brutal. Der gebildete Mann von normaler Charakteranlage
wird selbst den Vorwürfen seiner Frau mit sanften Worten
begegnen. Nach der japanischen Etikette verlangt die ge^
wohnlichste Höflichkeit diese Haltung von ihm; überdies
ist sie auch die einzig ratsame. Eine verfeinerte und sensitive
Frau wird sich nicht lange einer rohen Behandlung untere
werfen; eine temperamentvolle könnte sich wegen eines im
Moment der Leidenschaft ausgestoßenen Wortes sogar töten
und ein solcher Selbstmord entehrt den Gatten für den Rest
seines Lebens.
Aber es gibt eine stillschweigende Grausamkeit, die schlirm
mer als Worte ist und sicherer trifft, beispielsweise eine so
ausgesprochene Vernachlässigung und Gleichgültigkeit, daß
sie Eifersucht erregen muß. Eine japanische Frau ist frei'
lieh dazu erzogen worden, niemals Eifersucht zu zeigen; aber
das Gefühl ist älter als alle Erziehung, so alt wie die Liebe
und wohl auch von so langer Dauer wie diese. Unter ihrer
leidenschaftslosen Maske fühlt die japanische Frau ebenso
wie ihre abendländische Schwester, wenn sie, während sie eine
fashionable Abendgesellschaft bezaubert, sich in ihrem innersten
Herzen nach der Stunde der Befreiung sehnt, die ihr gestattet,
in der Einsamkeit ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen.
Haru hatte Anlaß zur Eifersucht; aber sie war zu sehr Kind,
um den wirklichen Grund sogleich zu erraten, und ihre
Diener waren ihr zu sehr ergeben, um sie darüber aufzu'
klären. Ihr Gatte hatte die Gewohnheit gehabt, seine Abende
in ihrer Gesellschaft daheim oder auswärts zu verbringen.
Aber nun ging er Abend für Abend fort. Zuerst hatte er
Geschäfte vorgeschützt; später suchte er nach gar keinem
Vorwand und sagte ihr nicht einmal, wann er zurückzukehren
beabsichtige. In letzter Zeit begegnete er ihr sogar mit still
schweigender Unhöflichkeit. Er war ein anderer geworden;
„als ob ein böser Geist sein Herz behext hätte“, sagten die
Diener. Tatsächlich hatte er sich in einer geschickt gestellten
Falle fangen lassen. Das Flüstern einer Geisha hatte seinen
Willen gelähmt, ihr Lächeln seine Augen verblendet. Sie war
weit weniger hübsch als seine Gattin; aber sie war sehr ge
schickt in der Kunst, Netze zu spinnen, die betörenden Netze
der Sinnlichkeit, die schwache Männer umgarnen und sie
immer enger und enger umstricken, bis schließlich die Stunde
der Enttäuschung und des Zusammenbruchs naht. Haru wußte
nichts. Sie argwöhnte nichts Böses, bis das seltsame Benehmen
ihres Mannes zur Gewohnheit geworden war, und auch dann
nur, weil sie merkte, daß sein Geld in unbekannte Hände
verschwand.
Er hatte ihr nie gesagt, wo er seine Abende zubrachte. Und
sie scheute sich zu fragen, damit er sie nicht für eifersüchtig
halte. Statt ihren Gefühlen in Worten Ausdruck zu geben,
begegnete sie ihm mit so gewinnender Freundlichkeit, daß
ein klügerer Gatte alles erraten haben würde. Aber außer in
seinen Geschäften war er nicht scharfsichtig. Er fuhr fort,
seine Abende auswärts zu verbringen; sein Gewissen regte
sich immer weniger und sein Fortbleiben dehnte sich immer
länger aus. Man hatte Haru gelehrt, daß eine gute Gattin
immer des Nachts auf bleiben müsse, bis ihr Gatte und Ge
bieter heimkäme. Und dadurch, daß sie dies tat, begann sie
an Nervosität zu leiden, an den fieberhaften Zuständen, die
durch Schlaflosigkeit hervorgerufen werden und von den
düsteren Gedanken der langen einsamen Wartestunden, nach
dem sie die Diener zur gewohnten Zeit entlassen hatte.
Nur einmal, als ihr Gatte besonders spät zurückkam, sagte
er zu ihr: „Es tut mir leid, daß du meinetwegen so lange
aufgeblieben bist. Bitte, warte nicht wieder auf mich!“ In
der Befürchtung, daß er sich wirklich um ihretwillen Sorgen
gemacht habe, lächelte sie freundlich und sagte: „Ich war
nicht schläfrig und ich bin nicht müde; ich bitte, Hochgeehrter,
nicht an mich zu denken!“ Und so hörte er auf, an sie zu
denken, nur zu froh, sie beim Wort nehmen zu können;
und kurze Zeit darauf blieb er die ganze Nacht fort. Die
nächste Nacht machte er es ebenso — und auch die dritte. Nach
dem er die ganze dritte Nacht fortgewesen war, kam er nicht
einmal zur Morgenmahlzeit nach Hause. Und nun wußte
Haru, daß die Zeit gekommen war, wo ihre Pflicht als Gattin
ihr zu sprechen gebot.
Sie wartete den ganzen Morgen, in Angst um ihn, in Angst
um sich selbst, endlich sich des Unrechtes bewußt, durch
das das Herz einer Frau am tiefsten verwundet werden kann.
Ihre treuen Diener hatten ihr einiges gesagt; das übrige
konnte sie erraten. Sie war sehr krank, aber sie merkte es
nicht. Sie wußte nur, daß sie sehr erzürnt war, selbstsüchtig
erzürnt wegen des Schmerzes, den man ihr zugefügt hatte,
ein grausamer, erstickender, vernichtender Schmerz. Die
Mittagsstunde kam heran und noch immer dachte sie darüber
nach, wie sie das, was ihr jetzt die Pflicht zu sagen gebot,
in der wenigst selbstsüchtigen Weise sagen könne, die ersten
Worte des Vorwurfs, die je über ihre Lippen kommen
sollten. Mit einem Male erzitterte ihr Herz so plötzlich, daß
alles vor ihren Augen schwarz wurde, denn sie hörte das
Rollen von Kurumarädern und die Stimme eines Dieners,
die rief: „Der Ehrenwerte ist heimgekommen.“
Sie schleppte sich zum Eingang, um ihn zu empfangen,
während ihr schlanker Körper in Fieber und Schmerz erbebte
und in Angst, diesen Schmerz zu verraten. Und der Mann
erschrak, als sie, anstatt ihn mit dem gewöhnlichen Lächeln zu
begrüßen, mit ihrer zitternden kleinen Hand seinen Seiden
mantel erfaßte und in sein Gesicht blickte mit Augen, die
bis auf den Grund seiner Seele blicken wollten, und zu
sprechen versuchte, aber nur das einzige Wort „Anata“?
(du?) hervorzubringen vermochte. Fast im selben Augen
blick löste sich ihr sanfter Griff, ihre Augen schlossen sich
mit einem seltsamen Lächeln; und ehe er noch die Arme
ausstrecken konnte, um sie zu stützen, fiel sie zu Boden.
Er versuchte sie emporzuheben. Aber das Leben war aus
dem zarten Körper entwichen. Sie war tot.
Natürlich herrschte große Bestürztheit, man lief um Ärzte,
man weinte, wehklagte und rief verzweifelt ihren Namen.
Aber sie lag bleich, regungslos und schön da, aller Schmerz
und Zorn war aus ihrem Antlitz gewichen und sie lächelte
wie an ihrem Hochzeitstage.
Die Leute wunderten sich, daß er nicht Priester wurde, um
seiner Reue Ausdruck zu geben. Nun sitzt er tagsüber
zwischen seinen Ballen von Kyotoseide und seinen Osaka
götterbildern, ernst und schweigsam; seine Bediensteten halten
ihn für einen gütigen Herrn; er spricht nie harte Worte zu
ihnen. Oft arbeitet er bis tief in die Nacht. In das hübsche
Haus, wo einst Haru lebte, sind Fremde eingezogen und der
Besitzer sucht es niemals auf. Vielleicht weil er fürchtet,
dort einen schlanken Schatten zu erblicken, der Blumen
ordnet oder sich mit der Anmut eines Irisstengels über die
Goldfische in seinen Weiher neigt. Aber wo er auch ruhen
mag, so taucht doch in stillen Stunden dieselbe lautlose Ge
stalt an seinem Kopfkissen auf, nähend, glättend, liebreich,
bemüht, die schönen Kleider zu schmücken, die er einst an
legte, um sie zu verraten. Und zu anderen Zeiten — in den
geschäftigsten Augenblicken seines geschäftigen Lebens —
verstummt der Lärm seines großen Ladens; die Ideogramme
an seinen Wänden verblassen und verschwinden; und eine
klagende kleine Stimme, die die Götter nie verstummen
lassen, ruft in sein einsames Herz gleich einer Frage das
einzige Wort „Anata“? (du?)
77