Klaus Eggert
Der Begriff des
Gesamtkunstwerks in
Gottfried Sempers
Kunsttheorie
Den Himmel erschuf ich aus der Erd'
Und Engel aus Weiberenffaliung,
Der Stoff gewinnt erst seinen Werfh
Durch künstlerische Gestaltung!
Gohfried Semper'
Der Terminus „Gesamtkunstwerk" stammt von
dem Semper teilweise intensiv verbundenen Ri-
chard Wagner. Er spricht vom „großen Gesamt-
kunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu
umfassen hat, um iede einzelne dieser Gattun-
gen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen,
zu vernichten zugunsten der Erreichung des Ge-
samtzwecks aller, nämlich der unbedingten, un-
mittelbaren Darstellung der vollendeten mensch-
lichen Natur". Wagner meint vor allem das
Drama. Die zitierte Äußerung wurde 1850 ge-
drucktf.
Semper schuf eine Konzeption vom Gesamt-
kunstwerk, ohne dieses Wort zu verwenden.
Diese Konzeption wird nun verfolgt und dabei
zunächst das hierzu Gehörende von Sempers
Kunstbegriff im allgemeinen angeführt.
Für Semper hat die Darlegung eines Einzelpro-
blems ihren eigentlichen Wert nur im Zusam-
menhang mit einer universalen Gesamtkonzep-
tion. Nach Karl Hammer: hätte Franz Christian
Gau Semper „auf das ihn lebenslang beschäf-
tigende Thema des Zusammenhanges zwischen
Kultur- und Kunstentwicklung hingewiesen".
Eine wesentliche Seite von Sempers Kunsttheorie,
verschiedentlich seit seinem Tode als die wich-
tigste bezeichnet, zeigt das Vorhaben eines „ver-
gleichenden Systems" der Stillehre, das eine
Analogie zu Werken von Georges Baron v.
Cuvier und zu Alexander v. Humboldts „Kosmos"
bilden salltef. Cuvier erhob die vergleichende
Anatomie zu einer Wissenschaft, Semper trieb
eine Art van vergleichender Kunstformen-Ana-
tomie. Alexander v. Humboldt war wie Semper
iedes Einzelfaktum nur ein Mittel zu dem Zweck,
universale Konnexe zu erkennen. Er wollte die
Natur als ein durch innere Kräfte bestimmtes
Ganzes auffassen. Humboldt stand also im Ge-
gensatz zum Polyhistor, der sich an Tatsachen
halt, welche vereinzelt bleiben. Semper äußerte:
„Was die Kunstgeschichte betrifft, so wird sie
erst dann der Kunst eine wahre Führerin werden,
wenn sie aus ihrem gegenwärtigen sondernd kri-
tischen und archäologischen Standpunkte zu dem
der Vergleichung und der Synthesis übertrittä."
Die Forderung nach Synthese ist bezeichnend;
Analyse ist also nicht Selbstzweck, sondern nur
Mittel zum Zweck der Synthese. Auch beim
künstlerischen Schaffensprozeß des sogenannten
„Historismus" ganz allgemein hat Synthese eine
entscheidende Bedeutung. Eine Synthese aus dem
„willkürlich, ia dem heterogen scheinenden" so-
gar, aus dem ein Ganzes geschaffen wird, nennt
Ernst Theodor Amadeus Hoffmann schon in den
1816 erschienenen „Elixieren des Teufels"
schlechthin ramantischf, allerdings hält er sie für
speziell wichtig bei gotisch angeregter Kunst.
Semper formuliert die Aufgabe seines Hauptwer-
kes vergleichender Systematik, des „Stil", fol-
gendermaßen; „. . . die bei dem Prozeß des Wer-
dens und Entstehens von Kunsterscheinungen
hervortretende Gesetzlichkeit und Ordnung im
einzelnen aufzusuchen, aus dem Gefundenen
allgemeine Prinzipien, die Grundzüge einer em-
pirischen Kunstlehre, abzuleitenÄ" Es sei hier
als Abschweifung bemerkt, daß ein solches Vor-
haben voraussetzt, daß die Vergangenheit als
eine Kontinuität, und zwar auch in kontinuier-
lichem Zusammenhang mit Gegenwart und Zu-
kunft, aufgefaßt wird und Kunstwerke der Ver-
gangenheit eine Komponente haben, welche
dauernde, ruhende Gegenwart, kontinuierlich
gültiges Sein, besitzt. Diese Komponente der
Kunstwerke muß also von der bloß zeitbeding-
ten geschieden werden.
Semper beschreibt seine Aufgabestellung bei
seiner vergleichenden Kunstsystematik weiter; In
den Kunstwerken sollen „die nothwendig ver-
schiedenen Werthe einer Funktion, die aus vie-
Ien variablen Coefficienten besteht", nachgewie-
sen werden, vor allem, um das „innere Gesetz"
zu zeigen, das gleichermaßen in Kunst und Na-
tur walte. „So wie nämlich die Natur bei ihrer
unendlichen Fülle doch in ihren Motiven höchst
sparsam ist, wie sich eine stetige Wiederholung
in ihren Grundformen zeigt, wie aber diese
nach den Bildungsstufen der Geschöpfe und
nach ihren verschiedenen Daseinsbedingungen
tausendfach modificirt. .. erscheinen, ...so lie-
gen auch der Kunst nur wenige Normalformen
und Typen unter. . .3."
So will Semper also die Kontinuität des Stilisti-
schen beim Kunstwerk erkennen. Schon hier ge-
nügt ihm eine empirisch-antologische Methode
nicht völlig; Intuition im romantischen Sinne muß
hinzutreten. Im übrigen ist, vom stilkritischen
Standpunkt aus betrachtet, das Kunstwerk für
Semper also nichts Absolutes, sondern Resultat.
Ein Resultat ist für ihn aber nur diese eine Kom-
ponente des Kunstwerks.
Gegen einen totalen empirischen Determinismus
bei der Lehre von der Entstehung des Kunst-
werks wendet sich Semper folgendermaßen: „Uns
will diese Anwendung des berühmten Axiorns:
die Natur macht keine Sprünge, und der Dar-
winschen Artentstehungslehre auf die besondere
Welt des kleinen Nachschöpfers, des Menschen,
doch einigermaßen bedenklich erscheinen, an-
gesichts dessen, was die Monumentenkunde
zeigt... Man bezeichnet sehr richtig die alten
Monumente als die fossilen Gehäuse ausgestor-
bener Gesellschaftsorganismen, aber diese sind
letzteren, wie sie lebten, nicht wie Schneckenhäu-
ser auf den Rücken gewachsen, noch sind sie
nach einem blinden Naturprozesse wie Korallen-
riffe aufgeschossen, sondern freie Gebilde des
Menschen, der dazu Verstand, Naturbeobach-
tung, Genie, Willen, Wissen und Macht in Be-
wegung setzte. Daher kommt der freie Wille
des schöpferischen Menschengeistes als wichtig-
ster Faktor bei der Frage des Entstehens der
Baustile in erster Linie in Betracht, der freilich
bei seinem Schaffen sich innerhalb gewisser
höherer Gesetze des Ueberlieferten, des Erfor-
derlichen und der Notwendigkeit bewegen muß,
aber sich diese durch freie obiektive Auffassung
und Verwertung aneignet und gleichsam dienst-
bar machP." Der Mensch als Schöpfer ist also
eine obiektivierte Individualität, ohne daß er an
Freiheit und ohne daß die Gesetzlichkeit an ob-
iektiver Gültigkeit einbüßt. Er zieht das Objek-
tive gleichsam in sich hinein, sein empirisches
Ich zum absoluten Selbst transzendierend. Im
übrigen führt Semper in der letztzitierten Pas-
sage als unabhängige Variable in der Kunst den
freien Willen an und im Begriffe des Schöpfe-
rischen sowie des Genies eine metaphysische
Komponente. Demnach und insofern besitzt das
Kunstwerk also ein absolutes Sein.
Eine analoge metaphysische Komponente postu-
Iiert Semper auch für die Wissenschaft; „. . . denn
die Archäologie kann noch so scharf sichten und
scharfsinnig spüren, es bleibt immer doch zuletzt
dem divinatorischen Künstlersinn alleinig vorbe-
halten, aus den verstümmelten Ueberresten der
Antike ein Ganzes zu rekonstruierenm." Also
bei der von Semper angenommenen Hauptauf-
gabe einer der Kunst ossistierenden Wissen-
schaft, nämlich der Synthese, wie sie bereits
angeführt wurde, bekennt sich Semper zur Intui-
tion, etwas der Empirie im Sinne etwa Immanuel
Kants Transzendentem. Damit gelingt Semper
die Synthese zwischen Empirie und Transzendenz.
Derartig umfassende Synthesen der Semper-Zeit
gelangen ausschließlich auf Grund romantischer
Voraussetzungen; solche Synthesen machen das
Wesentliche von Sempers Theorie aus. Hierzu
(Anmerkungen 1-10 s. S. 50)
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