aufrafften. In diesem Zusammenhang muß un-
bedingt die „Charte d'Athenes" von 1933 zur
Sprache kommen, weil sie noch immer eine ge-
wisse Rolle spielt, sei es, das Berufsethos der
Architekten gebührend herauszustellen, sei es,
um sich kritisch von den damals ausgesproche-
nen Kernsätzen abzusetzen.
Schon fünf Jahre vor dem Athener Kongreß
war es zur Gründung des CIAM (Congres In-
ternationaux d'Architecture Moderne) gekom-
men. Sein Wirken und insbesondere die Charta
von Athen sind nicht zuletzt unter dem Aspekt
zu sehen, daß die Architekten bemüht waren,
ihre Kompetenz für die großen Aufgaben der
Zeit nachzuweisen, nachdem sie vorher im Laufe
der Geschichte allmählich in die Ecke gedrängt
worden waren. Weil auf allen Gebieten in zu-
nehmendem Maße „die große ZahI" zum erst-
rangigen Problem wurde, so daß es galt, Mas-
sen auf sinnvolle Weise zu organisieren, rückten
in der Architektur die Fragen des Städtebaus
in den Vordergrund. Und hier versuchten die
Architekten unter Beweis zu stellen, daß sie zu
einer ganzheitlichen Schau imstande sind. Sie
waren entschlossen, die Architektur auf die Höhe
der Zeit zu bringen, sie aus den Krusten des
Akademisrnus zu befreien. Schon in einer Er-
klärung des ersten Kongresses hieß es, daß die
Architekten sich ganz auf die Entwicklungsrich-
tung ihrer Epoche einstellen miißten. „lhre Ar-
beiten müssen den Geist ihrer Zeit zum Aus-
druck bringen. Deshalb lehnen sie kategorisch
ab, sich in ihrer Arbeitsmethode der Prinzipien
zu bedienen, die die Gesellschaft der Vergan-
genheit bewegten. Sie erklären vielmehr, daß
eine neue Architekturauffassung entstehen muß,
die den geistigen, intellektuellen und materiel-
Ien Anforderungen des heutigen Lebens ent-
spricht. Sie geben sich Rechenschaft über die
grundlegenden Veränderungen, die das Maschi-
nenzeitalter in der sozialen Struktur hervorgeru-
fen hat und erkennen, daß die Veränderungen
des Lebens und der Ordnung der Gesellschaft
notwendigerweise eine entsprechende Verände-
rung der architektonischen Gestaltung zur Folge
haben muß." Die Charta von Athen konzentrierte
sich in erster Linie auf die Frage, welche Ge-
stalt die Stadt der Zunkunft haben sollte. Die
Grundsätze, deren geistiger Vater Le Corbusier
war, stellten in gutem Glauben den Menschen
in den Mittelpunkt der Überlegungen: „Die Ar-
chitektur muß sich dem Individuum zuwenden
und für dessen Glück die Einrichtungen schaffen,
die den Rahmen aller seiner Lebensäußerungen
bilden und diese gleichzeitig erleichtern werden.
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I4
15
Le Carbusier, „Die 3 menschlichen Siedlungs-
formen": 1945
I. Die landwirtschaftliche Nutzungseinheit
2. Die lineare Industriestadt
3. Die radio-konzentrische Metropole des Aus-
tausches
Le Carbusier, Das Kapitol von Chandigarh, 196i.
Vorhalle des Parlamentsgeböudes
Wer könnte die notwendigen Maßnahmen tref
fen, wenn nicht der Architekt, der die vollkam
mene Kenntnis vom Menschen besitzt...?" Hie
ist es wohl zu einer maßlosen Überschätzung
der Möglichkeiten eines ganzen Berufsstande
gekommen. Die Äußerung ist nur als Ausdrucl
jener Sehnsucht nach der Zeit zu erklären, al
der Architekt wie Andrea Palladio noch im Be
sitz aller Vollmachten war.
Aber vereinzelt ist es in der Folge gerade L-
Corbusier tatsächlich gelungen, große visianäri
Konzepte zu verwirklichen. Sein Vorschlag wai
daß die moderne Stadt aus Wohnhochhäuser
bestehen sollte, mit großzügigen Parkfläche
dazwischen. Seine Gartenstadt kann große Be
völkerungsmassen aufnehmen, und sie ist so o1
ganisiert, daß die einzelnen Funktionen (Woh
nen, Arbeiten, Erholen und Verkehr) streng von
einander getrennt sind.
Warum hat das Modell eine böse Niederlag
erlitten? Warum gilt Le Carbusier, noch nicf
30 Jahre nach seinen Plänen für die Zukunft:
stadt, als einer der Hauptschuldigen für da
Chaos im modernen Städtebau? Vielleicht sollt
man ihn in Schutz nehmen vor seinen zahlre
chen Nachahmern, die sein Modell vielfach au
unzulänglichste Weise kopierten. Aber da
Hauptmanko seiner Gartenstadt scheint doc
mit der Überheblichkeit zusammenzuhänger
wonach der Architekt die vollkommenste Kenn'
nis vom Menschen besitze. Die Gartenstadt i:
wohl funktional durchdacht, aber sie läßt kein
Urbanität entstehen. Dazu gehören oftenbc
nach menschlichen Maßstäben differenziert
Strukturen, die dem Bewohner Anhaltspunkte ge
ben zur „Heimatbildung", ihm eine Chance eir
räumen, eine Beziehung zu seinem Wohnort au'
zubauen. Und zu diesem privaten Raum müsse:
ihm vorgeordnet, eine Reihe öffentlicher Korr
munikationsräume kommen, die erst städtische
Leben ermöglichen.
Sind wir also entlassen in die völlige Ratlasig
keit? Die Überlegungen haben vielleicht eine
gezeigt; Das progressive Konzept eines Arch
tekten ist wertlos, wenn es von den Benützer:
die möglicherweise auf einer ganz anderen B:
wußtseinsstufe stehen, nicht ausgefüllt werde
kann. Wir sind in der Entwicklung an eine:
Funkt angelangt, da zwischen puristischem Funl
tionalismus auf der einen Seite und hemmungi
losem Individualismus ein produktiver Ausgleir
gefunden werden muß. Damit sind aber nicI
verwaschene Halblösungen gemeint, wie sie vc
architektonischen Kleingeistern tagtäglich prodi
ziert werden.
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