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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXIV (1979 / Heft 162)

richtig bewußt. Das Werk kann den Bezug auf die 
Umwelt, auf ihre Gesetze dem Betrachter vermit- 
teln (wie im nBogen-i) oder dem Betrachter Bedin- 
gungen zu einem bestimmten Sehverhalten stel- 
len (wie im i-Hügelbogenii). 
In beidem wird die Rolle der Zeit greifbar. 
Zeit und Licht 
Zeit einer Plastik kann genausowenig wie ver- 
gleichbar der Raum die physikalisch-empirische 
i-AuBenzeit-i sein, die Dauer, die die Plastik sein 
wird, schon war oder betrachtet wird. Zeit kann 
auch nicht das sein, was mit der Plastik passiert, 
etwa wenn sie als ganze bewegt wird. 
Zeit muB wie der Raum sich als Eigenschaft der 
Form in der Interpretation erweisen. Zeit kann als 
Parameter jeder Veränderung damit auch Ver- 
ständniswandlungen meinen. 
Aber, und das ist das eigentliche Problem, für das 
Hinweisen auf zeitliche Aspekte setzt man schon 
eine Zeitvorstellung voraus. Wenn es relativ leicht 
scheinen mag, sich am Raum der Werke unabhän- 
gig vom Leer-Raum darumherum zu orientieren, so 
schwer ist es, der Werke Eigen-Zeit überhaupt 
sichtbar werden zu lassen. Dies kann nur in Bezie 
hung zum Interpreten geschehen. 
Zeit als Parameter jeder Veränderung ist für den 
Interpreten nicht einfach Vergangenheit, Gegen- 
wart und Zukunft. Dem wahrnehmenden Interpre- 
ten sind nämlich Vergangenheit und Gegenwart 
nicht Parameter von Veränderungen. In der Inter- 
pretation, die immer nur als gegenwärtiger Prozeß 
stattfinden kann, ist allein Zukunft Medium des 
Wandels, also Zeit (dem historischen Betrachter 
liegen vergangene 1, 2, 3 oder 10 Jahre gleich ne 
beneinander, die Zeit in diese Richtung ist nicht 
mehr möglich, während in die Zukunft 1, 2, 3 oder 
10 Jahre genau diese Zeitspanne von heute ge- 
rechnet brauchen, um überblickt zu werden). Man 
kann Zeit nicht ontologisch, zeitlos definieren wol- 
len. Die in der Form angelegte Offenheit einer Pla- 
stik, die der Wahrnehmende erfüllen wird, das ist 
Zeit. 
Nicht bei jeder Form kumulieren sich die Einsich- 
ten zu einem Gesamtbild, wie bei der "Mutter mit 
Kind-r (Abb. 1), dem Werk, dessen Rezeption sich 
ansammelt, bis keine Frage nach der Form mehr 
offen ist. Dem räumlich-kompakten MaterieBlock 
entspricht ein begrenzter Zeit-Block. Erst dieser 
begrenzte Zeit-Raum macht eine ruhig-dauernde 
Betrachtung möglich. Dieser Dauer der empiri- 
schen Zeit unterliegen aber keine Veränderungen 
der Ansichten der Plastik, der Eigenzeit mehr. 
Beleuchtung, sie verändern am Formaten nichts. 
Die Plastik ist jedem Wahrnehmungsmodus ge 
genüber offen. Raum-Licht und Zeit-Struktur sind 
von gleicher Einfachheit, die die archaisierende 
Gebundenheit erfüllt. Ganz konkret: ob bei einer 
bestimmten Beleuchtung eine Wange glänzt oder 
bei einer anderen im Schatten liegt, verändert 
den Ort der Wange nicht, der Licht-Schatten- 
Gegensatz kann sie nicht weiter oben-unten- 
seitwärts-etc. ansetzen lassen, die Grenzen sind 
stabil. 
Bei der "Saitenplastikii (Abb. 2) ist ein Lichtwandel 
für die Betrachtungs-Zeit-Einheit nicht belanglos, 
da eine Licht-Schatten-Grenze nicht in der eben 
beschriebenen Weise mit einer Raumgrenze iden- 
tisch sein muß. Den nachvollziehbaren Teilräu- 
men entsprechen Teilzeiten, in denen die Wahr- 
nehmung nur diese sich im Llchtwandel mehr oder 
weniger verändernden Teilräume erfaßt, ohne auf 
andere rückschließen zu können. Wie es keinen 
einheitlich beschreibbaren Raum dieser Plastik 
gibt, ebensowenig lassen sich die Teilzeiten unter 
eine gemeinsame Dauer subsumleren. Dieses 
Werk ist nicht von einer Seite ruhig zu betrachten, 
immer entzieht sich ein Teil mit eigener Raum- 
Zeit, die nicht vorstellbar zu ergänzen ist. Im Be- 
leuchtungsspiel der nSaitenplastikrr kann man 
nicht während der Wahrnehmung wzeitweiserr aus- 
setzen, denn dann entgehen jeweils sich in den 
Teilräumen konkretisierende Lichtverhältnisse 
(oder im Licht sich, vorher durch Schatten ver- 
 
deckte, nun öffnende Raumverhältnisse). Das 
Werk verhüllt sich vor Pausen der Wahrnehmung 
und harrt nicht aus. 
Die beiden ersten Werke reagieren auf Licht- 
Wechsel jeweils verschieden. Dieser Wechsel ist 
ein Zeitfaktcr; wenn ein Werk mehr als ein anderes 
darauf anspricht, ist daraus zu schließen, daB es 
in seiner Form offener auch der Wahrnehmung ge- 
genüber ist. Die Form an sich zeigt dem passiven 
Betrachter nichts, sie gibt aber dem Rezipienten 
mehr oder weniger Bewegungs-Spiel-Raum. 
Der entscheidene Schritt von einer verhältnismä- 
Big primitiven Zeit-Form zu komplizierten Zeit- 
Bezügen geschieht mit dem Ausbrechen kompak- 
ter Oberflächen und der Schaffung von Innenräu- 
men, womit ein Gleiten der Wahrnehmung um eine 
und an einer Skulptur nicht mehr möglich ist. 
Die folgenden Werke haben mit dem Licht sicht- 
bar werdende Zeitstrukturen, die in der Bespre- 
chung des räumlichen Aspektes schon angeklun- 
gen sind. 
Bei der nLiegenden Figur Nr. 14: (Abb. 3) wird in der 
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legt. Hierbei sind die verschiedenen Kreisläufe, in 
die sich die Wahrnehmung einstimmt, das wich- 
tigste, durch andere Blickinseln zu ergänzen, zeit- 
liche Moment. 
Wir sehen, daß grundsätzlich in derzeitbezogenen 
Analyse verschiedene Bewegungsrichtungen und 
-arten zu unterscheiden sind. Einmal wird die 
Skulptur von allen Seiten betrachtet, dann von ei- 
nem perspektivischen Feld vor dem Werk aus. 
Schließlich können beide Arten unerschöpflich 
kombiniert werden wie in der "Stehenden Doppel- 
figuni (Abb. 4), die im jeweiligen Durchblick beim 
Umschreiten sich nicht zu einem einheitlichen 
Form-Bewußtsein fügt. Damit hat die Betrachtung 
immer wieder anzusetzen, und die Zelt erfüllt sich 
nicht in einfacher Weise wie z.B. in einem Um- 
schreitungskreis. 
In den 50er Jahren kann durch die Emotionalisie 
rung der Formensprache auch eine Veränderung 
der Geschwindigkeit notwendig werden. Das er- 
schreckende Weichen der Mutter vor dem schna- 
belnden Kind (Abb. 5) findet jäh und überraschend 
statt, während ihr gemeinsamer Unterleib ruhig 
bleibt. 
Die im Scnnenlauf sich bewegenden Beleuch- 
tungssituationen, der überindividuelle Tages- und 
Jahreslauf, prägen langfristig die abgeschliffene 
Felsen-Baum-Ruine des l-Bogensii (Abb. 7) von 
oben her. Das Momentane ist genommen, in im- 
mer neuen Varianten ordnet sich annährend der 
Wahrnehmungsprozeß des Betrachters unter. 
Zum Licht-Spiel hinzu tritt endlich beim w-Hügelbo 
gen-i (Abb. 8) auch noch eine Determinierung der 
Bewegung und damit eine Beschränkung mögli- 
cher Einsichten in die zeitlichen Bezüge innerhalb 
der Plastik. 
Sch IuB 
Der vorangegangene Ansatz, die Zeit als konstitu- 
tive, der Form immanente Offenheit (und auch 
Verschlossenheit) der Wahmehmungsbewegun- 
gen aufzuzeigen, lassen einen Mangel erkennen: 
unsere fehlende Sensibilität der Zeit gegenüber. 
Die Zeit wird in naivem Rationalismus als eindi- 
mensional und gestaltlos vorgestellt. Identifiziert 
man sie mit dem potentiellen Feld der Wahrneh- 
mung, erkennt man bald die Notwendigkeit einer 
Erweiterung des Begriffes. Es kommt nicht auf die 
Länge der (eindimensionalen) Zeitspanne an, 
wenn man sich dem Werk nähert, sondern auf die 
Art der Bewegung. 
Die eindimensionale Zeit ist formal übersetzt das 
Abschreiten einer Linie. Wenn man um ein Werk 
im Kreis schreitet, so ist das eine weitere formale 
Umsetzung, die historisch betrachtet dem mythi- 
schen Denken als Zeit zugrunde lag. Und darüber 
hinaus gibt es die Notwendigkeit ohne Achsen- 
zentrum, den Formen folgend in mehrere Richtun- 
gen (und Dimensionen) den Blick zu lenken. Mitei- 
nigem Recht ist daher auch schon versucht wor- 
den, solche Bewegungsarten als Zeitdimensionen 
den Raumdimensionen (Punkt, Linie, Flache, Ku- 
bus) anzuschließen. 
Und auch das Licht ist nicht ein Zustand, sondern 
das zentrale Medium, das uns Raum und Zeit als 
Aspekte der Form erschließen läßt. 
7 Henry Moore, Der Bogen, 1963 und 1969 
8 Henry Moore, Der Hügelbogen, 1972. Seit 1878 vor der 
Karlskirche in Wien 
Ll Anschrift des Autors: 
Dr. Thomas Zaunschirm 
Assistent am Institut fllr Kunstgeschichte 
der Universität Salzburg 
Zillnerstraße 6 
5020 Salzburg 
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