Die Völker am Rande der Meere, in ganz beson-
derem Maße rings um das Mittelmeer, blickten
schon sehr früh mit besonderer Aufmerksamkeit
auf die Muscheln, die nach starkem Wellengang
oder gar einem Seesturm am Strande umher-
lagen - die steinharten Hüllen von Weichtieren,
von geheimnisvollen Kröften geformt. Von einem
transzendeten Wesen gesteuert, Ausdruck
eines in unendlich vielen Gestaltungsmöglichkei-
ten wirkenden Schöpfungswollens. Hatte man
gelernt, daß auch sie ein wertvolles Nahrungs-
mittel bis zum heutigen Tage geblieben sind,
waren für iene alten Kulturen die Muscheln
Werke der Meergottheiten.
Meermuscheln wurden schon früh auch religiöses
Symbol;
In lndien ist heute noch die höchst seltene, nach
links gewundene „Turbinella pyrum" ein heiliges
Attribut des Gottes Vishnu. ln Gold gefaßt und
mit Edelsteinen verziert, war sie noch vor kurzem
ein Ehrenzeichen des Radschas von Travan-
core und erschien noch im vergangenen Jahr-
hundert auf deren Münzen. Das republikanische
lnden hat diese Seeschnecke unter seinen Schutz
genommen, und auch derzeit ist die Ausfuhr
auch nur eines einzigen Exemplares verboten
und sind diesbezügliche Versuche strafbar -
was zur Folge hat, daß diese heilige Schale zu
den gesuchtesten Sammelobiekten gehört.
Hellenische Mythographen ließen Aphrodite, die
„Schaumgeborene", einer offenen „Cardium"-
Muschel entsteigen, bis Botticelli sie auf einer
halben „Pecten" wie in einem Kahn stehend
dem Strand von Paphos auf Zypern sich nähernd
darstellte. Man verweile kurz vor den Ständen
des Fischmarktes der kleineren Hafenstädte im
südlichen und östlichen Mittelmeer, wo neben
grobschlöchtigen Austern und anderen unansehn-
licheren Muscheln auch fein ziselierte und leuch-
tend gebünderte „Cardium venus" nebst anderen
„Frutti di mare" auf Feinschmecker warten und
lasse sich eine Venusmuschel öffnen, um mit
unerwartetem leisen Schauer die uralten Beza-
genheiten auf die Liebesgöttin zu erkennen.
Muschelschalen haben in vergangenen Erdzeit-
altern zur Bildung der Sedimentgesteine in möch-
tigen Schichten beigetragen. Gesteine, mit denen
sich auch der Kunsthistoriker gelegentlich kan-
frontiert sieht, wenn er über marmorne Fußböden
wandelt, an den Blöcken von Bauwerken ver-
weilt: Ammonitenkalke, Muschelkalke zeigen ihre
Einschlüsse - so beispielsweise auf den Straßen
und Plätzen und in den Kirchen von Verona.
Über tieferen Meeresboden streifende Netze
brachten und bringen noch heute auch die
Riesen unter den Schnecken des Mittelmeeres
zutage: die elegant gezeichnete „Tritan nodi-
fer" und die bauchige „Dolium" in leicht vari-
ierenden Arten. Von der klassischen Tritonmu-
schel sind Exemplare bis zu einem halben Meter
Länge gefischt worden. Während die plumpere
„Dolium" van den Künstlern Griechenlands und
Roms so gut wie unbeachtet blieb, trat die Tri-
tonmuschel einen wahren Triumphzug an. Den
Auftakt gaben die Fischer: man schlug die Spit-
ze der Spirale weg, um das Gehäuse als Signal-
horn zu benutzen, dessen tiefe Tonlagen leicht
über die Wasserflöche sich ausbreiten und auch
heute noch, bei Nacht, gehört werden können.
Mit einer Stütze versehen, dienen sie in einfachen
Haushalten als Wasser- oder Weinkrüge: ein
0,40 Meter langer „Tritan" in der Sammlung des
Verfassers enthält genau eineinhalb Liter; bei
völlig ausgewachsenen Exemplaren erreicht das
Fassungsvermögen leicht zweieinhalb Liter, und
„Dolium" steht nur wenig nach. Für die Künstler
waren die Triumphzüge der Nereiden und Trito-
nen nur mit Muscheltrompeten denkbar, womit
sie das Rauschen der Wellen begleiteten; Wand-
gemölde, Mosaikfußböden, gelegentliche Plasti-
ken überraschen immer wieder durch den Reich-
tum der Einfälle.
Die Kunst des Barock konnte sich nicht genug tun,
die Meermuscheln immer wieder als reiches Mo-
tiv zu verwenden - allen voran Gianlorenzo Ber-
nini an den rauschenden monumentalen Brun-
nen Roms. Sicherlich wurde diese Kunstströmung
angeregt von den ersten Importen aus den
Meeren des Fernen Ostens, denen sich auch die
Kunst- und Wunderkammern königlicher und fürst-
licher Sammler erwartungsvoll öffneten. Aber
auch auf diesem Gebiet war die Antike voraus-
gegangen; immer wieder fördern die Grabungen
in Pompeji große Exemplare von „Triton", „Doli-
um", „Cassis" und „Cypraea" zusammen mit den
immer schönen und auch beim Tischgedeck prak-
tischen „Pecten iacabaeus" zutage. Nach üppi-
gen Muschelmahlzeiten gab der Hausherr gele-
gentlich Weisung, die Schalen nicht zum Abfall
zu werfen, sondern sie gereinigt einem Kunst-
handwerker zu übergeben, der gerade beschäf-
tigt war, im Garten des Freilufttrikliniums eine
bunte Brunnennische aufzubauen und neben
den blauen und grünen Glasmosaiken auch die
Muscheln als Form- und Farbkontrast zu ver-
werten.
Auch diesen Gedanken hat später die italienische
Renaissance wieder aufgegriffen, als aus dem
Roten Meer und von den ostarabischen Küsten
Perlmutterschalen in größeren Mengen auf dem
Kuriositätenmarkt erschienen: das Gewölbe des
Venus-Kabinetts im Palazzo degli Uffizi in Flo-
renz wurde mit diesen hellschimmernden Schalen
verkleidet; an der „Fontana dell'Organo" in
der Villa d'Este zu Tivoli leuchten in der Nach-
mittagssonne Perlmutterrosetten. Im „Brunnen-
hof" des Residenzpalastes zu München fand diese
naive Freude an den seltsamen Naturgebilden
ein nardisches Echo, das lange nachklingen
sollte'.
Die Pilgerscharen des Mittelalters ließen durch
besondere Abzeichen das Ziel ihrer Heilsfahrt
erkennen: an den Sammelpunkten für die Wan-
derung an die Grabstötte des heiligen Apostels
Jacobus zu Compostela in Galicien, im fernsten
Nordwesten Spaniens, erwarben die Gläubigen
den „Pecten iacobaeus": die fast flache obere
Schale wurde der Hutkrempe aufgenöht, die ein-
gewölbte tiefe Unterseite so am Pilgermantel
befestigt, daß sie in iedem Moment als Schöpf-
kelle an einem Brunnen benutzt werden konnte.
Diese Kleinkunstwerke der Natur haben iüngst
Anmerkungen 1-3
'Diese Made griff zunächst nach Frankreich über: ein
Pavillon im Sthlaßgarten van Rambauillet wurde im Auf!
mm des an: d, Pentievre im seine Sdiwiegertadiier
Princesse de Larnballe errichtet: alle Ardvitekturteile
sind mit Meerrnuscheln inkrustieri, während bunte Kiesel-
steine die Fußböden beleben. ln England ließen weit-
gereisie Lords im 1B. Jahrhundert ihrer Freude am
exotischen Seegetier die Zügel gehen. Sieben Jahre
brauchten die zweite Duchess af Richmand und ihre
sieben Töchter, um einen Pavillon in Goadwaod Park,
Sussex, sehr geschmackvoll mit tausenden van Muscheln
zu lieren, wabei der Familienvater aft mithalf. Eine un-
gewöhnlich schöne „Shell-grattoe" in Oatland's Park in
ondan wurde leider zu Anfang dieses Jahrhunderts ab-
gebradien. ln dieser „Shell-grattae" veranstaltete lord
Wellinglon für die Milsiegar in der Sdilachl bei Waterloo
einen großartigen Empfang, allen voran dem Zaren von
Rußland. Diese Mode war in England nadi zu Anfang des
19. Jahrhunderts weit verbreitet. R. Cameron, ap. cii. S.
16-19, Abb. S, 20.
3 P. Pinari, The shape af shells, „La Canchiglia" 7, 1975,
Nr. 70179 und 80151, mit zahl eichen sdiematisdien
Zeichnungen. - Der in dieser Hinsicht angeregte Leser
betrachte einmal in einem naturwissensdlaftlidiun Museum
oder bei einem befreundeten Sammler die Muschel der
Meerschnecka „Architectonica perspecliva" von der Kehr-
seite her unter einem Vergrößerungsglas: die fein gerie-
felta Hahlspirale scheint in weiter Ferne in einem Null-
punkt sich zu verlieren - daher der interessante Name.
Wiederum mit dem Glase sehe er sich die Sdiale des
„Clanculus pharaanis" an: die wie von einem etruski-
schon Goldschmied grunulierte Oberfläche zeigt wie