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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXII (1977 / Heft 154 und 155)

 
setzungen gegeben, nicht nur in formaler Hin- 
sicht, sondern darüber hinaus im geistigen An- 
spruch. Seiner Meinung nach zeigten Farbfigura- 
tionen eine Bewegung und Dynamik an, die im 
Licht wurzeln, „welches die einzige Wirklichkeit 
ist"". Lassen sich demnach die Farbkreise und 
-rhythmen als sekundäre Epiphänomene eines 
ursprünglichen lichthaften Impulses verstehen,als 
simultane Bewegungsfelder, die sich aus einem 
Urgesetz entwickelt haben, so sind die zwei 
tantrischen Bilder in gleicher Weise farbliche 
Artikulationen, ia Illustrationen eines kosmischen 
Spiels der Evolution. Auch hier besteht die An- 
sicht, daß der ursprüngliche lmpuls lichthafter 
Natur ist. 
So überzeugend die Analogien in formaler und, 
in Grenzen, in ikonographischer Sicht auch sein 
mögen, so falsch wäre es, hier wirklich Parallelen 
sehen zu wollen. Die Unterschiede liegen ge- 
nauso im Formalen wie im Bedeutungsmäßigen. 
Während die tantrischen Bilder die Entwicklung 
des ganzen Kosmos mit festgelegten Farbkreisen 
illustrieren und sich die Bedeutung aus iedem 
Detail, jedenfalls für den Leser des dazugehöri- 
gen Textes, ergeben, hat es für Delaunay keine 
ändernde Rolle zuweisen. Es geht bei diesen 
Versuchen, vereinfacht ausgedrückt, nicht nur 
darum, festzustellen, ob der Kosmos sich seit 
einem hypothetischen Urknall ausdehnt, oder ob 
die Massen stetig entstehen, sondern um die Ein- 
sicht, daß ieglicher Deutungsansatz notwendiger- 
weise das Gegebene interpretiert. Darüber hin- 
aus hat die mit der Vorstellung eines vierdimen- 
sionalen Raum-Zeit-Kontinuums zusammenhän- 
gende Relativierung meßbarer Größen, d. h. der 
Ausdehnung von Körpern und Geschwindigkei- 
ten, eine ie nach Bewußtseinslage variierende 
Ansicht des Kosmos mit sich gebracht. Da hierin 
neben der ästhetischen Ähnlichkeit eine kosmo- 
logische auftritt, möchte ich kurz darauf ein- 
gehen. 
Das Wichtigste der tantrischen Sicht von der 
kosmalogischen Entwicklung liegt in der Einbe- 
ziehung des Bewußtseins. Dieses wandelt sich in 
andere Realitätsbereiche, wobei auch der Cha- 
rakter der Welt sich ändert. Bei anderer Be- 
wußtseinslage schaut die Wirklichkeit anders aus. 
ln ähnlich scheinender Weise wandelt sich die 
Sicht der Welt, wenn man in die Problematik 
vierdimensionaler Verhältnisse einsteigt. Selten 
 
zi Phasen des Srishti (Weltentstehung), West- 
ien (18. Jh.?). 
. wenigen Urelementen (Farbkreisen) entfal- 
sich in mehreren Schritten der Kosmos. 
auna s vergleichbare Farbkreise sind ikono- 
phisc offen und nicht eindeutig determiniert 
nuskript, Nepal 18. Jh., Gouache. 
meditativen Pranapratishta lBelebung) wer- 
t Gottheiten in Yantras gebannt. Hier sind 
Göttinen Chinnamasta und Dhumawati in 
etisch beeinflußten) Flammenaureolen über 
t (hinduistischen) Yantras abgebildet 
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farblichen Gesetze im Sinne einer ikonographi- 
schen Einschränkung gegeben. Die Bedeutung 
eines Bildes folgt assoziativ aus der künstleri- 
schen Darstellung. Er hat die Möglichkeit, völlig 
Verschiedenes in formal ähnlicher Weise, eben 
in seinem „Personalstil", darzustellen. Der Illu- 
strator des tantrischen Manuskriptes hat keine 
Freiheitsgrade in der formalen Durchbildung sei- 
nes Themas. Eine andere Form, eine auch nur 
geringfügige Abweichung, verwirrt und verfälscht 
den „Text" im weitesten Sinn. 
Die heutige Kosmologie ist wie eh und ie von 
Spekulationen abhängig, die auf verschieden- 
ste Weisen mit den Beobachtungen operieren. 
Während die Theorien von der Entstehung des 
Universums auch heute meist von der Möglich- 
keit ausgehen, zu deuten, wie sich das Weltall 
entfaltet, unabhängig vom ieweiligen Betrachter, 
gibt es eine Reihe erkenntnistheoretischer An- 
sätze, die dern Subjekt eine wirklichkeitsver- 
hat ein Naturwissenschaftler das so konsequent 
formuliert wie Jean Charon": „Der Raum ist 
nicht absolut. Wir beobachten von der Erde aus, 
daß Andromeda zwei Millionen Lichtiahre von 
uns entfernt ist. Aber diese Distanz ist nicht 
absolut. Sie hängt von der Geschwindigkeit des 
Beobachters ab, der die Messung in bezug auf 
die Erde und Andromeda vornimmt. Und wenn 
ich mit zwei Dritteln der Lichtgeschwindigkeit auf 
Andromeda zufahre, wird diese Entfernung um 
ein Viertel verkürzt. Erreiche ich dann die Grenze 
der Beschleunigung und bewege mich auf An- 
dromeda mit voller Lichtgeschwindigkeit zu, so 
wird die Entfernung zwischen Erde und Andro- 
meda gleich Null." Dasselbe gilt konsequenter- 
weise für iede Distanz, d. h. bei der für dieses 
Gedankenexperiment hypothetisch erreichbaren 
Lichtgeschwindigkeit schrumpft das Universum 
auf einen Punkt. 
Die Hypothese, daß das ganze Universum für 
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