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Volltext: Alte und Moderne Kunst XX (1975 / Heft 142 und 143)

Ein Äquivalent für „divinatorischen Künstersinn" 
fordert noch gegen Ende des sogenannten „Hi- 
storismus", 1897, Hermann Grimm für die Wis- 
senschaft, indem er sagt: „Ein großer Geschicht- 
schreiber ist nicht denkbar, in dessen Adern 
nicht dichterisches Blut flösse"." Diese Äußerung 
bezog sich auf Heinrich Gotthard v. Treitschke. 
Semper wird nun nach dem Prinzip befragt, auf 
das sein romantischer Idealismus alles, was jen- 
seits bloß empirischer Realität ist, zurückführt, 
nach dem Prinzip, das er als transzendentes 
Absolutum annimmt. Im unedierten Zürcher Ma- 
nuskript „Vergleichende Baulehre", dessen Vor- 
wort 1850 datiert ist, nennt er als das Einende, 
allerdings in der Wissenschaft, die „Weltidee", 
als Schöpfer einer davon ausgehenden Wissen- 
schaft den schon erwähnten Alexander v. Hum- 
boldt". Der Begriff „Weltidee" steht in Konnex 
mit Friedrich v. Schellings „Weltseele"". Dieser 
metaphysische Begriff meint den Naturgeist, der 
zunächst unbewußt, iedach zweckmäßig tätig 
gewesen sei und erst im Menschen sich zum 
Bewußtsein erhebe und nun zum Obiekt seines 
Anschauens mache. Die Vermutung einer Pa- 
rallele zwischen Semper und Schelling in diesem 
Falle wird dadurch gestützt, daß in der letztzi- 
tierten Quelle Semper erklärt, wahre Kunst sei 
ohne Religiosität, und zwar pantheistische, un- 
denkbar". Der Pantheismus, bekanntlich von 
großer Bedeutung in der romantischen Philoso- 
phie, hat entscheidende Voraussetzungen im Neo- 
platonismus, über den beispielsweise Johann 
Gattlieb Fichte 1818 publizierte". Des näheren 
schreibt Semper im Zürcher Manuskript: „Natur 
prägt ihren Gebilden Form und Charakter auf 
nach den Ideen, welche in ihnen verkörpert 
sindlßjl 
Dementsprechend fordert er für eine „richtige 
Kunstform": „. . . dasjenige Gepräge nämlich, wo- 
durch das freie Menschenwerk als Naturnoth- 
wendigkeit erscheint, der allgemein verstandene 
und empfundene formale Ausdruck einer Idee 
wird"? Bereits Friedrich v. Schiller zeigt, wie 
der Mensch im Unterschied zum Tier das Werk, 
das aus der Not des natürlichen „Lebens", also 
bloßer empirischer, materieller Realität, entstand, 
in ein Werk seiner freien Wahl umschafft". 
Semper verlangt speziell für die Baukunst: „Die 
Grundidee in der Mannichfaltigkeit der Gebilde 
durchblicken zu lassen, ein individualisirtes aber 
zugleich ein in sich selbst und mit der Außen- 
welt in Einklang stehendes Ganzes darzustellen, 
darin besteht das große Geheimniß der Bau- 
kunst"." In der gleichen Quelle nennt Semper 
ein dieser Forderung entsprechendes Gebilde 
„organischwo. Besonders in der antiken griechi- 
schen Kunst und selbst bei altgriechischen Schleu- 
dergeschossen sieht Semper überzeitlich gültige 
Ausprägungen des Organischen. Hierbei hätten 
die Griechen nicht etwa die Gebilde der Natur 
nachgeahmt, sondern in schöpferischer Weise 
das allgemeine Naturgesetz abgewandelt, das 
einheitlich sei im kontinuierlichen Zusammen- 
hang, also nicht etwa einförmig. So seien die 
Tempel und Monumente nicht auf Statik und 
Konstruktion allein begründet, sondern vor al- 
lem „gewachsen". Statt daß ein Ornament da- 
bei äußerlich appliziert sei, seien die tektoni- 
schen Teile selbst organisch gestaltet. Deshalb 
könne auch nicht rationalistisch ein „Schema" 
für altgriechische Bauten erstellt werden. Semper 
lehnt es ab, die Kunst aufs Meßbare zu redu- 
zieren" oder überhaupt auf äußerliche Verfüg- 
barkeit. 
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folgt; „Als freie und schöne Kunst kann Architek- 
tur nur erscheinen, insofern sie Ausdruck von 
Ideen, Bild des Universums und des Absoluten 
wird. Aber reales Bild des Absoluten und dem- 
nach unmittelbarer Ausdruck der Ideen ist über- 
all nur die organische Gestalt in ihrer Voll- 
kommenheit?" 
Wie für Semper ist auch für Richard Wagner 
Ausdruck der Naturnotwendigkeit wesentliches 
Kunstkriterium. Im „Kunstwerk der Zukunft", er- 
schienen 1850, ist eine Naturnotwendigkeit als 
universaler Zusammenhang der Ausgangsbegriff. 
Als Gegenprinzip nennt Wagner demnach Iso- 
lierung, die Willkür beinhaltet. Trotz der Willkür 
kommt nach Richard Wagner die Mode, welche 
sich von der Natur isoliert, nicht von ihr los. Die 
Mode, sei sie nun gerade „nostalgisch" oder 
futuristisch, kann Wagner zufolge nichts erfin- 
den, sondern nur ableiten, und muß so notwen- 
dig zu nichts anderem als Entstellung der Natur 
gelangen. Denn Erfinden sei nur Auffinden, Er- 
kennen der Natur. Es sei nochmals darauf hin- 
gewiesen, daß hier keiner Naturnachahmung, 
etwa im Sinne des „NaturaIismus", das Wort 
geredet wird, sondern Schöpfung in Analogie 
zur Natur, und zwar zu deren innerer Gesetz- 
lichkeit, gemeint ist. 
Es stehen sich ietzt in diesem Aufsatz die be- 
dingte, realistische Komponente des Kunstwerks 
einerseits und die unbedingte, idealistische Kom- 
ponente andererseits gegenüber, wie Semper 
sie zeigte. Nun ist auf die Art der Verbindung 
beider Komponenten einzugehen. Semper sieht 
eine solche Verbindung ermöglicht, wo die Form 
Symbolcharakter besitzt. Hierzu muß der Ein- 
druck realer Bedingtheit eliminiert werden. „Ver- 
nichtung der Realität, des Stofflichen, ist not- 
wendig, wo die Form als bedeutungsvolles Sym- 
bol als selbständige (sic) Schöpfung des Men- 
schen hervortreten soll. Vergessen machen sollen 
wir die Mittel, die zu dem erstrebten Kunstein- 
druck gebraucht werden müssen, und nicht mit 
ihnen herausplatzen und elendiglich aus der 
Rolle fallenu." Nicht durch Willkür solle der 
Eindruck realer Bedingtheit beseitigt werden, 
sondern diese Notwendigkeit in der materiellen 
Realität, zu der beispielsweise Bedürfnis, Rück- 
sicht auf historische Entwicklung und auf Stoff 
gehören, zur Potenz erhoben werden, symboli- 
sche Notwendigkeit werden. Semper vermeidet 
damit Rationalismus ebenso wie subiektive Will- 
kür, stattdessen verbindet er Realität und Ideali- 
tät, und zwar gesetzmäßig und dennoch frei, 
in einer umfassenden Synthese. Die bloße Wirk- 
lichkeit wird bei ihm zum Symbol potenziert 
und damit Wahrheit. Wo das Symbol ist, da ist 
nach Semper die Kunst, die selbständige Schöp- 
fung des Menschen, da wird Notwendigkeit zur 
Freiheit. 
Bereits Friedrich v. Schiller postuliert die Trans- 
zendierung des Wirklichen zur Wahrheit: „Wer 
sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der 
wird nie die Wahrheit erobernu." Ähnlich äußert 
sich Edward George Earle Lytton-Bulwer, einer 
der bedeutendsten Dichter, Philosophen, Esoteri- 
ker und Dandys der Viktorianischen Epoche: 
„Seht ihr nicht, daß die Größere Kunst, ob die 
des Dichters oder Malers, immerdar das Wahre 
suchend, das Wirkliche verabscheut; daß ihr 
euch der Natur als ihr Meister bemächtigen 
müßt, nicht Lakaiendienste tun als ihr Sklave?"" 
Friedrich v. Schelling sagt: „Auf den höheren 
Stufen der iNatur sowie der Kunst, wo sie wahr- 
haft symbolisch wird, wirft sie jene Schranken 
Abkürzungen von zitierten Werken Sernpers: 
S : Der Stil in den technischen und tektonischen 
2. Auflage, München 1878 
K5 : Kleine Schriften. Berlin und Stuttgart 1884 
Anmerkungen 1-27 
'S, 1. Bd., S. XXI. 
2 Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft. 
sammelte Schriften und Dichtungen. 3. Bd., 3. 
Leipzig a. .I., S. 60 (Erstausgabe Leipzig 1850). 
1 Jakob lgnaz Hittorff, Stuttgart 1968, S. 112, Anm. i 
t KS, S. 262. 
5 5,1. Bd., S. XVIII. 
t Gesammelte Schriften. 6. Bd., Berlin 1872, S. 123. 
75,1. Bd., S. Vlll. 
' lbidem. 
r K5, s. 400-402. 
l" 5,1. Bd., S. XVIII. 
l" Beiträge zur deutschen Kulturgeschichte, Berlin 18 
"Vorwort, datiert „Paris den 14. Mai 1850", unp 
" Van der Weltseele, Hamburg 1798, passim. 
" 1. Capitel des 1. Abschnitts, unpaginiert. 
ß De philosaphiae navae Platanicae origine, 13er 
"' Vorwort, unpaginierl. 
17 S, 1. Bd., S. XIII. 
1' Etwas über die erste Menschengesellschaft, passim 
" Vergleichende Bauiehre, Manuskript, Zürich, Ei: 
sche Technische Hochschule, Vorwort, unpaginiert. 
z" Ibidem. 
2' Über die bleiernen Schleuclergeschosse der A 
Frankfurt am Main 1859 (nach S. 7 schon 1854 enl 
S. 5, 6; KS, S. 278, 279 (nach S. 259 aufgru 
Vortrages von 1853). _ 
H Über die christliche Kunst, Frankfurt am Main 1E 
7' Werke. Stuttgart und Augsburg 1856-1861, 1. Ab 
III, S. 206. 
1' Philosophie der Kunst. In: Werke, zit. Anm. 22 
theilun , V, S. 577. 
"S, 1. B ., s. 21a. 
7' Über die ästhetische Erziehung des Menschen . 
lers Werke, Auswahl in 10 Teilen. Hg. von Ar 
scher. B. Teil. Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgarf a. 
1910], s. 42. 
1' Zanani, Leipzig 1842, s. 129 i: The Complete t 
E. L. Bulwer, Vol. XIX); ähnlich ibidem, S. 136.
	        
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