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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXIII (1978 / Heft 160 und 161)

Renate Wagner-Rieger 
Der Stilpluralismus um 1900 
1 Viktor Luntz, Franz von Assisi-Kirche, Jubiläumskirche. 
Wien 2, Mexikoplatz, 189571913. Zustand Anfang 
20. Jahrhundert noch ohnevierungsturm. (Bildarchiv der 
NB L B546) 
2 F. V. Krauß und Alexander Graf. Kaiser Jubiläums Stadt- 
theater (Volksoper), Wien 9. Wahringer Gurrel. 1898. 
(Blldarchiv der NB L 13483) 
3 Julius Goldschläger. Wohnhaus Wien 1, Dominikanerba- 
stei 20 - Wiesingerstr. 1. 1905 (Foto Fiegl Nr. 907) 
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Die Diskussion um den Jugendstil wird auf weite 
Strecken von der Überzeugung getragen, daß er um 
1900die allein maßgebliche Kunstströmung war, die 
in bewußter Abkehr vorn überlebten Historismus 
endlich eine neue, eigenschöpierische Kunst her- 
vorbrachte und sich vom Zwang der Vergangenheit 
freimachen konnte. Die Bezeichnungen ßJugend- 
stilw, "Art Nouveauw, "Neue Kunstß sind ganz dazu 
angetan. das Ereignis als den Beginn einer neuen 
Zeit zu markieren. Man wähnte, jenen v-Grad von 
Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem 
Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt- 
sei es nun ein Mensch, ein Volk oder eine Kultur", 
den Nietzsche bewußt zu machen suchte, überwun- 
den zu haben. Daneben konnte die Dekadenz. die 
Morbidezza und romantische Weltflucht des Fin de 
siecle aber nicht verborgen bleiben, und so gesellte 
sich zum Topos vom wJungen Stil- am Beginn der 
Moderne die Meinung, die etwa Schmalenbach ver- 
trat, daß man es mit der Endphase des Historismus 
zu tun hätte. In beiden Fällen aber beherrscht das 
Bild die Vorstellung von einem geraden, einlinigen 
historischen Ablauf, der die volle Breite des künstle- 
rischen Geschehens bestimmt. 
Daß dies nicht mit der Realität übereinstimmt, zeigt 
der Blick auf die Vielfalt architektonischer Möglich- 
keiten, die sich in der Wiener Architektur um 1900 
als Zeugnis eines vielschichtigen Stilpluralismus 
anführen lassen. Der Historismus war damals in 
seine Spätphase eingetreten und entfaltete einen 
beachtlichen Phantasiereichtum. Dabei bediente er 
sich ganz unterschiedlicher ldiome. die aus einer 
ganzen Skala historischer Stile abgeleitet waren. In 
anderen Worten, die Neu-Stile. die für das 19. Jahr- 
hundert so charakteristisch waren, erfuhren eine 
beachtliche Vermehrung. im Sakralbereich war die 
Neogotik zur Neoromanik geworden, wobei die zur 
Kleinteiligkeit neigende Fülle gotischer Formen 
größerer Geschlossenheit und Plastizität weichen 
mußte. Die zum Kaiserjubiläum 1898 bei der Reichs- 
brücke erbaute Kirche ist ein vorzügliches Beispiel 
für diesen Prozeß - präsentiert in einem aus der 
Bauzeit stammenden Foto mit der noch turmlosen 
Chorpartie (Abb. 1). Flomanisierende Formen fan- 
den aber auch im Wchnhausbau Eingang - ein Zei- 
chen dafür, daß man unabhängig vom Bedeutungs- 
gehalt die formalen Qualitäten dieses Stiles zum 
Ausdrucksträger eigener künstlerischer Vorstellun- 
gen machen wollte. Dies gilt auch für den Burgen- 
bau, wo man sich gerne des Prinzips derAgglomera- 
tion bediente. indem geschlossene. selbständige 
Baukörper aneinandergefügt wurden. so daß sie 
sich in jeweils verschiedener Ansicht zu unter- 
schiedlichen Bildern formieren. Die Burg Kreuzen- 
stein kann als Beispiel dafür angeführt werden. 
Das Gegeneinandersetzen vollplastischer Baukör- 
per, die Modulation der Oberfläche durch eine sie 
erfüllende Spannung war aber nicht allein auf das 
romanische Formenvokabular beschränkt, sondern 
konnte sich auch in jenen Varianten äußern. die man 
als Deutsche Renaissance bezeichnen könnte. Das 
Kaiser-Jubiläums-Stadttheater (Volksoper) (Abb. 2). 
ebenfalls 1898 begonnen, bietet im ursprünglichen 
Zustand mit gerundetem, durch Fassadentürme an- 
gereichertem Baukörper und bewegter Dachlinie 
ein Pendant zur neoromanischen Kirche. Unschwer 
läßt sich an Hand dieser Beispiele zeigen, daß es 
nicht die "Neosu, die Flepristinationen vergangener 
Stile sind, die den Stil des Baues bestimmen, son- 
dern eine gemeinsame Haltung. die sich auch noch 
in anderem Gewande äußern kann. Das Haus Domi- 
nikanerbastei 20 - Wiesingerstraße 1, von Julius 
Goldschläger 1905 erbaut (Abb. 3). arbeitet mit ei- 
nem Formenapparat, der sich aus dem Barock her-
	        
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