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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXVIII (1983 / Heft 190 und 191)

iiDie verlorenen Österreicher 1918- 193514. Im Kata- 
logvorvvort wi rd kein Zweifel zugelassen. daß es sich bei 
expressivem künstlerischem und selbst bei ähnlich 
strukturiertem wissenschaftlichem Verhalten um 
nichts weniger als um eine österreichische National- 
eigenschaft handeltf Weil in der österreichischen 
Kunst eine Kontinuität im Expressiven konstruiert wer- 
den kann, wird ohne Rücksicht auf anders geartete 
künstlerische und intellektuelle Phänomenebehauptet. 
daß nExpression-r der eigentliche Leitfaden der künstle- 
rischen Entwicklung dieses Landes sei. Zur Definition 
dieses Begriffes wird angeführt, daß sich diese Eigen- 
schaft "in einer latenten In-Frage-Stellung aller wie im- 
mer gearteter existentiellervorgängerr äußere; sie stel- 
le sich vals eine Folge innerer Verletzbarkeitrr dar und 
bestehe "aus einem Überschwang an Gefühlen und 
Empfindungen, die von überdirnensionalem Ausdruck 
lebenrr. Durch das Aufzeigen dieser angeblich spezi- 
fisch österreichischen Verhaltensweise sollte die Aus- 
stellung unter Beweis stellen, daß wbeim Schaffen von 
Kunst die nationalen Empfindungen und Verwurzelun- 
gen die primären Träger sindir ( !). Denkt man diese ver- 
allgemeinernden Aussagen konsequent weiter. dann 
weisen sie den Weg zu staatlich festgelegten Richtli- 
nien für das Aussehen künstlerischer Gestaltungen mit 
österreichischem wGütesiegelk. Es handelt sich bei die- 
ser historischen Sicht nicht um das Ergebnis einer indi- 
viduellen Geschichtsinterpretation desAut0rs. sondern 
sie ist vielmehr Ausdruck einer durch mangelhafte 
kunstwissenschaftliche Aufarbeitung bestimmten Vor- 
stellung vom künstlerischen Schaffen Österreichs; sie 
wird mehr durch unkritisch tradierte Klischees geprägt 
als durch seriöse interdisziplinäre Forschungj Die mit 
den nNeuen Wildenrr ll'l engem Zusammenhang stehen- 
de Diskussion um den riRegionalismusr in der Kunst der 
achtziger Jahre ist nur eine der neuesten, negativen 
Auswirkungen diesereindimensionalen Einstellung.die 
dazu führt. daß an den entscheidenden Phänomenen 
dieserneuen Kunstvorbeigesehen wird. Dievorgepräg- 
te Struktur der aufgesetzten vExpressionismus-Brllleir 
verstellt den Blick auf das komplexe Geschehen in 
Österreich. 
Friedrich Kiesler ist sicherlich einerder bedeutendsten 
österreichischen Künstler der Zwischenkriegszeit. Sei- 
ne Arbeiten werden weder durch rrDepressionenir noch 
durch vinnere Verletzbarkeitc bestimmt, sondern viel- 
mehr durch eine Aufbruchsstimmung geprägt. die ein 
Kennzeichen der konstruktivistischen. experimentell 
und gesellschaftskritisch eingestellten. fortschritts- 
gläubigen Avantgarde dieser Jahre ist. Im Katalogvor- 
wort zu der von Kiesler 1924 organisierten iilnternatio- 
nalen Ausstellung neuerTheatertechniku heißt es in die- 
sem Sinne programmatisch: wDie schöpferische Ju- 
gend bleibt in Projekten stecken. befriedigt sich mit Plä- 
nen. Mansardenillusionen. Das Publikum will Realitä- 
ten. ll faut quitter les mansardes sacerdotales! Genug 
der Projekte. Wir brauchen Wirklichkeiten. II faut des- 
cendre des piedestaux futuristes. expressionistes. cu- 
bistes. constructivistes. mystiques, naturalistes. ab- 
stractes etc. L'art a demobilise. Que faire? VIVREM! 
Keine Spur von einer pessimistischen, resignierenden 
Einstellung ist hier zu spüren, sondern die Überzeu- 
gung. durch künstlerische lnitiative in das nLebenir. das 
heißt in die Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklich- 
keit eingreifen zu können und zu müssen. 
Kieslers Worte spiegeln eine Grundhaltung wieder. die 
auch für andere Wiener Protagonisten des künstleri- 
schen und geistigen Aufbruchs dieserJahre charakteri- 
stisch ist. Zu den interessantesten und wichtigsten Per- 
sonen dieses Kreises zählt der Kunsthistoriker Hans 
Tietze. Es gehört zu den großen Versäumnissen in der 
kunsthistorischen Aufarbeitung der Zwischenkriegs- 
zeit, daB seine Bedeutung für die Rezeption der moder- 
nen künstlerischen Tendenzen in Wien bis heute fast 
gänzlich unbekannt geblieben ist. Sowohl durch theore- 
tische Schriften als auch durch zahllose Kunstkritiken. 
vor allern aberdurch die Tätigkeit als AusstelIungsorga- 
nisator ist er in den zwanzigerJahren zu einer zentralen 
Persönlichkeit im Wiener Kulturleben geworden. 
Tietze beobachtete das Geschehen in Wien sehr genau 
und berichtete darüber laufend in der in Berlin erschei- 
nenden Kunstohronik. deren Mitherausgeber und Kor- 
respondent er war. Kritisch vermerkt er in einem 1923 
verfaßten Kommentar. daß sich die Wiener Ausstellun- 
gen durch besondere Dürftigkeit auszeichneten, die 
Vereinigungen kein Geld hätten und die Künstler nur 
den einmal gefundenen Stil variierten? Doch im Ge- 
gensatz zu vielen seiner Kollegen beschränkte sich Tie- 
tze nicht auf solche mißbilligende Äu ßerungen. sondern 
er ergriff selbst Maßnahmen. um verändernd aufdie als 
unproduktiv erkannte Situation einzuwirken. Er organi- 
sierte Ausstellungen internationaler Kunst. in welchen 
erder quantitativ zweifellos dominierenden repetitiven 
österreichischen Kunst die aktuellsten Entwicklungen 
aus Ost- und Westeuropa entgegenstellte. Damit ver- 
folgte er das Ziel. Wien an das internationale Gesche- 
hen anzubinden. Fast überall. wo es damals in dieser 
Stadt um Fragen der neuesten Kunstströmungen ging. 
warer in irgendeiner Form mitdaran beteiligt. Tietze en- 
gagierte sich. obwohl ihm bewußtwar. daß ergegen den 
übermächtigen Strom der konservativen Wiener Gesin- 
nung anzukämpfen hatte." 
Als Instrument für diese Aufgabe rief Tietze 1923 zu- 
sammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter die iiGesell- 
schaftzur Förderung moderner Kunstrr ins Leben, in de- 
ren Rahmen bis in die frühen dreißigerJahre eine Reihe 
national wie auch international bedeutender Ausstel- 
lungen stattfinden konnten." Die Gesellschaft rwurde 
in SammIer- und Kunsthistorikerkreisen gegründet. um 
vor allem derschädlichen Absperrung und Einsperrung 
entgegenzuarbeiten. die jede Auseinandersetzung mit 
außerösterreichischer Kunst seit fast einem Jahrzehnt 
unmöglich machtrl, schrieb Erica Tietze-Conrat damals 
in der Kunstchronik." In einem Flugblatt. das der Mit- 
gliederwerbung diente. wurden die progressiven Ziele 
dieser Vereinigung noch deutlicher formuliert: itDie Ge- 
sellschafter. heißtes dort. wstrebtdie Zusammenfassung 
aller lebendigen Kräfte Wiens auf künstlerischem. mu- 
sikalischem, literarischem Gebiet an; sie will die Ein- 
heitsfront aller herstellen. für die die künstlerische Kul- 
tur nicht eine Frage der .Richtung' oder der Partei ist, 
sondern eine Frage der Lebendigkeit und der Quali- 
tätrr" Diese Aussagen sind Ausdruck einer gegen- 
wartsbezogenen aber auch für zukünftige Entwicklun- 
gen offenen Haltung und sind in ihrer Stimmung der 
oben zitierten Erklärung Friedrich Kieslers verwandt. 
Tietzes Engagement führt ihn aber nichtzu einem bedin- 
gungslosen Bejahen des gerade Modernsten. sondern 
er bleibt den Werken gegenüber kritisch. Seine Einstel- 
lung wird weniger durch ein Interesse an den formalen 
Ergebnissen. sondern vielmehr durch eine Affinität zu 
den inhaltlichen. ideologisch bestimmten Aspekten der 
neuen Kunstrichtungen bestimmt. Zur Klärung von Tie- 
tzes Verhältnis zu den konkreten Erscheinungsformen 
der durch ihn geförderten Kunstrichtungen tragen zwei 
Kommentare zum Werk des 1920 nach Wien emigrier- 
ten ungarischen Malers Beta Uitz bei. Erschreibt zu den 
bereits im ersten Jahr seines Wienaufenthaltes in den 
Räumen der Künstlergruppe riFreie Bewegung-r gezeig- 
ten figuralen, expressionistisch und sozialkritisch be- 
stimmten Kompositionen folgende Sätze: wDaß hier Le- 
benswerte gesprengt werden. sagt mir meine innere Er- 
fahrung:aber ich weißnichtobes möglich und nötig ist. 
sie in den alten und engen Begriff der Kunst hineinzu- 
pressen. Das ganze Kulturproblem unserer Zeit steckt 
hierinßr" Drei Jahre später stellt Tietze Bilder von Beta 
Uitz im Rahmen der wGesellschaftri aus. Zu den nun rein 
geometrisch aufgebauten konstruktivistischen nAnaly- 
senu(Abb.1Sischreibterineinemähnlichen Sinn: "Beta 
Uitz gehört zum GeschlechtderZukuntt. vielleicht nicht 
wegen seiner Malerei. aberweil erden Mut hat. auch oh- 
ne Besinnen das Gebiet der Kunst zu verlassen. wenn 
sein Gewissen als Künstler es ihn heißtxr" Diese und 
auch andere Aussagen des Kunsthistorikers lassen er- 
kennen. daß sich sein Engagement vor allem an 
menschlichen und gesellschaftspolitischen Aspekten 
derneuen Kunstrichtungen entzündet. er aber zu keiner 
theoretisch ausreichend abgesicherten Erweiterung 
seines Kunstbegriffes findet. Daraus resultiert eine in 
vielen Texten spürbare Spannung zwischen dem vollen 
Einsatz fürdievielfaltigen Facetten des aktuellen künst- 
lerischen Geschehens und einer unsicheren und bis- 
weilen skeptischen Haltung gegenüber den mit revolu- 
tionärem Gedankengut eng verknüpften Ergebnissen. 
Die schwierigen Verhältnisse. unterwelchen Tietze sei- 
ne Förderungsmaßnahmen setzte. kommen in einem 
Satz zum Ausdruck. der ebenfalls der Besprechung der 
zweiten Ausstellung von Bela Uitz entnommen ist: iwDie 
Aussfellungrr. schreibt er. nist eigentlich nur für die Mit- 
glieder der Gesellschaft bestimmt. wer sie sonst be- 
sucht. kommt als deren Gast, eingeladen nicht zu kriti- 
sieren und besser zu wissen. sondern sich miteinerpro- 
blematischen Erscheinung ernsthaft und höflich aus- 
einanderzusetzen." Mit solchen an das Publikum ge- 
richteten Vorschriften stand Tietze damals nicht allein, 
sondern er orientierte sich offensichtlich an ähnlichen 
Verhaltensregeln. die Arnold Schönberg einige Jahre 
vorher für die Besucher der Musikveranstaltungen er- 
lassen hatte, die im Rahmen des wrVereines für musikali- 
sche Privataufführungenrr abgehalten wurden. 
Zu den bedeutendsten Wiener Ausstellungsprojekten 
der zwanziger Jahre gehört die von Tietze im Rahmen 
der i-Gesellschaftrr organisierte wlnternationale Kunst- 
ausstellungir. die anläßlich des Musik- und Theater- 
festes derGemeinde Wien im Herbst 1924 in der Seces- 
sion stattgefunden hat (Abb. 1. 2). Diese umfangreiche 
Zusammenstellung zeitgenössischer Kunstwerke wur- 
de iizur Befestigung Wiens als internationales Kunst- 
zentrurnu unternommen und sollte dem wWiener Kultur- 
leben ... eine möglichste Fülle von Anregungen 
bietenrl." 
Den internationalen Stellenwert dieserAussteIlung ver- 
sucht Hans Ankwicz-Kleehoven in einer ausführlichen 
Besprechung in der Wiener Zeitung vom 18. Oktober 
1924 durch einen Vergleich mit Venedig zu charakteri- 
sieren: nWer heuer die XIV. Internationale Kunstaus- 
stellung derStadtVenedigbesucht hat, . . .erlebt...eine 
große Enttäuschung. Denn faktisch war es - Sowjet- 
rußland und das sehr fortschrittlich gesinnte Holland 
ausgenommen - nur eine Massenversammlung von 
teilsunbedeutenden.teilskunstgeschichtlich Iängstge- 
eichten Künstlern. die aber nichts Neues zu sagen hat- 
ten... War die venezianische ,Internationale' vorwie- 
gend konservativ orientiert. so ist die Ausstellung in der 
Secession mit voller Absicht einseitig auf die radikalen 
Strömungen eingestelltß 
Tietze trug 180 Bilder und Plastiken ausganz Europa zu- 
sammen und gewährte damit einen Überblick, wie er 
seither in Wien kaum mehrzu sehen war und dermit Ber- 
lin und Paris durchaus in Konkurrenz treten konnte: Pi- 
casso. Braque. Klee, Lissitzky, Archipenko. Kandinsky. 
Mondrian.Chagall. Leger. Naum Gabo. Beckmann. Dix. 
Kokoschka und viele andere Maler und Bildhauerwaren 
in der Secession durch ausgesprochen repräsentative 
Werke vertreten. 
Natürlichfanddie moderne Malerei und Plastik nichtun- 
geteilte Zustimmung in der Öffentlichkeit. In der Neuen 
Freien Presse vom 28. September 1924 bezeichnete 
der Kritiker L. Hirschfeld das in der Secession Gesehe- 
ne als bLäChkabifleltfl und als ilpermanentes Gschnas- 
festrr, Naum Gabos heute so berühmten Kopf (Abb. 1) 
beschrieb er spöttisch als ein aus v-Zelluloidstanitzeln 
kunstvoll gedrehtestr Objekt. Solchen absolut verständ- 
nislosen Kommentaren stehen aber ausführliche. sach- 
lich gehaltene Besprechungen gegenüber. deren Auto- 
ren bemüht sind. die Leser für das Ungewöhnliche und 
Neue an diesen Ausdrucksformen der Kunst zu interes- 
sieren. Wie bei Tietze selbst. so begründet sich die 
grundsätzlich positive Einstellung in Beitragen von 
Alfred Makowitz. Hans Ankwicz-Kleehoven oder Otto 
König" auf der Überzeugung. daß die GestaItungswei- 
sen einer Epoche als Reflex der gesellschaftlichen Si- 
tuation aufgefaßt werden müssen. In diesem Sinne wer- 
den die extremen Erscheinungsformen derzeitgenössi-
	        
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