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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXI (1976 / Heft 144)

aufrafften. In diesem Zusammenhang muß un- 
bedingt die „Charte d'Athenes" von 1933 zur 
Sprache kommen, weil sie noch immer eine ge- 
wisse Rolle spielt, sei es, das Berufsethos der 
Architekten gebührend herauszustellen, sei es, 
um sich kritisch von den damals ausgesproche- 
nen Kernsätzen abzusetzen. 
Schon fünf Jahre vor dem Athener Kongreß 
war es zur Gründung des CIAM (Congres In- 
ternationaux d'Architecture Moderne) gekom- 
men. Sein Wirken und insbesondere die Charta 
von Athen sind nicht zuletzt unter dem Aspekt 
zu sehen, daß die Architekten bemüht waren, 
ihre Kompetenz für die großen Aufgaben der 
Zeit nachzuweisen, nachdem sie vorher im Laufe 
der Geschichte allmählich in die Ecke gedrängt 
worden waren. Weil auf allen Gebieten in zu- 
nehmendem Maße „die große ZahI" zum erst- 
rangigen Problem wurde, so daß es galt, Mas- 
sen auf sinnvolle Weise zu organisieren, rückten 
in der Architektur die Fragen des Städtebaus 
in den Vordergrund. Und hier versuchten die 
Architekten unter Beweis zu stellen, daß sie zu 
einer ganzheitlichen Schau imstande sind. Sie 
waren entschlossen, die Architektur auf die Höhe 
der Zeit zu bringen, sie aus den Krusten des 
Akademisrnus zu befreien. Schon in einer Er- 
klärung des ersten Kongresses hieß es, daß die 
Architekten sich ganz auf die Entwicklungsrich- 
tung ihrer Epoche einstellen miißten. „lhre Ar- 
beiten müssen den Geist ihrer Zeit zum Aus- 
druck bringen. Deshalb lehnen sie kategorisch 
ab, sich in ihrer Arbeitsmethode der Prinzipien 
zu bedienen, die die Gesellschaft der Vergan- 
genheit bewegten. Sie erklären vielmehr, daß 
eine neue Architekturauffassung entstehen muß, 
die den geistigen, intellektuellen und materiel- 
Ien Anforderungen des heutigen Lebens ent- 
spricht. Sie geben sich Rechenschaft über die 
grundlegenden Veränderungen, die das Maschi- 
nenzeitalter in der sozialen Struktur hervorgeru- 
fen hat und erkennen, daß die Veränderungen 
des Lebens und der Ordnung der Gesellschaft 
notwendigerweise eine entsprechende Verände- 
rung der architektonischen Gestaltung zur Folge 
haben muß." Die Charta von Athen konzentrierte 
sich in erster Linie auf die Frage, welche Ge- 
stalt die Stadt der Zunkunft haben sollte. Die 
Grundsätze, deren geistiger Vater Le Corbusier 
war, stellten in gutem Glauben den Menschen 
in den Mittelpunkt der Überlegungen: „Die Ar- 
chitektur muß sich dem Individuum zuwenden 
und für dessen Glück die Einrichtungen schaffen, 
die den Rahmen aller seiner Lebensäußerungen 
bilden und diese gleichzeitig erleichtern werden. 
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Le Carbusier, „Die 3 menschlichen Siedlungs- 
formen": 1945 
I. Die landwirtschaftliche Nutzungseinheit 
2. Die lineare Industriestadt 
3. Die radio-konzentrische Metropole des Aus- 
tausches 
Le Carbusier, Das Kapitol von Chandigarh, 196i. 
Vorhalle des Parlamentsgeböudes 
Wer könnte die notwendigen Maßnahmen tref 
fen, wenn nicht der Architekt, der die vollkam 
mene Kenntnis vom Menschen besitzt...?" Hie 
ist es wohl zu einer maßlosen Überschätzung 
der Möglichkeiten eines ganzen Berufsstande 
gekommen. Die Äußerung ist nur als Ausdrucl 
jener Sehnsucht nach der Zeit zu erklären, al 
der Architekt wie Andrea Palladio noch im Be 
sitz aller Vollmachten war. 
Aber vereinzelt ist es in der Folge gerade L- 
Corbusier tatsächlich gelungen, große visianäri 
Konzepte zu verwirklichen. Sein Vorschlag wai 
daß die moderne Stadt aus Wohnhochhäuser 
bestehen sollte, mit großzügigen Parkfläche 
dazwischen. Seine Gartenstadt kann große Be 
völkerungsmassen aufnehmen, und sie ist so o1 
ganisiert, daß die einzelnen Funktionen (Woh 
nen, Arbeiten, Erholen und Verkehr) streng von 
einander getrennt sind. 
Warum hat das Modell eine böse Niederlag 
erlitten? Warum gilt Le Carbusier, noch nicf 
30 Jahre nach seinen Plänen für die Zukunft: 
stadt, als einer der Hauptschuldigen für da 
Chaos im modernen Städtebau? Vielleicht sollt 
man ihn in Schutz nehmen vor seinen zahlre 
chen Nachahmern, die sein Modell vielfach au 
unzulänglichste Weise kopierten. Aber da 
Hauptmanko seiner Gartenstadt scheint doc 
mit der Überheblichkeit zusammenzuhänger 
wonach der Architekt die vollkommenste Kenn' 
nis vom Menschen besitze. Die Gartenstadt i: 
wohl funktional durchdacht, aber sie läßt kein 
Urbanität entstehen. Dazu gehören oftenbc 
nach menschlichen Maßstäben differenziert 
Strukturen, die dem Bewohner Anhaltspunkte ge 
ben zur „Heimatbildung", ihm eine Chance eir 
räumen, eine Beziehung zu seinem Wohnort au' 
zubauen. Und zu diesem privaten Raum müsse: 
ihm vorgeordnet, eine Reihe öffentlicher Korr 
munikationsräume kommen, die erst städtische 
Leben ermöglichen. 
Sind wir also entlassen in die völlige Ratlasig 
keit? Die Überlegungen haben vielleicht eine 
gezeigt; Das progressive Konzept eines Arch 
tekten ist wertlos, wenn es von den Benützer: 
die möglicherweise auf einer ganz anderen B: 
wußtseinsstufe stehen, nicht ausgefüllt werde 
kann. Wir sind in der Entwicklung an eine: 
Funkt angelangt, da zwischen puristischem Funl 
tionalismus auf der einen Seite und hemmungi 
losem Individualismus ein produktiver Ausgleir 
gefunden werden muß. Damit sind aber nicI 
verwaschene Halblösungen gemeint, wie sie vc 
architektonischen Kleingeistern tagtäglich prodi 
ziert werden. 
 
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