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thumbs: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

brutal. Der gebildete Mann von normaler Charakteranlage 
wird selbst den Vorwürfen seiner Frau mit sanften Worten 
begegnen. Nach der japanischen Etikette verlangt die ge^ 
wohnlichste Höflichkeit diese Haltung von ihm; überdies 
ist sie auch die einzig ratsame. Eine verfeinerte und sensitive 
Frau wird sich nicht lange einer rohen Behandlung untere 
werfen; eine temperamentvolle könnte sich wegen eines im 
Moment der Leidenschaft ausgestoßenen Wortes sogar töten 
und ein solcher Selbstmord entehrt den Gatten für den Rest 
seines Lebens. 
Aber es gibt eine stillschweigende Grausamkeit, die schlirm 
mer als Worte ist und sicherer trifft, beispielsweise eine so 
ausgesprochene Vernachlässigung und Gleichgültigkeit, daß 
sie Eifersucht erregen muß. Eine japanische Frau ist frei' 
lieh dazu erzogen worden, niemals Eifersucht zu zeigen; aber 
das Gefühl ist älter als alle Erziehung, so alt wie die Liebe 
und wohl auch von so langer Dauer wie diese. Unter ihrer 
leidenschaftslosen Maske fühlt die japanische Frau ebenso 
wie ihre abendländische Schwester, wenn sie, während sie eine 
fashionable Abendgesellschaft bezaubert, sich in ihrem innersten 
Herzen nach der Stunde der Befreiung sehnt, die ihr gestattet, 
in der Einsamkeit ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen. 
Haru hatte Anlaß zur Eifersucht; aber sie war zu sehr Kind, 
um den wirklichen Grund sogleich zu erraten, und ihre 
Diener waren ihr zu sehr ergeben, um sie darüber aufzu' 
klären. Ihr Gatte hatte die Gewohnheit gehabt, seine Abende 
in ihrer Gesellschaft daheim oder auswärts zu verbringen. 
Aber nun ging er Abend für Abend fort. Zuerst hatte er 
Geschäfte vorgeschützt; später suchte er nach gar keinem 
Vorwand und sagte ihr nicht einmal, wann er zurückzukehren 
beabsichtige. In letzter Zeit begegnete er ihr sogar mit still 
schweigender Unhöflichkeit. Er war ein anderer geworden; 
„als ob ein böser Geist sein Herz behext hätte“, sagten die 
Diener. Tatsächlich hatte er sich in einer geschickt gestellten 
Falle fangen lassen. Das Flüstern einer Geisha hatte seinen 
Willen gelähmt, ihr Lächeln seine Augen verblendet. Sie war 
weit weniger hübsch als seine Gattin; aber sie war sehr ge 
schickt in der Kunst, Netze zu spinnen, die betörenden Netze 
der Sinnlichkeit, die schwache Männer umgarnen und sie 
immer enger und enger umstricken, bis schließlich die Stunde 
der Enttäuschung und des Zusammenbruchs naht. Haru wußte 
nichts. Sie argwöhnte nichts Böses, bis das seltsame Benehmen 
ihres Mannes zur Gewohnheit geworden war, und auch dann 
nur, weil sie merkte, daß sein Geld in unbekannte Hände 
verschwand. 
Er hatte ihr nie gesagt, wo er seine Abende zubrachte. Und 
sie scheute sich zu fragen, damit er sie nicht für eifersüchtig 
halte. Statt ihren Gefühlen in Worten Ausdruck zu geben, 
begegnete sie ihm mit so gewinnender Freundlichkeit, daß 
ein klügerer Gatte alles erraten haben würde. Aber außer in 
seinen Geschäften war er nicht scharfsichtig. Er fuhr fort, 
seine Abende auswärts zu verbringen; sein Gewissen regte 
sich immer weniger und sein Fortbleiben dehnte sich immer 
länger aus. Man hatte Haru gelehrt, daß eine gute Gattin 
immer des Nachts auf bleiben müsse, bis ihr Gatte und Ge 
bieter heimkäme. Und dadurch, daß sie dies tat, begann sie 
an Nervosität zu leiden, an den fieberhaften Zuständen, die 
durch Schlaflosigkeit hervorgerufen werden und von den 
düsteren Gedanken der langen einsamen Wartestunden, nach 
dem sie die Diener zur gewohnten Zeit entlassen hatte. 
Nur einmal, als ihr Gatte besonders spät zurückkam, sagte 
er zu ihr: „Es tut mir leid, daß du meinetwegen so lange 
aufgeblieben bist. Bitte, warte nicht wieder auf mich!“ In 
der Befürchtung, daß er sich wirklich um ihretwillen Sorgen 
gemacht habe, lächelte sie freundlich und sagte: „Ich war 
nicht schläfrig und ich bin nicht müde; ich bitte, Hochgeehrter, 
nicht an mich zu denken!“ Und so hörte er auf, an sie zu 
denken, nur zu froh, sie beim Wort nehmen zu können; 
und kurze Zeit darauf blieb er die ganze Nacht fort. Die 
nächste Nacht machte er es ebenso — und auch die dritte. Nach 
dem er die ganze dritte Nacht fortgewesen war, kam er nicht 
einmal zur Morgenmahlzeit nach Hause. Und nun wußte 
Haru, daß die Zeit gekommen war, wo ihre Pflicht als Gattin 
ihr zu sprechen gebot. 
Sie wartete den ganzen Morgen, in Angst um ihn, in Angst 
um sich selbst, endlich sich des Unrechtes bewußt, durch 
das das Herz einer Frau am tiefsten verwundet werden kann. 
Ihre treuen Diener hatten ihr einiges gesagt; das übrige 
konnte sie erraten. Sie war sehr krank, aber sie merkte es 
nicht. Sie wußte nur, daß sie sehr erzürnt war, selbstsüchtig 
erzürnt wegen des Schmerzes, den man ihr zugefügt hatte, 
ein grausamer, erstickender, vernichtender Schmerz. Die 
Mittagsstunde kam heran und noch immer dachte sie darüber 
nach, wie sie das, was ihr jetzt die Pflicht zu sagen gebot, 
in der wenigst selbstsüchtigen Weise sagen könne, die ersten 
Worte des Vorwurfs, die je über ihre Lippen kommen 
sollten. Mit einem Male erzitterte ihr Herz so plötzlich, daß 
alles vor ihren Augen schwarz wurde, denn sie hörte das 
Rollen von Kurumarädern und die Stimme eines Dieners, 
die rief: „Der Ehrenwerte ist heimgekommen.“ 
Sie schleppte sich zum Eingang, um ihn zu empfangen, 
während ihr schlanker Körper in Fieber und Schmerz erbebte 
und in Angst, diesen Schmerz zu verraten. Und der Mann 
erschrak, als sie, anstatt ihn mit dem gewöhnlichen Lächeln zu 
begrüßen, mit ihrer zitternden kleinen Hand seinen Seiden 
mantel erfaßte und in sein Gesicht blickte mit Augen, die 
bis auf den Grund seiner Seele blicken wollten, und zu 
sprechen versuchte, aber nur das einzige Wort „Anata“? 
(du?) hervorzubringen vermochte. Fast im selben Augen 
blick löste sich ihr sanfter Griff, ihre Augen schlossen sich 
mit einem seltsamen Lächeln; und ehe er noch die Arme 
ausstrecken konnte, um sie zu stützen, fiel sie zu Boden. 
Er versuchte sie emporzuheben. Aber das Leben war aus 
dem zarten Körper entwichen. Sie war tot. 
Natürlich herrschte große Bestürztheit, man lief um Ärzte, 
man weinte, wehklagte und rief verzweifelt ihren Namen. 
Aber sie lag bleich, regungslos und schön da, aller Schmerz 
und Zorn war aus ihrem Antlitz gewichen und sie lächelte 
wie an ihrem Hochzeitstage. 
Die Leute wunderten sich, daß er nicht Priester wurde, um 
seiner Reue Ausdruck zu geben. Nun sitzt er tagsüber 
zwischen seinen Ballen von Kyotoseide und seinen Osaka 
götterbildern, ernst und schweigsam; seine Bediensteten halten 
ihn für einen gütigen Herrn; er spricht nie harte Worte zu 
ihnen. Oft arbeitet er bis tief in die Nacht. In das hübsche 
Haus, wo einst Haru lebte, sind Fremde eingezogen und der 
Besitzer sucht es niemals auf. Vielleicht weil er fürchtet, 
dort einen schlanken Schatten zu erblicken, der Blumen 
ordnet oder sich mit der Anmut eines Irisstengels über die 
Goldfische in seinen Weiher neigt. Aber wo er auch ruhen 
mag, so taucht doch in stillen Stunden dieselbe lautlose Ge 
stalt an seinem Kopfkissen auf, nähend, glättend, liebreich, 
bemüht, die schönen Kleider zu schmücken, die er einst an 
legte, um sie zu verraten. Und zu anderen Zeiten — in den 
geschäftigsten Augenblicken seines geschäftigen Lebens — 
verstummt der Lärm seines großen Ladens; die Ideogramme 
an seinen Wänden verblassen und verschwinden; und eine 
klagende kleine Stimme, die die Götter nie verstummen 
lassen, ruft in sein einsames Herz gleich einer Frage das 
einzige Wort „Anata“? (du?) 
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