feststellte, hat die Mailänder Figur, die eine
Verbindung von Geschundenem und anatomi-
schem Modell darstellt, mehrere typologische
Wurzeln". Michelangelo gab in seinem hl. Bar-
tholomäus vom Jüngsten Gericht der Sixtina die
Anregung für die Kopfhülle des Märtyrers, einem
Motiv, das mittelalterliche Vorbilder in ltalien
hat. Den Typus des seine Haut haltenden Muskel-
mannes mag Gasparo Becerra in einem Kupfer-
stich für Juan Valverdes „Historia de la compa-
siciön del cuerpo humane", Rom 1556, an Agrate
vermittelt haben". Wichtiger, auch für Günthers
Bartholomöus, ist die Tatsache, daß dem Motiv
der zur Schau gestellten Menschenhaut zwei an-
tike Vorbilder zugrunde liegen: die „Trophäen"
von Herkules und Apollo. Während es beim
ersten das attributiv verwendete Löwenfell ist,
handelt es sich bei dem zweiten um die ge-
schundene Haut des Marsyas. ln beiden Fällen
sind es ikonographische Motive des Triumphs,
denen vor allem bei letzterem die naturhafte
Kultvorstellung der Wiedergeburt zugrunde liegt.
Auf den hl. Bartholomäus bezogen, heißt dies,
daß der Memento-mori-Gedanke, der dem Mus-
kelmann innewohnt, durch den christlichen
Triumphgedanken - die Auferstehung Christi --
aufgehoben wird". Entsprechend ist Günthers
Bartholomöus in antikem Standmotiv dargestellt.
Die überkreuzten Beine und der vor dem Ober-
körper abgewinkelte linke Arm lassen sich z. B.
beim Apollo Begerus, abgebildet in Bernard de
Montfaucons berühmtem Werk „Uantiquite ex-
pliquee et representee en figure", Paris 1719,
nachweisen". Freilich wird bei Günther das klas-
sische Standmotiv entfremdet. Greift beim Apollo
Begerus der linke Arm zu der auf eine Stütze
aufgelehnten Leier, so hält der hl. Bartholomäus
Günthers nur einen Draperiebausch fest. Der
nach links gebogene Oberkörper verändert da-
mit seinen Stellenwert. Er wird zur nachdenklich
leidvollen Pose affirmiert.
Für die Körperhaltung des Heiligen ist aber
auch noch eine andere Quelle wichtig - Gic-
vanni da Bolognas Studiolo-Apollo". Auch dort
ist die Pose der „Figura serpentinata" mit abge-
winkeltem Arm und nach rechts gewendetem
Gesicht in einem Funktionszusammenhong, der
sich wenigstens äußerlich als Motiv bestimmt. Die
Verbindung dieses Typus zu Günther könnte eine
Terrakotta-Statuette des Willem van den Broeck
(dat. 1569) darstellen, die sich im Kunsthistori-
schen Museum in Wien befindet". Es ist ein
Ecorche, dessen Gesichtstypus dem Bartholo-
mäus Günthers gleicht, auch wenn ihm eine ie
andere inhaltliche Bestimmung zugrunde liegt.
Unter Günthers Zeitgenossen ist es schließlich
kein Geringerer als Jean-Antonie Houdon, der
sich in seiner mehrfach reproduzierten Ecorche-
Statue (1766) des gleichen sensibilisierten Kopf-
typus bedient". lgnaz Günthers Bartholomäus
hält ieden Vergleich mit diesem frühklassizisti-
schen Werk aus und läßt erkennen, wie positiv
der Künstler den neuen ästhetischen Tendenzen
gegenüberstand. Das Aufgreifen eines so selte-
nen ikonographischen Typus bei Günther ist
wohl damit zu erklären, daß der Künstler, be-
dingt durch sein Werk über die Anatomie, mit
Darstellungen von Muskelmännern vertraut war.
Diese für Künstler gedachte Schrift, von der der
Augsburger Stecher G. Ch. Kilian in einem Brief
vermerkt, daß sie „. . . ihn berühmt mache, wenn
er auch sonst nichts Schönes geschaffen hätte",
ist leider verschollen, so daß iede Mutmaßung
hypothetisch bleiben muß 2'.
Auch die anderen Apostelreliefs Günthers, die
bereits veröffentlicht sind 15, gehören tradierten
Typen an. Der hl. Thomas, der gestenreich den
Zweifel an Jesu Erscheinung andeutet, ist eng
mit dem hl. Jakobus d. Ä. verwandt, der hl.
Andreas mit dem hl. Jakobus d. J. Die sich
gleichenden Physiognamien von Simon und Pe-
trus lassen sich von Berninis Kirchenvötern der
Cathedra Petri in St. Peter, Rom, aber auch vorn
Kreis um Hubert Gerhardt ableiten", wobei dar-
an zu erinnern ist, daß der Apostelfürst eine
Replik des Petrus vom Hocholtar der ehemaligen
Pramonstratenserkirche in Neustift bei Freising
darstellt". Das Relief des Paulus schließlich,
ebenfalls im Zusammenhang mit der gleichna-
migen Hochaltarfigur in Neustift stehend, hat
seine Vorbilder in der barocken Paulusikona-
graphie, während die Standpose manieristisch
anmutet".
Die Typenfixiertheit Günthers gibt den Schlüssel
zum Verständnis der Apostelreihe. Es fällt nicht
nur auf, daß ihre Vorbilder dem internationa-
len Typenbereich entstammen, sondern daß sie
auch verschiedenen Epochen angehören. Die Di-
stanz zur Tradition verbietet unkritische Rezep-
tion; sie erfardert im Gegenteil ästhetische Re-
flexion und damit ein hohes Maß von Bewußt-
heit in der Auffassung von „Kunst". lgnaz Gün-
thers enzyklopädischer Typenvorrat liefert das
Material zu einer homogenen Heiligenserie, in
der manieristisches Preziosentum und barockes
Pathos zum Ausdruck verinnerlichter seelischer
Stimmung werden. Die den räumlichen lllusionis-
mus betonenden Rasensockel, die gleichsam die
ganze, mit dem Umriß endende ideelle Welt der
Apostel bezeichnen, und ihr abgewendeter, nach-
denklicher Blick deuten an, daß diese Art von
religiöser Stimmung nur in der physischen und
psychischen Isolation leben kann. Auf die Auf-
klärung bezogen, in deren Horizont sich Gün-
thers Spätwerk bewegt, heißt dies, daß sich das
künstlerische Gestalten der christlichen Glau-
benszeugen in einen Bereich verschiebt, der
ganz der psychischen Erscheinung angehört, so
daß die physische Aktion, umgeben von der
Sphäre der positiven Erfahrungswelt, mit der
sie rechnet, zur Pose gerinnt.
In lgnaz Günthers Apostelserie manifestieren
sich Abschluß und Zusammenfassung zweier
Jahrhunderte. Es wird jedoch auch sichtbar, daß
die traditionellen Bildformen bereits neuen ästhe-
tischen Gesetzen gehorchen.
Anmerkungen 17-28
" L. Price Amerson, Jr., Marco düägrares San Barlolomeo,
an inlroduciion m some problems, in: ll Duomo di Milano,
uNi di cangresso imernuzionale 1965, Mailand 1969,
S. 139 5., mit Abbildungen.
" Amersan, a. n. 0.. S. 190.
" Amerson, a. u, 0., S 191.
T" Von der laleinisdien Ausgabe des Werkes in Deinschland
isr anzunehmen, dcB sie Günther bekunni war: Ami-
quilares gruecae e! romance u celeberrimo P. Moni-
fauconio..., Nürnberg 1757, Tab. XII, i. Das leiche
Srandmuüv früher bei Hans Reichles König Childe erVus,
Brixen, Hafbur . Friedrich Kriegboum, Hans Reidule in:
Jahrbuch a. unslh. Sammlungen Wißrl, NF s, 1931.
Abb. 214.
1' HEU! Weihrauch, Europüisdie BronlasllHuaNßfl. shaah-
schweig 1967, Abb. 229.
H Amerscn, a. a. 0., s. 192.
"Weihrauch, a. a. 0., Abb. 544. v 1. den gleichen Kopf-
rypus bei einer Heiligenbüsre osimo Funza o: 1m
Kreulgcng von s. Maniha, Neapel, um 1630. . w!"-
kower, An und urchilecfure in Haly, 1600 1a 1750, PE1ICGI1
Hisfory o! Art, 1965, Tuf. 112 B.
12
"Zit. nadi Adolf Feulner, lgnaz Günther, Wien, 1920,
S. 6 u. Anm. 6.
" Der hl. Petrus in: Salzburger Barodxmuseum, Katalog
S. 34. Die übrigen in: Ar: sacra, Katalog der Früh'ahrs-
ausslellung 1971, Galerie I. Neutert, München, Nr. 1-34.
1' Vgl. etwa den Kopf eines kahlkäpligen Flußgottes vom
Wittelsbacher Brunnen der Münchner Residenl.
"Schönberger, a. u. O., Abb. 80, 84. In ähnlicher Form
sind die Typen von Petrus und Paulus bereits in Günthers
Frühwerk vorhanden, bei den Hochaltariiguran der Pfarr-
kirche van KopiivnülMähren. G. Woeckel u. E. Herzog,
lgnaz Günthers Frühwerk in KoprivndlCSSR, in: Panthean,
24. 19., was, s. 226, Abb. 13, 14. Eine gewisse stilistische
Ähnlichkeit bei den Modeln von Petrus und Paulus lüßt
darauf schließen, daB sie die Arbeiten ein und des-
selben Mitarbeiters von Günther sind.
'" Eine Dotierung der Apnstelserie kann au: dem terminus
post quem der Neustifter Figuren (1765166) abgeleitet
werden. Man darf dann 1767MB als Enlslehungsdatum
annehmen. Eine exuktere Dotierung bleibt dem urkunde
liehen Nachweis der Zusammenarbeit Günthers mit Daller
vorbehalten, den Frank Leusch in seiner Publikation über
Glockenrnodel Günthers erbringen wird.
1 Unser Autor:
Dr. Veii Loers
Museum der Stadt Regensburg
D-84 Regensburg
Dachuuplutz 2-4