. Sa vie - son culte. 2 
dans l'histoire de la cite; Solesmes 1891 (2. l 
Mons 1923). 
.1 Unser Autor: 
Dr. Gerhard P. Woeckel 
Zentralinstitut für Kunstgeschichte 
Forschungsunternehmen 
2-München, Meiserstraße 10
	        
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