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Volltext: Alte und Moderne Kunst XVIII (1973 / Heft 126)

testens dann als Schimäre erweise, „wenn diese 
Kinder, aus der Schule entlassen, den unmittel- 
baren Zwängen von Produktion und Distribution 
unterworfen werden"". Wozu nur zu sagen 
wäre, daß es natürlich auch noch andere Zwänge 
gibt, einen Denkzwang etwa, dem die Neomar- 
xisten zum Opfer fallen, die immer noch das 
Heil des Menschen darin zu erkennen glauben, 
daß er sich äußeren Pressionen entzieht, und 
desto sicherer seinen inneren erliegt. 
Ansätze für neue Modelle 
Welche Vorstellungen könnten nun an die Stelle 
der an- und abgegriffenen alten treten, welche 
Bezeichnung soll diese Disziplin erhalten, die 
sich mit „allem Wahrnehmbaren und Wahr- 
nehmung, zugleich aber auch mit Wahrneh- 
mungskritik und einem emanzipatorisd1en Pra- 
zeß" beschäftigt, „der stets seine Vermitteltheit 
mitzureflektieren hat", wie es im besten ein- 
schlägigen Jargon formuliert wurde"? 
Eine der Hauptforderungen, die gestellt werden 
und gestellt werden müssen, ist die, dem Fach 
seine Möglichkeiten vom Beginn bis zum Ende 
des Schulbesuchs zu geben. Die alten, bekannten 
Sachbereiche: Zeichnen, Malen, Plastik sollen 
ausgeweitet werden und Wohnen (l), Architek- 
tur, Umweltgestaltung, Fotografie, Film, Kunst- 
betrachtung und Formgestaltung („Design") ein- 
beziehen. 
Parallel dazu: Förderung der von den amerikani- 
schen „Creativity"-Forschern Lowenfeld und 
Guilford als Voraussetzung für schöpferische 
Leistung genannten Faktoren: 
Sensivität - Aufnahmebereitschaft - Umgestal- 
tungsfähigkeit. Lowenfeld ging bei seinen For- 
schungen von der Kunst, Guilfard von den Wis- 
senschaften aus. Beide gelangen - nicht sehr 
überraschend und sehr einsichtig - zur selben 
Erkenntnis, aus der somit geschlossen werden 
darf, daß schöpferisches Vermögen in Kunst 
und Wissenschaft auf dieselben Faktoren zu- 
rückgeführt werden kann "i 
Junge österreichische Kunstpädagogen gelangen 
zu folgenden Forderungen: 
i. Sehvermittlung (als Voraussetzung auch einer 
entsprechenden Betrachtung etwa in den Natur- 
Wissenschaften). 
2. Das Aufspüren nichtverbaler, unmittelbarer 
Kornmunikationsmöglichkeiten. Im Zusammen- 
hang damit die Förderung praktischer Anwen- 
dungsmöglichkeiten des Aufgefaßten und Wie- 
derzugebenden. 
3. Abkehr von einer rein musisch-ästhetischen 
Fragenbehandlung. 
4. Ausbildung von Fähigkeiten wie Sensivität, 
Kreativität als prinzipielle Lebenshaltung, Schu- 
lung einer kritischen Einstellung. 
Erstes Bildungsziel dabei wäre das „Freimachen 
des Menschen". Jürgen Zimmer nennt dies „auto- 
nomes und kompetentes Handeln in Lebens- 
situationen"" und betont die Notwendigkeit 
der Entwicklung eines kreativen Moments im 
Hinblick auf die Wissenschaft, produktive Hy- 
pothesen und Kombinationen. 
Ein Theologe, Uwe Gerber, meint die künst- 
lerische Erziehung aus dem nur Gefühlsmäßigen, 
aus der bisherigen Definition von „Begabung" 
und „Muse" sowie „aus der deduktiv-subsumie- 
renden Kunstheorie... in einem emanzipatori- 
schen Bildungsprozeß" entschränken zu müssen 
- einem Prozeß, „der seine eigene Vermitteltheit 
kritisch durchschaut und realutopisch transzen- 
diert"". 
Die Praxis 
Derlei liest sich ganz gefällig, aber welcher 
Praxis sollen derartige Forderungen integriert 
werden, welchem System, welcher Stundenanzahl, 
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welchem Lehrerpotential? Wie steht der direkt 
Betroffene überhaupt zu seinem Problem? 
Denn „betroffen" scheint er im doppelten Sinn 
des Worts, scheinen auch die Verbände, die 
sich der Angelegenheiten der Kunsterzieher an- 
zunehmen aufgefordert fühlen. Sie befürchten, 
aufgeschreckt durch ein mitunter recht forsches 
Vorpreschen der Veränderungswilligen einer- 
seits und eine generelle, der Disziplin von seiten 
der Behörden widerfahrende Lustlosigkeit an- 
dererseits, daß eine „Abschaffung der ästheti- 
schen Erziehung" überhaupt drohen könnte". 
Während auf der einen Seite umfassende und 
interdisziplinäre Programme ausgearbeitet und 
diskutiert werden, schränkt man die Möglichkei- 
ten des Fachs in Österreich ebenso wie in der 
Bundesrepublik ein. Während man es in der 
Bundesrepublik versteht, wenigstens einen Teil 
der Öffentlichkeit zu mobilisieren, begnügt man 
sich in Österreich mit sorgenerfüllten internen 
und von der Furcht vor disziplinören Maßnah- 
men erfüllten Diskussionen sozusagen unter var- 
gehaltener Hand, was den Verdacht aufkom- 
men lassen könnte, man bange weniger um den 
Verlust der Existenz eines Fachs als um den einer 
Anstellung als Beamter. 
Zum Thema Lehrplan hat also nur der Bund 
Deutscher Kunsterzieher im Frühiahr 197i eine 
Fragebogenaktion veranstaltet". Interessant 
dabei ist u. a., welche Ausrichtung des Fachs 
von den meisten befürwortet wurde, und zwar 
unter folgenden Gesichtspunkten: 
a) Kunsterziehung (z. B. musisch; ästhetisch- 
bildnerisch) 
b) Kunstunterridtt (z. B. rational überprüfbare 
bildnerische Lerninhalte) 
c) visuelle Kommunikation (nach den Vorschlä- 
gen etwa Möllers) 
d) Gesellschaftskritik im Sinn des Neomarxis- 
mUS. 
Für a) votierten 58 Prozent, für b) 63 Prozent, 
für c) 22 Prozent und für d) 3 Prozent, wobei 
klar ist, daß sich manche sowohl als auch ent- 
schieden haben. Das Ergebnis dürfte etwa auch 
den Verhältnissen in Österreich entsprechen, 
wobei hier vermutlich die meisten Stimmen auf 
o) entfallen würden, was betrüblich ist, aber 
als Faktum registriert werden müßte, bevor man 
sich hachfliegende Gedanken über - auf Grund 
vorhandener Strukturen nicht realisierbare - 
Veränderungen macht. 
Gegen die „einseitig-politische Einengung" 
(siehe dazu den Abschnitt weiter unten) des 
Fachs - gemeint sind damit Vorstellungen Mül- 
lers" und H. K. Ehmers" - wenden sich die 
Betroffenen zum Teil ebenfalls vehement. 
„lch werfe den meisten neueren Kunsterzie- 
hungstheoretikern eine weitgehende Praxisfremd- 
heit vor", schreibt ein deutscher Kunsterzieher 
an den Autor dieses Beitrages". „So werden 
die auch für den Grundschullehrer gedachten 
Schriften Gunter Ottos z. B. weder gelesen noch 
iemals verstanden." Andererseits „kann man 
behaupten, daß jahrelanger Unterricht bei ein 
und demselben, womöglich geistig sterilen Leh- 
rer die Vernichtung aller tieferen Zwecke des 
Faches ,Kunst' bedeuten muß". 
Zum österreichischen Problem meint ein sich mit 
Fragen Bildnerischer Erziehung seit langem be- 
schäftigender Hochschullehrer", daß die Schul- 
behörden ihrerseits „Kunsterziehung" im her- 
gebrachten Sinn aufgegeben hätten. Doch habe 
„allem Anschein nach vorerst nur Verwirrung 
anstelle neuer Gedanken Platz gegriffen. Da- 
durch entsteht Ratlosigkeit bei den im Dienst 
stehenden Lehrern . . . der Nachwuchs aber wird 
zwischen sich widersprechenden Anforderungen 
im Ausbildungsplan zerrieben". 
Verwirrung und Ratlosigkeit werden also von 
allen Seiten in eine Angelegenheit hineingetra- 
gen, die doch zu wichtig erscheint, als daß man 
es dabei bewenden lassen könnte, abzuwarten: 
„Wir können nicht mit dem Handeln warten, bis 
wir mit dem Denken fertig sindfs." Daß sich 
neue Gedanken schwendurchsetzen, ist nun tat- 
sächlich von den Gesellschaftsstrukturen bedingt, 
unter denen wir heute zu leben und zu leiden 
haben und die durch die zähe, klebrige Substanz 
des Nichtverstehen- und Begreifenwollens derer 
geeint wird, die neuen Ansötzen von vorneherein 
ausweichen. Noch immer sind es hauptsächlich 
die bewahrenwollenden Instanzen, die keine 
politischen, moralischen, kulturellen Veränderun- 
gen wollen und innerhalb deren Lernen nichts 
anderes als ein Reproduzieren vorgeformter 
Erfahrungs- und Verhaltensmuster bedeutet. Paul 
Lengrand, Leiter der Abteilung für Erwachsenen- 
bildung im Departement für Erziehungshilfe der 
UNESCO, formulierte es so: 
„Die Instrumente, über welche die Gesellschaft 
zur Unterrichtung und Ausbildung der zukünfti- 
gen Bürger verfügt, Schule uncl Universität, zei- 
gen seit Generationen immer das gleiche Bild: 
nur seltene Verbindung zum praktischen Leben, 
fehlende Kenntnis der Realität, Trennung von 
Vergnügen und Lernen, kein Dialog, keine Zu- 
sammenarbeit. Die Mehrzahl der Schul- und 
Universitätssysteme unserer Zeit ist darauf aus- 
gerichtet, einen Menschentypus heranzubilden, 
der die Vorstellungen und Richtlinien der Ge- 
sellschaft unbesehen annimmt. Was die Mächti- 
gen, gleich welcher Art, am meisten fürchten, ist 
ein kritischer Geist"? Und so gelangen wir 
also zum politischen Moment der Angelegenheit. 
Das politische Moment 
Nur ein neues Bewußtwerden von den Möglich- 
keiten, die iede Form der Aktivität auch zu 
politischem Handeln werden läßt, weil sie in 
Bestehendes eingreift, scheint dazu führen zu 
können, wieder ienen Boden unter die Füße zu 
bekommen, der allen Beteiligten weggezogen 
wurde. Allerdings scheinen die bisher vorgeleg- 
ten Modelle, entkleidet man sie ihres dialek- 
tischen Brimboriums, wenig dazu geeignet, prak- 
tische Lösungen zu ermöglichen, die überdies 
den gesamten Schulbereich betreffen müßten. So 
plädiert man für die Erhaltung oder gar Aus- 
dehnung des Kunstunterrichts (was, wie man viel- 
leidwt gesehen hat, gar nicht so sehr neben als 
vielmehr mit den übrigen Disziplinen funktionie- 
ren könnte) „mit Hilfe pädagogischer, psycholo- 
gischer und kulturanthrapologischer Argumente, 
die alles anrühren, nur nicht das, um was es geht, 
nämlich das, was ist, und nicht das, was sein 
soll"". Der iunge Mensch soll dazu befähigt 
werden, „im Spannungsfeld der Realität kritisch 
und engagiert leben zu lernenz", er soll die 
„Befähigung zum kritischen Medienkonsum und 
emanzipatorischem Mediengebrauch"" erler- 
nen, also kann ein sinnvoller Unterricht in die- 
sem Sinn mit der bisherigen Ausbildung der 
Kunsterzieher „nicht länger (wenn bisher über- 
haupt) gewährleistet werdeniw". Die Ad-hoc- 
Gruppe Visuelle Kommunikation in Frankfurt 
fürchtet wie andere die „vage Rezeption bürger- 
lich-idealistischer Motive" und fordert die Ab- 
schaffung des Kunstunterrichts in seiner bisheri- 
gen Form. „An seine Stelle tritt nicht ein techno- 
kratisch reformiertes Unterrichtsfach, sondern eir 
gesellschaftskritisches Visuelle Kommunikation 
das sich zu legitimieren hat an seinem Beitrag 
für gesamtgesellschaftliche Veränderungen." 
Ich weiß nicht, was da besser ist: das Reden ir 
bürgerlich-idealistischen Vorstellungen oder da: 
soziologische Herumwaten im Niemandslanc 
zwischen Politik und Kultur, von der Ohnedie:
	        
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