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Volltext: Alte und Moderne Kunst XIX (1974 / Heft 136 und 137)

Denkmalpflege ist keine Selbstverständlichkeit, 
sawenig wie Historismus. Über die Motive von 
beiden gibt die Wissenschaft bedauerlich wenig 
Auskunft. Sie befaßt sich - ist einmal ein Phäno- 
men wie Historismus vorhanden - mit der 
Frage, warum die einen „Gotiker" und die an- 
deren „Klassiker" werden. Aber ehe man ein 
Motiv hat, gotische oder klassische Stilformen 
aufzugreifen, muß man eines haben, sich in kei- 
1a 
nern eigenen Stil auszudrücken. Diese grund- 
sätzliche Frage, warum es überhaupt zu Histo- 
rismus kommt - sozusagen als eine generelle 
Möglichkeit der Existenz von Kunst -, wird selbst 
in prinzipiellen Erörterungen der Thematik höch- 
stens vereinzelt gestreift, so von H. G. Evers in 
der Historismusdiskussion mit Nikolaus Pevsner, 
Ludwig Grote u. a. in München und auf Schloß 
Anifl963'. 
Analog iegen die Dinge in der Denkmalpflege. 
Was die Wissenschaft nicht beantwortet, beant- 
wortet um so bereitwilliger das Schlagwort, und 
ihm zufolge liegt allem Bewahren alter Archi- 
tektur Sentimentalität oder Dekadenz oder bei- 
des als Motiv zugrunde. War Karl der Große 
dekadent, als er in seine Bauschöpfungen antike 
Bauteile verpflanzte und auf diese Weise Re- 
likte alter Baukunst bewahrte? Als ein paar 
Jahrhunderte später sein Namensvetter Karl lV. 
in Böhmen zurückgriff auf ihn und seine eige- 
nen politischen Konzeptionen symbolisierte und 
sichtbar machte in reliquienhaft auf Karl den 
Großen zurückverweisende Kunstschöpfungen, 
war er da sentimental? Steht nicht umgekehrt als 
Motiv hinter solchen Erscheinungen an Stelle 
von Müdigkeit angespannteste politische Ener- 
gie, die nur für ihr Programm noch nicht hin- 
reichend genug eigene Artikulationsfähigkeit er- 
warben hat und sich daher alter Vokabeln für 
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neue Begriffe bedient? Hier zumindest müßte 
man hinter dem Bewahren alter Bausubstanz 
nicht das Absterben einer alten, sondern das 
Durchsetzen einer iungen Kultur diagnostizieren. 
Was also grundsätzlich hinter einem Phänomen 
wie Denkmalpflege steht, soll varsichtigerweise 
offenbleiben. Vorderhand ist die Wissenschaft 
bloß in der Lage, wenigstens einigermaßen den 
einen oder anderen Fall des Auftritts von Kon- 
servierung historischer Architektur zu erklären. 
Ob sich dann in der Vielzahl tatsächlich aufge- 
tretener Motivationen eine generelle Vorausset- 
zung wird finden lassen, das zu beantworten 
steht vorläufig noch aus. Vorerst muß es genü- 
gen, für die europäische Entwicklung einige kon- 
krete Beispiele der Motivierung von Denkmal- 
pflege aufzuspüren. 
Motivation 
Hinter der europäischen Denkmalpflege schei- 
nen seit dem 19. Jahrhundert drei Beweggründe 
zu stehen: ln der ersten Hälfte des "I9. Jahr- 
hunderts dominiert gemäß der geschichtlichen 
Situation, in der bürgerlich-fortschrittliches Be- 
mühen gegenüber restaurativen Ordnungsver- 
suchen alter gesellschaftlicher Mächte steht, das 
Bestreben, für die ie eigene politische Zielset- 
zung Denkmäler gleichsam als programmatische 
Embleme einzusetzen. Hier wird - etwa in den 
Kämpfen der schon zitierten „Gotiker" und „Klas- 
siker" - Stil gegen Stil ausgespielt, sozusagen 
eine „Kriegspropaganda" gegen die andere ge- 
mäß den Zielsetzungen der ieweiligen Parteiun- 
gen. Hier ist ein Stil „besser" denn der andere, 
was man praktiziert, ist der später so berüchtigte 
„Stildogmatismus". Wenn Viollet Le Duc die 
Gotik verteidigt und ihre Denkmäler restauriert, 
ist das nicht nur ästhetisches Faible, sondern po- 
litisches Programm. Wie im Mittelalter das auf- 
brechende Stadtbürgertum in seinen weiträumi- 
gen Handelsunternehmungen daranging, die 
Enge feudalwirtschaftlicher Eigenbedarfsdeckung 
zu überwinden, und damit überhaupt erst Geld 
für Großbauten, wie die städtischen Kathedra- 
len, aber auch fortschrittlicher Geist da war, 
konstruktive Neuerungen zu wagen, so scheint 
Viollet Le Duc auch zu seiner Zeit die Gotik 
noch immer technisch und ästhetisch das fort- 
schrittlichste Mittel, dem neuerlichen bürgerlichen 
Durchbruch, wie er sich seit der Französischen 
Revolution vollzieht, adäquaten baulichen Aus- 
drudc zu verleihen z. Sehr konsequent restauriert 
er daher in der Denkmalpflege nicht nur var- 
handene Gotik, sondern rekonstruiert abhan- 
den gekommene und scheidet stilistische Zutaten 
späterer Zeitalter aus. Dieses purifizierte Straf- 
gericht ist unter dem Namen der „stilistischen 
Restaurierung" bekannt und berüchtigt gewor- 
den? 
Berüchtigt, weil das nachfolgende halbe Jahr- 
hundert aus einer völlig veränderten gesellschaft- 
lichen Situation heraus dachte: Bürgertum, das 
war [etzt nicht mehr eine kämpfende, aufstei- 
gende Schicht, sandern eine bewahrende, eine, 
die durch die folgenden Revolutionen nach der 
großen Französischen - 1830, 1848 vor allem - 
ihr Ziel erreicht und sich sogar mit den alten 
Mächten arrangiert hatte. Wo es keinen Krieg 
mehr gab, gab es keine Kriegsziele mehr, auch 
keine Kriegspropagando, die diese Ziele pro- 
klamiert hötte, auch künstlerisch nicht: Stile wur- 
den ietzt nicht mehr gegeneinander ausgespielt, 
sondern sie wurden nunmehr plötzlich „gleich- 
wertig", alle nur spezielle, bloß historische Aus- 
prägungen eines an sich Ästhetischen, relativ, 
ohne überzeitliche Gültigkeit. Der Historismus
	        
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