Renate Wagner-Rieger
Der Stilpluralismus um 1900
1 Viktor Luntz, Franz von Assisi-Kirche, Jubiläumskirche.
Wien 2, Mexikoplatz, 189571913. Zustand Anfang
20. Jahrhundert noch ohnevierungsturm. (Bildarchiv der
NB L B546)
2 F. V. Krauß und Alexander Graf. Kaiser Jubiläums Stadt-
theater (Volksoper), Wien 9. Wahringer Gurrel. 1898.
(Blldarchiv der NB L 13483)
3 Julius Goldschläger. Wohnhaus Wien 1, Dominikanerba-
stei 20 - Wiesingerstr. 1. 1905 (Foto Fiegl Nr. 907)
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Die Diskussion um den Jugendstil wird auf weite
Strecken von der Überzeugung getragen, daß er um
1900die allein maßgebliche Kunstströmung war, die
in bewußter Abkehr vorn überlebten Historismus
endlich eine neue, eigenschöpierische Kunst her-
vorbrachte und sich vom Zwang der Vergangenheit
freimachen konnte. Die Bezeichnungen ßJugend-
stilw, "Art Nouveauw, "Neue Kunstß sind ganz dazu
angetan. das Ereignis als den Beginn einer neuen
Zeit zu markieren. Man wähnte, jenen v-Grad von
Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem
Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt-
sei es nun ein Mensch, ein Volk oder eine Kultur",
den Nietzsche bewußt zu machen suchte, überwun-
den zu haben. Daneben konnte die Dekadenz. die
Morbidezza und romantische Weltflucht des Fin de
siecle aber nicht verborgen bleiben, und so gesellte
sich zum Topos vom wJungen Stil- am Beginn der
Moderne die Meinung, die etwa Schmalenbach ver-
trat, daß man es mit der Endphase des Historismus
zu tun hätte. In beiden Fällen aber beherrscht das
Bild die Vorstellung von einem geraden, einlinigen
historischen Ablauf, der die volle Breite des künstle-
rischen Geschehens bestimmt.
Daß dies nicht mit der Realität übereinstimmt, zeigt
der Blick auf die Vielfalt architektonischer Möglich-
keiten, die sich in der Wiener Architektur um 1900
als Zeugnis eines vielschichtigen Stilpluralismus
anführen lassen. Der Historismus war damals in
seine Spätphase eingetreten und entfaltete einen
beachtlichen Phantasiereichtum. Dabei bediente er
sich ganz unterschiedlicher ldiome. die aus einer
ganzen Skala historischer Stile abgeleitet waren. In
anderen Worten, die Neu-Stile. die für das 19. Jahr-
hundert so charakteristisch waren, erfuhren eine
beachtliche Vermehrung. im Sakralbereich war die
Neogotik zur Neoromanik geworden, wobei die zur
Kleinteiligkeit neigende Fülle gotischer Formen
größerer Geschlossenheit und Plastizität weichen
mußte. Die zum Kaiserjubiläum 1898 bei der Reichs-
brücke erbaute Kirche ist ein vorzügliches Beispiel
für diesen Prozeß - präsentiert in einem aus der
Bauzeit stammenden Foto mit der noch turmlosen
Chorpartie (Abb. 1). Flomanisierende Formen fan-
den aber auch im Wchnhausbau Eingang - ein Zei-
chen dafür, daß man unabhängig vom Bedeutungs-
gehalt die formalen Qualitäten dieses Stiles zum
Ausdrucksträger eigener künstlerischer Vorstellun-
gen machen wollte. Dies gilt auch für den Burgen-
bau, wo man sich gerne des Prinzips derAgglomera-
tion bediente. indem geschlossene. selbständige
Baukörper aneinandergefügt wurden. so daß sie
sich in jeweils verschiedener Ansicht zu unter-
schiedlichen Bildern formieren. Die Burg Kreuzen-
stein kann als Beispiel dafür angeführt werden.
Das Gegeneinandersetzen vollplastischer Baukör-
per, die Modulation der Oberfläche durch eine sie
erfüllende Spannung war aber nicht allein auf das
romanische Formenvokabular beschränkt, sondern
konnte sich auch in jenen Varianten äußern. die man
als Deutsche Renaissance bezeichnen könnte. Das
Kaiser-Jubiläums-Stadttheater (Volksoper) (Abb. 2).
ebenfalls 1898 begonnen, bietet im ursprünglichen
Zustand mit gerundetem, durch Fassadentürme an-
gereichertem Baukörper und bewegter Dachlinie
ein Pendant zur neoromanischen Kirche. Unschwer
läßt sich an Hand dieser Beispiele zeigen, daß es
nicht die "Neosu, die Flepristinationen vergangener
Stile sind, die den Stil des Baues bestimmen, son-
dern eine gemeinsame Haltung. die sich auch noch
in anderem Gewande äußern kann. Das Haus Domi-
nikanerbastei 20 - Wiesingerstraße 1, von Julius
Goldschläger 1905 erbaut (Abb. 3). arbeitet mit ei-
nem Formenapparat, der sich aus dem Barock her-