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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXV (1980 / Heft 168)

tensivierenden Faktor zu machen in der Lage ist. 
Auch Alain Jacquet bezieht in seine Arbeiten aus 
diesen Jahren vorgeprägte historische Themen ein, 
so zum Beispiel. wenn er in seiner "Leda- von 1963 
(Sammlung Boulois. Paris) Bildzeichen unserer Zeit 
einer Reproduktion von Michelangelos "Leda- auf- 
prägt oder in seinem "Phrophete lsaiew von 1963, in 
dem er eine der berühmten Skulpturen von Moissac 
aus dem 12. Jahrhundert mit dem Bild einer Puppe 
identifiziert. 
In einem Künstler der gleichen Generation kommen 
diese Tendenzen zu so programmatischer Auswir- 
kung. daß bestimmte Phasen seiner Entwicklung 
vollkommen von dieser Aufnahme historischer M0- 
tive und ihrer zeitgenössischen Umwandlung be- 
stimmt sind. Der Holländer Jaak Frenken konzen- 
trierte sich in den GOerJahren fast ausschließlich auf 
die Integration von alten Skulpturen oder Fragmen- 
ten von Skulpturen in seine neuen, oft altarähnli- 
chen Werke. In seiner "Versuchung des heiligen An- 
tonius- von 1966erfolgt eine Neukonstituierung des 
spätmittelalterlichen Dreiflügelaltars mit phantasti- 
schen Figuren und einigen Wiedergaben vom mit- 
telalterlichen Skulpturen. ln "Madonna-r von 1966 
und "Litanieu von 1967 gibt Frenken serielle Frag- 
mente von alten Skulpturen in einer neuen Anord- 
nung. eine Methode, die der des tschechischen 
Künstlers Jifl Kolar auf der Ebene der graphischen 
Collage verwandt ist. Bei beiden jedoch ist die vor- 
geprägte und bedeutungsvolle Thematik der Ver- 
gangenheit der Ausgangspunkt für eine freie und 
vollkommen neue Interpretation. 
Eine vollkommen verschiedene, doch vergleichbare 
Form der Vergangenheitsaneignung findet sich in 
den Werken des Amerikaners Jason Seleys. Seley 
bezog seine Quellen aus den Meisterwerken der ita- 
lienischen Renaissance und der Antike, doch ver- 
wandelte sie in ein Medium. das seiner Umwelt ge- 
mäß erschien, in Stoßstangen von gebrauchten Au- 
tos. Für den Künstler ist diese Wahl des Materials 
wie auch die Wahl der Thematik selbstverständlich: 
"Die von mir benutzten Stoßstangen sind aus Chro- 
miumstahl von hoher Qualität. Die einzelnen Stücke 
sind von interessanten und erregenden vorgeform- 
ten skulpturalen Formen, die für mich eine Quelle 
derlnspiration sind . . . Ich bin ein Bildhauer. derdie 
Herausforderung der Mittel und Materialien meiner 
Wahl angenommen hat, in gleichem Maße wie meine 
Zeitgenossen und Vorfahren die Herausforderung 
ihrer Methoden und Materialien annehmen oder an- 
genommen habenU Seleys "Colleoni-r von 1969, 
seine "Römische Wölfin" von 1971-1972 und seine 
"Hellenistic Rulerw von 1973-1974 sind die Ergeb- 
nisse dieserKonfrontation von klassischerTradition 
in derWahl derThematik und zeitgenössischer Zivi- 
lisation in der Wahl des für die Ausführung ange- 
messenen Materials. Seley ging so weit, sich direkt 
auf den originalen Wettbewerb für das Denkmal des 
Colleone in Venedig zu beziehen. an dem drei Bild- 
hauerteilnahmen und Modelle einreichten; das Mo- 
dell von Verrocchio war aus Holz und schwarzem 
Leder". 
In Italien selbst, in dem Lande, in dem die klassische 
Tradition am längsten erhalten blieb, arbeiteten 
Künstler zwar in verschiedenen Materialien. doch 
konzeptionell in ähnlicher Weise wie der Amerika- 
ner Jason Seley an der Neukonstituierung vergan- 
gener Themen. Mario Ceroli bezieht sich in seinen 
Skulpturen häufig auf Meisterwerke deralten Kunst, 
und sein "L'Uomo di Leonardo-r von 1964 (Samm- 
lung Johnsson, Essen) nimmt die berühmte Propor- 
tionsstudie Leonardo da Vincis zum Ausgangs- 
punkt, vergrößert die Zeichnung Leonardos in eine 
lebensgroße Holzplastik und stellt somiteine unmit- 
telbare Verbindung zu den Körperproportionen des 
Betrachters her. Cerolis "Venerer- von 1965 nimmt 
ein Detail aus Bottioellis berühmtem Gemälde und 
multipliziert die Silhouette der Einzelfigur in le- 
bensgroßen Holzformen. In einigen späteren Wer- 
ken geht Ceroli dazu über, bewegliche Elemente 
einzubeziehen. die der Betrachter verändern kann 
und die somit den unmittelbaren Kontakt zwischen 
Werk und Betrachter auch formal vollziehen. 
Die holländische Bildhauerin Saskia de Boer hat ein 
wiederum anderes Medium für ihre die Vergangen- 
heit beschwörenden Skulpturen gefunden, weiche 
und veränderliche Stoffe und neue Formen einer 
bemalten Skulptur. In den meisten Fällen bezieht sie 
ihre Themen von berühmten Gemälden aus den Mu- 
seen, wie der "Mona Lisa" von 1970, "Botticellis 
Primavera-r von 1972. "Tizians Venusof Urbinot- von 
1973 und "Piero della Francescas Duke and Du- 
chess of Urbinow von 1974 (Sammlung Mr. and Mrs. 
Robert Orchard. St. Louis). Die besondere Faszina- 
tion dieser Werke liegt in der Tatsache. daß die 
Künstlerin für ihre dreidimensionale Vergegenwär- 
tigung zweidimensionale Vorlagen wählte. Die Tat- 
sache. daß die Skulpturen von Saskia de Boer von 
allen Seiten gesehen werden können, doch niemand 
je diese Möglichkeitz.B. bei Leonardos "Mona Lisa- 
haben konnte, provoziert fremdartige Apperzeptio- 
nen, die häufig in einem programmatischen Span- 
nungsverhältnis zu den kalkulierten Erwartungen 
stehen. Doch Vergangenheit ist auch hier das neu 
 
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angepackte Thema. und bestimmte Züge der alten 
Meister können in einer bisher unbekannten Per- 
spektive erfahren werden. 
ln den Werken einiger amerikanischer Künstler 
kommt auch die jüngere Tradition der Kunst des 
20. Jahrhunderts bereits zum Ausdruck. George Se- 
gal zum Beispiel gab in seiner skulpturalen Gruppe 
"The Dancers- von 1971-1973 eine Variation des be- 
rühmten Bildes von Henri Matisse im Puschkin-Mu- 
seum in Moskau. Dieses Bild hatte vorher bereits 
den Maler Roy Lichtenstein zu seinem -Artist's Stu- 
dio. The Dance-t von 1974 (Sammlung Mr. and Mrs. 
S. I. Newhouse. New York) angeregt. Doch im Werk 
des Bildhauers wird die Transformation weit inten- 
siver und erhält eine andere Bedeutung. Segal hat 
selbst über die spezifische Besonderheit des Matis- 
se-Bildes geschrieben, dessen "dionysische Eksta- 
tikr- und "vibrierenden Farben" von ihm jedoch in 
eine Gruppe von ausgeglichener Ruhe und medita- 
tiver Innerlichkeit umgesetzt wurden. Es ist nichts 
von der ekstatischen Bewegung übriggeblieben. 
und aus dergrellen Farbigkeit ist das allumfassende 
Weiß getreten, das der Gruppe eine vollkommen ei- 
gene und nur Segal gemäße inhaltliche Eigenstän- 
digkeit gibts. 
Auch Claes Oldenburg nimmt in einigen seiner 
Werke Bezug auf Vorbilder in der modernen Kunst. 
In seinem "Soft Picasso" von 1969 (Sammlung Wil- 
liam N. Copley, New York) ist die Stahlplastik Picas- 
sos vor dem Rathaus von Chikago als Thema ge- 
nommen, jedoch durch die ironische Verwendung 
des weichen Materials in sein Gegenteil gekehrt 
worden. Handelte es sich in Picassos Skulptur um 
ein Symbol der stählernen Kraft der Stadt Chikago 
und seiner Stahlkonstruktionen, so suchtdie "orga- 
nische- Variation Oldenburgs eine programmati- 
sche Bedeutungsänderung. Claes Oldenburgs Werk 
ist zudem veränderbar. es kann vorn Betrachter ma- 
nipuliert und in jede gewünschte Gestalt umgewan- 
delt werden. In einem zweiten Werk Oldenburgs, 
dem 1977 öffentlich aufgestellten Denkmal vor dem 
Gebäude der General Services Administration in 
Chikago für die Sportdisziplin Baseball, nimmt der 
Künstler Bezug auf Constantin Brancusis "Endlose 
Säule-r, deren universale Harmonie und meditative 
Kraft hier jedoch in eine ironische Verherrlichung 
populärer Vorstellungen verwandelt wurden. 
Die Beziehungen zeitgenössischer Bildhauer zur 
Vergangenheit erhalten eine wiederum neue und 
komplexere Dimension durch eine Reihe von Wer- 
ken jüngerer Künstler. die auf verschiedenen Ebe- 
nen Formen und Inhalte in ihrem Wechselspiel pa- 
raphrasieren. Giulio Paolini schuf in seinem "Ve- 
nere e Marte- von 1973 (Sammlung Studio Marconi. 
Mailand) eine komplizierte Verschränkung von einer 
antiken Statue und der Oberfläche einer zerstörten 
Wand. In "Proteo lI-r von 1971 und in wMimesir- von 
1976 sowie in zahlreichen anderen Werken werden 
Formen aus der Antike in fremdartigen Umgebun- 
gen arrangiert und diese dadurch in einem neuen, 
bedeutungsvollen Kontext gesehen. Sogar die Evo- 
kation von programmatischen Begriffen und kon- 
zeptionellen Vorstellungen wird in diesen Prozeß in- 
tegriert und die bisherigen Grenzen der Kunsttradi- 
tion erweitert. Paolinis auch literarische Wirkungs- 
elemente einbeziehendes Werk kann als stellvertre- 
tend für die neue Haltung seit 1970 angesehen wer- 
den, und es findet zahlreiche parallele Entspre- 
chungen in Italien in Werken von Jannis Kounellis. in 
England in lvor Abrahams und in Frankreich in Mi- 
chel Journiac. Doch besonders das Werk des Eng- 
länders Clive Barker kann als typisch für die verän- 
derte Situation angesehen werden. 
Auch für Barker sind es die herkömmlichen Mei- 
sterwerke der Antike. wie die Venus von Milo oder 
andere Skulpturen aus Griechenland oder Rom. die 
die Motive hergeben, um neue Inhalte zu provozie- 
ren. Seine "Aphrodite" von 1972. die er mit einer 
Gasmaske ausstattete, erinnert an Werke von 
H. R. Alvermann. der in seiner "Aphrodite 65" von 
1965 das Werk der Antike bereits mit einer Jagdtro- 
phäe kontrastierend verband. Barkers "Chained 
Venus-r von 1971 (Sammlung Galerie Baukunst, 
Köln) geht aufDalis Variation derVenusvon Milozu- 
rück, hier durch die den Unterkörper umgebenden 
Ketten in einer noch immer surrealistisch beeinfluß- 
ten Form verwandelt. Auch in Barkers "Homage to 
Magritter- von 1969 (Sammlung Mr. and Mrs. Eske- 
nazi. London) ist der Bezug zum Surrealismus 
sichtbar. Doch wird das konzeptionelle Element 
stärker und intensiver eingesetzt, besonders im 
"Portrait of Madame Magritte- von 1970-1973 
(Kunsthalle Mannheim), in dem existierende und 
nichtexistierende Formen gleichberechtigtaufeiner 
Ebene liegen und eine neue Art von mysterischer 
und sublimer Wirkung schaffen. Eine Serie von 
Bildnissen Francis Bacons von 1978 eröffnet wie- 
derum andere Ausdrucksmöglichkeiten. hier in di- 
rektem Bezug und interpretierendem Verständnis 
bestimmter Selbstporträts von Francis Bacon. Die 
Vielschichtigkeit von mehreren Ebenen kommt in 
diesen Werken zum Ausdruck. so besonders. wenn 
Elemente im Werk Bacons, die selbst bereitsaus van 
Gogh und Velazquez abgeleitet waren, wieder auf 
diese Quellen zurückbezogen werden". 
Die thematische Vergegenwärtigung von vorge- 
prägten Formen und Inhalten hat in den letzten Jah- 
ren in besonderem Maße in Vorgängen, Prozessen 
und Aktionen Ausdruck gefunden und damit eine 
neue Fülle von möglichen Relationen aufgeschlos- 
sen. Bahnbrechend auch in diesem Bereich war 
Marcel Duchamp. der 1924 zusammen mit Brogna 
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