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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXIII (1978 / Heft 160 und 161)

und die Mehrzweckhaftigkeit der Konzeption und 
Einrichtung. 
Für die reichliche Anbringung von Verzierungen 
wurde jeder nur mögliche Anlaß gesucht: von den 
sockelartigen Stegen und den darauf gestellten 
zoomorphen Gestellen mit Körbchen, über die 
Beine mit ihren Basen, mit den in die Kannelüren ge- 
legten Zierstäben und den Kapitellen, bis zum 
Schreibkasten mit seiner Fülle verschiedenartigen 
Schmucks - den Bronzebeschlägen, -zierleisten 
und -plaketten. Solcher Aufwand war vielverspre- 
chend. Er ließ bei der Innenausstattung zumindest 
ein Äquivalent, wenn nicht noch eine Steigerung 
erwarten. Denn seit den Kabinettschränken des Ma- 
nierismus und des Frühbarock waren die preziösen 
Kasten- und Schreibmöbel daraufhin angelegt, den 
Besitzer beim Öffnen in den Genuß eines Überra- 
schungseffekts zu bringen. Daß dieses Ziel erreicht 
wurde. dafür garantierte die ausgeklügelte Mecha- 
nik, mit deren Hilfe das Möbel für verschiedene 
Zwecke brauchbar gemacht werden konnte, zu- 
sammen mit den zierlich ausgeführten Utensilien, 
mit denen es versehen war. Von all den Köstlichkei- 
ten geben uns freilich die Photographien und die 
Beschreibung auf der alten Karteikarte nur eine 
blasse Vorstellung, denn wiederum war mit kostba- 
rem Material, wie vergoldeter Bronze, Email und 
Wedgewood-Porzellan. nicht gespart worden. 
Ein Möbel mit einem solchen dekorativen und 
zweckbestimmten Gesamtkonzept steht noch völlig 
auf dem Boden der handwerklichen Tradition des 
18. Jahrhunderts und der von ihr geprägten Ebeni- 
sterie. die in den Meisterleistungen des Ancien re- 
gime ihre höchste Erfüllung fand. Ganz selbstver- 
ständlich mußte ein Handwerker von der Begabung 
und den Fähigkeiten eines Benedikt Holl unter dem 
Einfluß dieses Vorbildes stehen. schon gar, wenn er 
nach seinem damals bereits recht vorgeschrittenen 
Alter von 44 bzw. 46 Jahren Gelegenheit genug ge- 
habt haben konnte, um ausreichende Erfahrungen 
zu sammeln. Sie wurden durch sein ganzes Leben 
für seine Arbeitsweise richtungweisend. Das zeigt 
sich bei dem Schreibtisch von 1799 und nicht weni- 
gerbei dem Karlsluster Möbel (Abb. 3), das wir in der 
Reihe der signierten Arbeiten Holls an die zweite 
Stelle setzen wollen. 
Zur Begründung dieser Reihenfolge können wir uns 
auf eine Schulzeichnung (Abb. 4) von Gottlieb Au- 
gust Pohle berufen, die das Datum vom 5. Oktober 
1807 trägt"; und zu einem ansehnlichen Konvolut 
derartiger "Risse" zählt. das in der Kunstblätter- 
sammlung des Österreichischen Museumsverwahrt 
wird. Die Übereinstimmung der Zeichnung mit dem 
ausgeführten Möbel ist eine so weitgehende. daß sie 
auch für die Datierung des Schreibtisches den Aus- 
schlag gibt. Er kann nur um die gleiche Zeit, im er- 
sten Dezennium des Jahrhunderts, entstanden sein. 
weshalb als orientierende Zeitmarke eine Datieru ng 
"um 1805-1810w in Betracht zu ziehen wäre und 
keinesfalls später. Dagegen würde neben derortho- 
gonalen Strenge des Aufbaus auch das verwendete 
Material sprechen. Eschenholz ist eine Sorte. die im 
frühen franziszeischen Stil. um 1800, gerne für Mö- 
bel von Distinktion gebrauchtwurde. Als Beispiel sei 
auf das im Österreichischen Museum befindliche 
Schreibpult von Johann Fleimann venuiesen, neben 
dessen Signatur auch das Datum 1802 geschrieben 
steht". Später wurde das Eschenholz vorn Maha- 
goni verdrängt und trat erst wieder in den späten 
zwanziger Jahren stärker hervor. Es wäre undenk- 
bar. den Karlsluster Schreibtisch so spät anzusetzen 
(zum "franziszeischen Stil" siehe Anm. 9h, j-l). 
Es muß dieser Möbeltyp den maßgeblichen Wiener 
Fachkreisen so geläufig gewesen sein, daß erwegen 
der Präzisionsarbeit, die seine Herstellung verlang- 
te. als Schulbeispiel ausgewählt wurde. Lag es da 
nicht nahe. daß ein Meister. der sich etwas zutraute, 
diese Herausforderung annahm und sich auf die An- 
fertigung dieser eleganten Möbel verlegte? 
R9 
Natürlich haben das französische und das englische 
Vorbild bei der Formgebung in entscheidendem 
Maße Pate gestanden. Aber das erstere weit mehr als 
das letztere. Um bei diesem zu beginnen, so ist ei- 
gentlich bloß die waagrechte Tonne des Zylinder- 
deckels englischer Herkunft (Abb. 6). Aber um wie- 
viel eleganter und wohlproportionierter ist die Wie- 
ner Lösung als jene, die Sheratons Entwurf vor- 
schlägf". Und weshalb? Weil der Wiener Tisch die 
englische Art der Zylinderführung mit den beiden 
altbewährten französischen Typen des sogenann- 
ten ß-Bonheur-du-iour" (siehe Anm.16a). des Da- 
menschreibtisches mit niedrigem Ladenaufsatz, 
und des Arbeitstischchens mit dem kleinen Korb auf 
den geschweiften Stegen in einer so geglückten und 
harmonischen Weise miteinander in Verbindung 
brachte. daß man das Ergebnis ohne Übertreibung 
als vollkommen bezeichnen kann. 
Wir haben es demnach hier mit einem Möbel zu tun, 
bei dem die wichtigsten Komponenten seines Kon- 
zepts bis in den Louis XVl-Stil zurückreichen, somit 
also Formgut des 18. Jahrhunderts sind und nichts 
mit dem Empire zu tun haben. Das gilt es anzumer- 
ken. weil diese stilistischen Zusammenhänge für die 
Wiener Situation (siehe Anm. 9, h) und daher für die 
richtige Einschätzung und Datierung der hiesigen 
Kleinmöbel solcher Art ausschlaggebend sind. 
Ganz anders verhält es sich bei dem Arbeitstisch- 
chen mit Birkenmaserfurnier und Stahlbeschlägen 
(Abb. 12)". Hier dürften wir es mit dem aus Paris im- 
portierten Typus eines hochmodernen Luxusmö- 
bels zu tun haben. das dort im ersten Dezennium des 
Jahrhunderts aufgekommen sein muß. Aber so wie 
der Tisch vor uns steht. war er gewiß nicht von An- 
fang an erdacht und entworfen worden. In einem er- 
sten Stadium war die Kassette mit ihrer reichen in- 
neneinrichtung verschiedenster Bestimmung ein 
Gegenstand für sich. in einer nächsten Entwick- 
lungsphase stellte man die Kassette auf ein passen- 
des Tischchen, das in halber Höhe mit einem einge- 
faßten Ablagefach versehen sein konnte, wie das 
schon im Louis XV und noch mehr im Louis XVI üb- 
lich geworden wer. Erst in einem dritten Schritt wur- 
den beide bis dahin getrennten Teile, also die Kas- 
sette und der Tisch. konsequentenueise zu einer 
Einheit verbunden, wie es das Tischchen im Wiener 
Museum zeigt. Dieser Ablauf muß sich innerhalb 
kürzester Frist ereignet haben, und es wird dabei 
nicht anders als in vielen ähnlichen Fällen gewesen 
sein, daß nämlich alle drei Möglichkeiten auch ne- 
beneinander in Gebrauch sein konnten. 
Diese Schilderung der Evolution des Möbeltyps, wie 
ihn das Arbeitstischchen verkörpert, ist allerdings 
bloß als ein Versuch zu werten. der einzig und allein 
auf der Erfahrung beruht. weil keine einschlägigen 
Literaturstelien ausfindig zu machen waren. Als 
wichtigster Beweis für den vermutlich richtig ge- 
schilderten Hergang sei ein wenig bekanntes. aber 
sehr prominentes Pariser Beispiel des zweiten Ent- 
wicklungsstadiums, also der entscheidenden Zwi- 
schenstufe, angeführt (Abb. 13). Es ist das kostbare 
Toilette-Necesseire mit dem dazugehörigen Tisch- 
chen oder Gueridon, die beide im Jahre 1806 von 
dem bekannten Ebenisten Felix Fiemond für Kaise- 
rin Josephine in das Palais des Tuileries geliefert 
wurden und sich heute im Schloß Malmaison befin- 
den". Sehr bald darauf muß auch das WienerTisch- 
chen angefertigt worden sein. Für die Zeit seiner 
Entstehung gibt es nämlich einen recht verläßlichen 
Terminus ante quem. Ludwig Neustifter hat erst 
kürzlich darauf verwiesen, daß eine der vier Gou- 
achen von Balthasar Wigand. auf der Innenseite des 
Deckels, die Franzensburg in Laxenburg in einem 
nur bis 1809 zutreffenden Bauzustand zeigt". 
Alswichtigste Markierungen und Fixpunkte auf dem 
Weg zu einer richtigen Datierung von Wiener Klein- 
möbeln bieten sich zwei Exemplare dieser Art im 
Österreichischen Museum an: eine dreigeschossige 
Etagere (Abb. 14) und ein kleiner Arbeitstisch 
(Abb. 15). Die Etagere trägt auf der einen S 
wand das Datum MDCCCVII und auf der an 
den Namen BENEDICT". Das Möbel mit Holl ii 
bindung zu bringen. scheint trotz der Nai 
gleichheit nicht vertretbar. Es fehlt die für Hr 
zeichnende Präzision. Beim seitlichen Fiä 
schmuck ist die Binnenzeichnung nicht in Ma 
rie ausgeführt, sondern. nach Art einer lavierti 
derzeichnung, auf das nur im Umriß der Motiv 
gesägte helle Holz aufgetragen. Ein solches 
weichen in eine nicht tischlerische Technik st 
Gegensatz zu Holls hohem Oualitätsstandarc 
schließlich schreibterseinen Vornamen ander 
entscheidender als die Beantwortung dieser 
ist es jedoch. sich die Formgebung eines zeitl 
eindeutig bestimmten Möbels gut einzupräge 
man sich im Vergleichsfalle daran wird halter 
sen. 
Dem zweiten Möbel kommt ähnliche Bedeutu 
weil es mit einer datierten Zeichnung sehr vi 
hende Übereinstimmung zeigt (Abb. 15, 16. 
Man sehe sich die Gestaltung des ganzen St 
systems daraufhin an. verfolge den Verlai 
Schweifung, registriere die Venuendung von 
rechten Sprossen, gedrechselten toskan 
Säulchen und waagrechten Verstrebungen, i 
unterste Stege auf kleinen Kugelfüßen ruhe 
die mäanderartig endenden Auflagen fehlen t 
Tisch im Gegensatz zur Zeichnung den Zwi: 
stücken unterhalb der Säulen eine Raute auf 
ist. fällt nicht ins Gewicht. Ebenso verhält es s 
der abweichenden Form des Korbes; sie istoh 
lang. weil es sich dabei um eine Ergänzung h: 
Denn auch dieses zierliche Möbel hatte nac 
Krieg am Bergungsort schwerste Beschädig 
zu erleiden gehabt; doch fanden sich bis a 
Körbchen alle Bestandteile wieder. 
In Anbetracht derÄhnlichkeit mitderZeichnu 
dem Konvolut des Gottlieb August Pohle, das 
rungen von 1804 bis 1809 aufweist. erschi 
durchaus statthaft, als Entstehungszeit des l 
"um 1810" anzugeben. Man kann mit Recht: 
diesem Fall schon Gesagtes wiederholen, 
doch nahelag, wenn ein Tischler auf den Gec 
kam, ein Modell auszuführen, dessen Zeichn 
Unterricht allgemein geübt worden war. 
lV. 
Und nun zur Probe aufs Exempel. Wenn rr 
diesen zeitlich fixierbaren Beispielen den l 
Tisch mit Marketerie und Tuschmalerei verg 
dann ist nicht einzusehen. weshalb man ih 
späte Datierung gab, die er bisher in der L 
erhielt (Abb. 18. 19)". Sie schwankt ZWlSChl 
1830" und "um 1840". Doch wäre in dieser 
zehnt und kurz darüber hinaus ein solches Ti 
stell längst nicht mehr zeitgemäß gewesen. 
dieStützen ausgedachte System mit seinen S 
fungen und Überschneidungen soll eine as 
ornamentale Figur" ergeben (ähnlich wie t 
Abb. 14 und 16); unabhängig von der Arcl 
und fern von jeder Monumentalität. Das ent 
aber nicht der Gestaltungsweise, wie sie da 
nationale Empire und das vom ihm gepräg 
dermeier bevorzugten. Das deckt sich mit d 
der Schulzeichnungen im Österreichische 
seum, die - obwohl im ersten Dezennium de 
hunderts, also in der Blütezeit des Empire e 
den - nichts damit zu tun haben. Sie vertret 
Auffassung, die auf älteren französischen un 
schen Vorbildern und Anregungen basiert u 
storisch und kulturhistorisch begründet - Vl 
treffendsten als franziszeischer Stil zu bezr 
wäre (siehe Anm. 9. h. j-l). 
Dabei haben wir noch gar nicht die Marke 
Augenschein genommen und nicht nach il' 
deutung gefragt. Alle Flächen des Möbels 
nur das Tischblatt. auch die Zarge und das 
vorderstück, iaselbst die Stützen und Stege
	        
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