MAK

Volltext: Alte und Moderne Kunst XXV (1980 / Heft 170)

wendung von Gußeisen in großen Ausmaßen, die 
seinen Beitrag zur Architekturentwicklung be- 
stimmt. 
1847 bis 1850 baute Turner einen Verkehrsbau, der 
zu den frühesten Leistungen auch in dieser Bau- 
aufgabe gehört, den Bahnhof Lime Street in Liver- 
pool, in Zusammenarbeit mit dem Architekten Jo- 
seph Lockeö. Das noch heute erhaltene gewaltige 
Dach mit einer Länge von 360 Feet und einer frei- 
en Spannweite von 153V: Feet ist bahnbrechend 
für den Bau von Bahnhofshallen im 19. Jahrhun- 
dert und brachte den Nachweis, daß die neuen 
Materialien für jede der notwendigen neuen Auf- 
gaben angemessen verwendet werden konnten. 
Das Dach enthält Schmiedeeisen im Gewicht von 
etwa 700 Tonnen. 
In einem zusammen mit Burton ausgearbeiteten 
Bau, dem Wintergarten im Regents Park in Lon- 
don von 1840, taucht zum ersten Male die Form 
des gekurvten Daches auf, das später in Kew so 
vollendet ausgeprägt ist und darauf verweist, daß 
bereits in diesem frühen Bau der Praktiker Turner 
dem Akademiker Burton überlegen war7. im Jahre 
1850 arbeiteten die Brüder Thomas und Richard 
Turner einen Wettbewerbsentwurf für die erste 
Weltausstellung in London aus, in dem bereits ei- 
ne Miniatureisenbahn einbezogen war. Die Brüder 
verloren jedoch im internationalen Wettbewerb 
die Ausführung an Joseph Paxton, in dessen 1851 
vollendetem Kristallpalast - lronie der Architek- 
turentwicklung - Richard Turners Palmenhaus In 
Kew in Plänen und Dokumenten während der 
Weltausstellung zu besichtigen war. 
Das Palmenhaus in Kew verdankt seine Entste- 
hung zu einem wesentlichen Teil auch dem Bau- 
herrn, dem Direktor des Königlichen Botanischen 
Gartens, Sir William Jackson Hooker, und läßt 
sich bis zum Jahre 1842 zurückverfolgen? Ge- 
schätzte Baukosten beliefen sich auf etwa 5000 
Pfund Sterling. Sicherlich in Anbetracht des Erfol- 
ges des Palmenhauses von Turner stieg die Besu- 
cherzahl des Gartens in Kew in den Jahren nach 
1848 erheblich an: im Vergleich zu 54.000 Besu- 
chern im Jahre 1847 konnten 1851 schon 327.000 
gezählt werden. Durch den Besucherstrom aus al- 
len Ländern der Erde zur Weltausstellung in Lon- 
don wurde Turners Bau international bekannt. 
Das im Plan rechteckige Gebäude ist 362 Feet und 
6 lnches lang und wird durch ein künstliches Was- 
serbassin reflektiert. Der Mitteltrakt ist erheblich 
höher als die Seiten des Gebäudes und enthält ein 
durch zwei Spiraltreppen zugängliches inneres 
Obergeschoß mit Balkonen, von denen aus ein 
Überblick über die tropischen Pflanzen gewährlei- 
stet ist. Der lnnenraum des Mitteltraktes ist 137 
Feet und 6 lnches lang, 100 Feet breit und 63 Feet 
hoch. Die beiden niedrigeren Seitenflügel sind je- 
weils 33 Feet hoch. Die kurvigen Umrisse des obe- 
ren Teiles stehen in vollendetem Gleichklang mit 
den Formen der Seitenflügel, die Kurvaturen sind 
von ungemein harmonischer Konsonanz. 
Das Besondere der Konstruktion ist nicht allein 
die Überwindung des Steinmaterials, nicht ein- 
mal, wie im Kristallpalast von Joseph Paxton, der 
intensive Gebrauch von Glas, sondern die vollen- 
dete Integration von Glas und Eisen in eine neue, 
architektonisch überzeugende Gestalt. Paxton 
verwendete in seinen frühen Gewächshäusern 
Holz und Eisen in Verbindung mit Glas. Turner 
schuf im Palmenhaus in Kew das erste Glasgo- 
bäude der Welt; und es ist überraschend, daß es 
bis heute das schönste Glasgebäude der Welt ge- 
blieben ist. Die Bauelemente sind Gußelsensäu- 
len, die den oberen Teil des Gebäudes tragen, so- 
32 
derum die oberen Rippen und die Balkone um den 
mittleren Teil herum tragen. Diese Rippen sind zu- 
sammengeschweißt mit schmiedeeisernen Kup- 
pelstangen innerhalb von gußeisernen Rohren 
und arbeiten als Pfetten. Die schmiedeeisernen 
Stäbe wurden stramm angezogen, nachdem der 
Bau montiert wargm Die beiden Eingänge im mitt- 
leren Teil des Gebäudes sind durch tonnenge- 
wölbte Räume akzentuiert, die dem traditionellen 
Typus Querschiff entsprechen. Wie beim Kristall- 
palast Paxtons sind auch hier die weitergeführten 
geläufigen Typologien der vergangenen religiösen 
Architektur erkennbar. 
Die architektonische Gestalt eines klimatisierten 
Raumes für die Kultivierung von exotischen Pflan- 
zen erforderte jedoch zusätzliche technische 
Hilfsmittel, die fast alle nicht für den Besucher 
 
2 Turner + Burton, Palmenhaus in Kew Garden, Detail- 
ansicht mit Eingangstor 
Anmerkungen 6 - 10 
I t-L-R. Hitchcock: Early Vicloilan Architecture in Brllain, Band I, 
London 1954, s. 49a. 
r N. Pevsner: Curvilinear Hothouses, The Archltectural Review 
106,1949.lm Jahrs 1e1e hatte der Gartenthecretlker John Clau- 
dius Loucton ein Euch unter dem Tltel xSketches of Curvlllnear 
Hothouses-r publiziert. 
l Mea Allah: The Hookers of Kew, London 1961, s. 145-160. 
' John Hix: the Glass House, Cambridge, Mass. 1974, S. 127 (mei- 
ne Ubersetzung). 
"i Roger Dixon und Stefan Muthesiys: Victorian Architecture, New 
York 1978, S. Q7 und 98 (meine Ubersetzung). 
che Heizung normalerweise auf 80 Grad Fahi 
heit gehalten. Die unterirdischen Wasserke: 
sind weiterhin durch einen Tunnel mit einem k 
lenbunker sowie mit einem Schornstein vert 
den; der 550 Feet lange Tunnel enthält ein Eis 
bahnsystem für den Transport der Heizkohle 
für den Abtransport der Asche. 
Ohne Zweifel kann Turners Palmenhaus in l 
als ein Wendepunkt der Architektur angese 
werden. Die Transformation fand zu einem 2 
punkt statt, an dem neue technische Mittel 
weit entwickelt waren, daß man zu Resultatei 
Hinblick auf die neuen gesellschaftlichen Au 
benstellungen kommen konnte. Überraschen 
weise ist es die Übertragung des Prinzips der 
tur selbst, das, hier auf die Architektur ar 
wandt, die entscheidenden Losungen erzielte. ' 
im Great Stove von Paxton in Chatsworth unc 
Wintergarten von Lyon von Hector Horeau 
auch in Turners Palmenhaus in Kew das Prii 
der Pflanze auf die Gebäudestruktur übertra 
worden: wie die Rippen und Membranen des E 
tes in der Natur sind auch im Bauwerk die i 
nungsgesetze Gliederung und organische Wai 
tumsgesetze. Die Natur ist als Vorbild gese 
und verstanden worden und erzielte neue Har 
nisierungsmöglichkeiten zwischen Bauwerk 
natürlicher Umgebung. 
Wie Horeau und Paxton war auch Richard Tui 
kein akademisch ausgebildeter Architekt. Er k 
mehr als Konstrukteur und Unternehmer angi 
hen werden, der die Zeichen derZeit verstand 
mit den neuen synthetischen Materialien umzt 
hen wußte. Es waren genau diese Eigenschaf 
die ihn befähigten, die der Zeit neu gestellten l 
bleme zu lösen, Probleme, die für die traditio 
len Architekten der alten Schule unlösbar war 
im Verhältnis zu den anderen bedeutenden E 
ten im Garten von Kew ist das Palmenhaus se 
heute mit seinen eleganten Proportionen und i 
monischen Beziehungen zur natürlichen Un 
bung als ein Meisterwerk anzusehen. ln einem 
kürzlich publizierten Bücher über die Architel 
des viktorianischen Zeitalters kommen die Ai 
ren im Hinblick auf dieses zu der Schlußfolgert 
"Das meiste seiner Schönheit kommt aus 
grundlegenden Logik und Einfachheit sowie 
der Klarheit seiner Form." Und sie fügen hii 
"Das Palmenhaus ist gleichsam eine große Bl 
aus Glas. In einem bestimmten Licht erschein 
massiv und substantiell; in anderem Licht, w 
die Sonne von hinten scheint, erscheint es le 
ätherisch und nahezu magisch, mit den Palmer 
houetten wie ein Schattenriß durch das Glas" 
Richard Turners Palmenhaus in Kew muß als 
bedeutendste Bau seiner Gattung im 19. Jahri 
dert angesehen werden. Es macht gleichzs 
deutlich, daB es falsch ist, die Architektur die 
Jahrhunderts entweder als traditionell und übe 
den oder als technisch und funktional zu kateg 
sieren. Turners Bau steht für die Zeit, in der er 
standen ist, für das Viktorianische Zeitalter, 
er steht gleicherweise für die neuen Möglich 
ten einer Architektur aus Eisen und Glas. In 
Jahren der unmittelbaren Gegenwart hat es z 
reiche heutige Architekten zu neuen Werken in 
rieren können, unter anderem Roche und Dii 
loo, Cesar Pelli und besonders James Stirling, 
im Gebäude der Historischen Fakultät in C 
bridge eine dem Werk Turners ebenbürtige zei 
nössische Leistung schaffen konnte. Der Bev 
ist erbracht, daB ein Blick in die vergangen 
auch heute - wie zu allen anderen Zeiten - ' 
stöße in Neuland ermöglichen kann.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.