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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXII (1977 / Heft 154 und 155)

große Ausstellungsunternehmungen, die un- 
ngig voneinander konzipiert und verwirk- 
worden sind, lassen sich nichtsdestoweniger 
n den gleichen Zusammenhang gehörig 
ssen: die Schau des Europarats (seine 15.) 
estberlin, die um „Tendenzen der zwanzi- 
Jahre" bemüht ist, und [ene andere ist 
ter, Westfalen, welche den Ehrgeiz hat, 
Entwicklung der abstrakten Skulptur" dar- 
llen, wobei ein Akzent auf den sechziger 
iebziger Jahren und insonderheit auch der 
üngsten Gegenwart liegt. i 
bei Marcel Duchamp (1887-1968) begann 
bei Claes Oldenburg (geb. 1929) draus 
e; was Wladimir Tatlin (1885-1953) ins 
t rief und bei Carl Andre (geb. 1935), ich 
ie nicht, daß man sagen kann; kulminiert - 
ztwa ist der hier gemeinte Zusammenhang. 
auch: Von den rebellischen Dadaisten und 
alisten zu Pop, von den Konstruktivisten 
Neusachlichen zu Minimal-art - läuft die 
, in deren Beschreibung die beiden Aus- 
ngen einander unterstützen, wiewohl keiner 
nitiatoren das ie beabsichtigt hatte. 
ies van der Rohes Bau der Neuen Berliner 
tnalgalerie (1968), welcher das Alterswerk 
s Vorkämpfers funktionalistischer Architek- 
rönt, ist die Abteilung „Vom Konstruktivis- 
zur konkreten Kunst" (900 Exponate) der 
Europäischen Kunstausstellung" unterge- 
tt. Unweit der Eingangstür in den weiten 
tiefen Raum unmittelbar hinter der um- 
lichen gläsernen Vorderfront erhebt sich, ge- 
' aus Holz und Metall, die fünf Meter hohe 
ibildung des Modells von Tatlins „Monu- 
für die lll. lnternationale" (Abb. 1). 1920 
1er Feier des 3. Komintern-Kongresses vor- 
gehend aufgestellt, wurde es nie realisiert 
ist schließlich, wie so vieles von des Künst- 
Schaffen, der Vernichtung anheimgefallen, 
zrgessenheit geraten, verlorengegangen. Die 
Instruktion erfolgte 1968 in Schweden auf 
id von Fotos und Beschreibungen. 
r Anregung Lenins folgend, Denkmäler für 
lutionäre Geister zu schaffen (und, wie an- 
Künstler, von öffentlicher Seite beauftragt) 
t Tatlin sich an die Arbeit gemacht. Nur 
es ihm dabei keineswegs um die Verherr- 
ng der einen oder anderen hervorragenden 
Snlichkeit - die Philosophen Belinski] und 
arnyschewskii, der Komponist Mussorgsky, 
Maler Courbet und Cezanne standen auf 
 
der Vorschlagliste -, sondern um die Sache der 
Revolution selber. Ihr allein wollte er dienen, 
ihr sollte das Werk Symbol sein. Als „eine Ver- 
bindung rein künstlischer Formen (Malerei, Skulp- 
tur und Architektur) zu einem nützlichen Zweck" 
hat Tatlin seine großartige Vision beschrieben 
(dies und das folgende nach russischen Quellen 
bei Camilla Gray, Die russische Avantgarde 
der modernen Kunst 1863-1922, DuMont-Schau- 
berg, Köln 1963, Seite 205 f.) 
In der doppelten Höhe des Empire State Buil- 
dings (rund 800 Meter) sollte das Monument sich 
als spiralförmiges Metallgerüst in den Himmel 
schrauben, mit drei riesigen gläsernen Formen 
im Innern: einem Zylinder, der sich einmal im 
Jahr, einem Kegel, der sich einmal im Monat, 
und einem Würfel, der sich einmal im Tag um die 
eigene Achse drehen würde. Ein statisches Bau- 
werk könnedie Idee der revolutionären Bewegung 
nicht zum Ausdruck bringen. „Am allerwenigsten 
sollt Ihr in diesem Gebäude stehen oder sitzen", 
verlautete der Künstler, „Ihr müßt unwillkürlich 
auf- und niedergezogen, ganz mitgerissen wer- 
den; vor Euch werden die kurzen und treffenden 
Worte eines Agitators ertönen; die neuesten 
Nachrichten, Dekrete, Beschlüsse und letzten Er- 
findungen werden angekündigt werden 
Schöpfung, nur Schöpfung!" 
Der Zylinder war für Vorträge, Konferenzen und 
Kongresse bestimmt, der Kegel den ausführen- 
den Organen vorbehalten, der Würfel dem In- 
formationszentrum mit Telefon, Telegraf und 
Rundfunk. Von dort aus sollten Nachrichten, Ma- 
nifeste und Proklamationen verbreitet werden. 
Nachts wollte man die letzten Nachrichten auf 
eine Freilicht-Filmleinwand proiizieren; bei be- 
wölktem Himmel schließlich sollte ein spezieller 
Proiektionsapparat die Worte gegen die Wolken 
werfen und die Losung des Tages verkünden 
(Gray, Seite 206). 
Aus einer in jener Zeit für viele zündenden, den 
ganzen Menschen packenden politischen Idee 
wurde hier das wohl früheste und bis heute ie- 
denfalls bedeutendste Konzept moderner kineti- 
scher Kunst geboren. Wie Tatlin denn auch als 
Erfinder des malerisch-plastischen Konstruktivis- 
mus gilt. Eine universale Begabung, hat er, der 
als Maler und Graphiker sein Brot verdiente, die 
Gattung „Utopische Architektur" begründet. Aber 
auch als „Materialplostiker", wie man heute sa- 
gen würde, und „angewandter" Künstler wirkte 
er, ferner als Lehrer an Instituten für Sach- und 
künstlerische Kultur in Moskau, Petrograd, Kiew 
(an diesem als Direktor der Abteilung für Thea- 
terfilm), dann lange Zeit als Bühnenbildner 
(1933-1952) und so nebenbei gelegentlich auch 
als Konstrukteur und Erfinder. Um 1930 - rund 
40 Jahre vor Panamarenkol - war Tatlin mit 
der Arbeit an einer durch Menschenkraft betrie- 
benen Flugmaschine beschäftigt („LetatIin", Abb. 
2). 1924 baute er einen Ofen. Eben damals nähte 
er einen Anzug - Jahrzehnte, ehe der erste mit 
dem Namen Joseph Beuys verbundene Filzanzug 
entstand. 
Im Jahre 1913 war Tatlin bei Pablo Picasso in 
Paris zu Besuch. Des Gastgebers Reliefs, die 
einen gegenständlichen Ausgangspunkt immer 
noch erkennen ließen, haben den Russen tief 
beeindruckt. Tatlin ist der Begründer des Kon- 
struktivismus (auch der Name stammt von ihm, 
wie eine Überlieferung behauptet) in der bilden- 
den Kunst insofern, als er in den sehr bald 
danach entstandenen eigenen „Eckreliefs" iegli- 
che gegenständliche Anspielung vermied, mit rein 
geometrischen Formen „konstruierte" und auch 
den Raum miteinbezog. Auf diesen Pfaden folg- 
ten ihm oder arbeiteten nahezu gleichzeitig mit 
ihm Naum Gabo, Antoine Pevsner, Alexander 
Rodtschenko, wenig später auch EI Lissitzky und 
andere. Das Material waren Holz und Metall, 
Glas, Gips, Karton, Farbe, Teer. Kubismus und 
Futurismus hatten in Rußland bereits um 1910 
eine Heimstätte gefunden. Das erste, mehr von 
Monets „Heuhaufen" inspirierte abstrakte, aber 
keineswegs konstruktivistische Aquarell malte 
Wassily Kandinsky im Jahre 1910 in München. 
Die geometrisch-abstrakte Kunst in Malerei und 
Plastik ging von Kubismus und Futurismus aus. 
Den internationalen Charakter der Bewegung, 
die zu Konstruktivismus und konkreter Kunst 
führte, schildert die von Direktor Dieter Honisch 
und seiner Assistentin Ursula Prinz in der Na- 
tionalgalerie inszenierte Ausstellung einnehmend 
und klar. Werke, welche gerade erst an die Tür 
des neuen Bereichs klopften - so das schöne 
Picasso-Bild „Flaschen und Glas" (1911l12), Ro- 
bert Delaunays „Kreisformen, Sonne" (1912) und 
der Natolie Gontscharowa „Katzen" (1913) -, 
stehen solchen gegenüber, die bereits voll in 
ihn eintreten. Überraschend weit stößt der Tsche- 
che Frantisek Kupka mit seinen „Vertikalen Flä- 
chen" von 1912 vor. 
Der in den späteren Jahren geradezu asketisch 
strenge, glatte Piet Mondrian hat sich noch nicht 
recht entschieden; seine „Komposition in Farben 
und Linien" von 1913 ist weich und in nuancierter 
Weise gemalt (Abb. 3). Das berühmte „Schwarze 
Quadrat auf weißem Grund" von Kasimir Male- 
witsch aus dem gleichen Jahr fehlt. Wie Tatlin 
und andere Künstler aus der imponierenden 
Schar der Russen, wird Malewitsch durch Weirke 
repräsentiert, die ab 1914115 entstanden. 
1917 begann die holländische de-Stili-Bewegung 
mit Theo Doesburg, J. P. Oud, Piet Mondrian und 
anderen. 1918 proklamierte der Schweizer Le 
Corbusier zusammen mit dem Franzosen Amedee 
Ozenfant das puristische Manifest „Nach dem 
Kubismus". 1919 hat Walter Gropius das deut- 
sche „Bauhaus" begründet, welchem der Ungar 
Laszlo MohoIy-Nagy 1923 die entscheidende 
Wendung zum Konstruktivismus gab (Abb. 4, 
„Brücken", 1920). Allen diesen Strömungen war - 
wie noch entschiedener, unmittelbar politischer 
dem Konstruktivismus oder „Suprematismus" 
(nach Malewitsch) der Russen - ein gerüttelt Maß 
von sozialer Utopie eigen. Was das Ästhetische 
anlangt, so lag den Künstlern am symbolischen 
Gebrauch technoider, mathematisch-geometri- 
scher, „reiner" Formen und einer elementaren 
Farbskala. 
Alle hier angeführten Bewegungen zeigten sich 
an „funktionolistischem", „neusachlichem", 
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