sondern von Wiener Barock- und Biedermeier-Form-
erlebnissen bestimmt. Die Personlichkeitskrise, eine
allgemeine Erscheinung bei Emigranten. führte bei
Lesznai zu keinem konstruierten Utopismus. sondern
erhöhte noch die Sehnsucht nach der idealen Marchen-
welt. So schuf sie Bild-Märchen in Wien unter dem Ein-
fluß der Brueghel-Bilder im Kunsthistorischen Museum
und malte märchenhafte Bauernszenen, inspiriert von
Sommererlebnissen in der Slowakei.
vWir glauben nicht an die aktuelle Wirklichkeit der Mär-
chenwunder, sollen sie uns aber wünschen und ihnen
transcendentale Wirklichkeit gebenri - schrieb Anna
Lesznai 1923 in Wien. Ihre intermediale Tätigkeit (Lite-
ratur, Kunstgewerbe. Malerei) und ihre universell orien-
tierte Intelligenz machte Lesznai zu einer der interes-
santesten Persönlichkeiten der in Wien lebenden Un-
garn. Die bunte, organische Dekoration ihrer Stickerei-
arbeiten verband sie mit der KunstderJahrhundertwen-
de. Nichtsdestoweniger führte sie lange Diskussionen
im SchIoß-Cafe mit dem rein ästhetische Werte schaf-
fenden Künstler Lajos Kassak. Lesznai war nicht nur
Diskussionspartnerin der ungarischen Avantgardisten.
sondern auch eine sinnreiche Freundin der damals be-
gabtesten in Wien lebenden Philosophen und Ästheten,
alsda waren Lukäcs. Hauser und Balazs. Andere Künst-
ler suchten ihre Freiheit anarchistisch. idealistisch, in
der grenzenlosen. die Tradition ablehnenden Form der
Kunst, in ngeisliger Flevolutiontt, ästhetische Werte
schaffend, weit von den abbildenden oder praktisch an-
zuwendenden traditionellen Kunsttendenzen.
Ein Zusammentreffen der neuesten künstlerischen
Strömungen mit den linken Künstlern hatte sich in der
ungarischen Kunst schon um 1916. im Kreis der wMau.
der die Einflüsse von nSturmu und wAktionrr in sich auf-
nahm, vollzogen. Die vMaK-KÜHSIISI unter der Leitung
von L. Kassäk konnten sich weder im Schaffen noch in
der Weltanschauung dauerhaft vereinigen. Die im Anti-
militarismus des 1. Weltkrieges geborene Kohasions-
kraftschwächte sich ab. Etwa alle zwei Jahre kam es zu
ideologischen Brüchen in der Einheit der aktivistischen
Künstler. Der grundlegende Konflikt schwelte bis zu-
Ietzt in der Deutung des Einklangs von inhaltlicher und
formaler Progression.
Es muß erwähnt werden, daß bei fast allen ungarischen
Avantgarde-Künstlern die realistische Auflassung in
der ersten Hälfte der 20er Jahr vorhanden war. was die
Tätigkeit von Sändor Bortnyik oder Beta Uitz gut zeigt.
Sie zielten sowohl in der abstrakten als auch in der rea-
ien Bilderwelt auf den Aufbau des neuen Lebens hin.
Von derwirklichkeitgetrennt. waren nurdie talentierte-
sten in der Lage, die Totalitat des gesellschaftlichen
Seins widerzuspiegeln.
Im April 1921 erschien eine Mappe mit sechs geome-
trisch abstrakten Linolschnitten von Sandor Bortnyik in
Wien. Das prophetisch inspirierte Vorwort schrieb Kas-
sak. der selbst auch ähnliche Bildarchitekturen ge-
schaffen hatte. Die beiden Künstler strebten nach einer
eigenartigen visuell-plastischen Ordnung. ohne sie zu
systematisieren. wie das die Holländer der De-Stijl-
Gruppe machten. Die vkosmische Mathematik-r und die
theosophische Mystikwaren ihnenfremd, doch müssen
wirdabei den Einfluß des mondrianischen Neoplastizis-
mus in seinem Farb- und Formsystem in Betracht zie-
hen. Diedirekten Kontakte können durch Künstler unga-
rischer Abstammung wie V. Huszar gesichert sein. Er
warein Mitbegründerder holländischen Gruppe und ein
ausländischer Mitarbeiter der Wiener rtMatr-Zeitschrift.
Huszars geometrische Kompositionen (1918). mit
Schablonen gedruckt. hatten einen gewissen Einfiuß
aufdie ungarische Avantgarde-Kunst in Wien ausgeübt.
Kassäk vereinigte das strenge holländische System mit
russischem Kohstruktivismus. besonders dem Supre-
matismus von Malevits, und französischem Purismus.
Er suchte auch in der minimalen Formbildung die maxi-
male visueII-ästhetische Kraft. ohne die physiologi-
schen Prozesse zu studieren.
Das einzige Maß der künstlerischen Tätigkeit bestand
fürKassäkim Schaffen,worinerkeineobjektformieren-
Q2
de Kunst verstand. sondern eine experimentelle Wert-
orientierung. In seinen Manifesten kam er durch das
Verwechseln des Kollektiven und Individuellen auf die
unlogische gegenseitige Ersetzbarkeit. So konnte er
seine individuellen Werke als Entwürfe des Aufbaus ei-
ner zukünftigen Welt vorstellen. Die Betonung lag auf
derneinzelnen.undsoverschobsichdas Besondereder
Kunst in die Sphäre des allgemeinen. 1921 sahen die
rtMaw-Künstler unter dem Einfluß der ma-chistischen
Philosphie als wichtigstes Ziel die Entwicklung des ein-
zelnen. des sog. wkollektiven lndividuumstt an.
Die vBildarchitekturu istanalog zu Lissitzkys rrProunrr als
eine Umschaltstelle von der Malerei zur Architektur
deutbar. Das Prinzip der nBiIdarchitekturtr löste in Wien
bei den ungarischen Künstlern heftige Diskussionen
aus. Bald war auch Sandor Bortnyik mit dieser Theorie
nichteinverstanden. da erdie rtBiIdarchitektura nicht als
Weltgefühl des einzelnen in materieller Form auffaßte.
sondern als Ausdruck des allgemeinen Bedürfnisses
nach Harmonie.
Andere, wie der progressive Kritiker L. Hevesy. standen
verständnislos vor der ttgequadriertenrr Weltauffas-
sung. Sie sahen darin klare Dekorativität. ebenso wie
Anna Lesznai. Sie fühlten und verstanden nicht in den
vBildarchitekturentt die Zukunft der visuellen Kultur -
die in der damaligen Wiener Gegenwart nur ein Traum
sein konnte -, ebenso ohne österreichischen Wider-
hall. als die Werke der österreichischen Avantgardi-
sten. Moholy-Nagy kämpfte für Kassaks Ideen in der
Wiener ungarischen Zeitschrift vAkasztott emberu und
machte experimentale geometrische Analysen in Linol-
schnitten wie Uitz. Moholy-Nagy suchte aber die neue
Bildobjektivitat nicht nur in den Grundformen, sondern
auch in materiellen Experimenten.
Die erste Anthologie der modernen Kunst war das
nBuch neuerKünstlerrr. redigiert in Wien 1922 (Faksimi-
Ie 1970, Corvina Verlag. Budapest) von Kassak und
Moholy-Nagy. Es zeigt die Korrelation zwischen moder-
ner Kunst und Technik des 20. Jahrhunderts. In diesem
Buch wurden viele. nur später bekanntgewordene
Künstler vorgeführt.
Da sahen die Autoren eine echte Parallele zwischen der
neuen Kunst und Architektur, Flugzeugen und künstleri-
schen Konstruktionen. Kassak schrieb:
rtKunst. Wissenschaft. Technik berühren sich in einem
Punkt.
Es muß geändert werden!
Es muß geschaffen werden. denn Bewegung heißt
Schaffen.
Die Bewegung muß ins Gleichgewicht gebracht wer-
den. denn so kann man zur Form gelangen.
Die neue Form ist die Architektur.
Das gründliche Aufräumen.
Die Stärke des Willensltt -
vDie Einfachheit des Sicherheitsgefühls.
Die neue Kunst aber ist einfach. wie die Güte des Kin-
des, kategorisch und sleghaft über alle Stoffeß
Kassaks Ideen rrsiegtentr aber damals nicht. Die größten
Vertreter der wtMaw-Gruppe trennten sich 1922 von ihm.
L. Moholy-Nagy ging in der Praxis weiter. Er konnte das
symbolisch-theoretische Schaffen in MateriaIlorschun-
gen enlveitern. so wurde er im Bauhaus tätig. nachdem
Johannes ltten Weimar verlassen hatte.
Es war im Jahre 1 922, als die Debatten in der Kunsttheo-
rie zwischen den ungarischen Emigranten in Wien sich
entsprechend den allgemeinen Debatten über experi-
mentellen nproduktlvenr und didaktischen Kunstauffas-
sungen verstärkten. Die Wege trennten sich nochmals.
1923 trat der Ungar Moholy-Nagy ins vBauhausrt ein.
Bortnyik übersiedelte aus Wien nach Weimar. und Kas-
säk - in Wien lebend - strebte eine experimentale
Synthese der Künste an. Uitz schloß sich den expressiv-
didaktischen Kunsttendenzen an.
1923, in der Ludditen-Folge über die englischen Maschi-
nenstürmer. füllte Uitz die abgeklarten Formen derGeo-
metrie mit aktualisiertem historischen Inhalt.
In dieser Serie offenbart sich der Glaube an die revolu-
tionäre Kraft der Arbeiter in neuen dynamischen For-
IIKOTNI - NEM ALAKITANI!
hIA
6 Umschlagbild der Zeitschrift i-Mat, Erscheinungsort Wien
Aimvisu rourötnar
6
Anmerkung 5
' Flodschenko - Slepanova: A konstruktlvlstäk csoporttänak programia
f Programm der konstruktlvtstlschen Gruppe. Egyseg, WIEN, Mal 1922
Gabe. Naum Reallste mamleszturn r Fleallsttsches Manifest Egyseg.
Wien, Mit r922 Malevits. Kaslmrr: Suprematrsmus. Egyseg. Wien. Sep-
ternber1Q22 Neuausgabe irl' Baikay, Eva Akonstruktlvrzmus. Buda-
pest. 1972.
Publikationen uber die Emrgratronskunsl: Passutli. Krrsztrna" Magyar
muveszek az europar avantgardeban r Ungarische Künstler m der
europarschenAvanlgarde. Budapest, l974.S1abö.Julra Magyar aktiviz-
mus 1 Ungarischer Aklrvismus. Budapest. 1981