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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXVIII (1983 / Heft 190 und 191)

genössische Kunst zu fördern, der die Voraussetzung 
für die Durchführung anspruchsvoller und von anderen 
Städten kaum überbotener Kunstprojekte durch die Ge- 
meinde Wien und die sozialdemokratische Partei war. 
Ausdruck dieser kulturpolitischen Interessengemein- 
schaft istdie in derArbeiterzeitung während des Musik- 
und Theaterfestes von 1924 auf hohem intellektuellem 
Niveau geführte. kritisch vermittelnde Auseinanderset- 
zung mit dem in Konzerten, Theateraufführungen, Aus- 
stellungen und Vorträgen Gebotenen. Das die aktiv dar- 
an Beteiligten verbindende Elementwar wohl die Affini- 
tät in gesellschaftspolitischen Fragen, die zwischen der 
neuen politischen Macht in dieser Stadt und den theore- 
tischen Programmen engagierter Künstler und Künst- 
lergruppen in Ost und West bestanden hat; diese Über- 
einstimmung dürfte das verschiedentlich zu Tage tre- 
tendemangelnde Verständnisfürdie konkreten künstle- 
riechenErgebnisseausgeglichen habenßotreffensich 
manche ldeen Tietzes mit dem gesellschaftsbezoge- 
nen Denken der russischen und holländischen Künstler 
aberauch mit jenem Fernand Legers: zum Beispiel sei- 
ne Auffassung der Kunst als ein soziologisches Pro- 
blem. seine Forderung, die Trennung von Kunst und Le- 
ben aufzuheben, die zeitgenössische Kunst größeren 
Bevölkerungskreisen einschließlich der Arbeiterschaft 
zugängig zu machen und dazu in der Kunstvermittlung 
von einer ästhetisierenden auf eine inhaltsbezogene 
Auffassung umzuschwenken. um von dieser Seite her 
ein neues, gegenwartsbezcgenes Kunstverständnis 
aufzubauenAnläßlich der 1 930 im Künstlerhaus veran- 
stalteten Ausstellung "Die Kunst in unsererZeitif erklärt 
Tietze programmatisch: nUnsere Ausstellung ist grund- 
sätzlich von anderen Veranstaltungen dieser Art unter- 
schieden; während diese auf dem Boden einer ästheti- 
schen oder historischen Auffassung stehen. betrachten 
wirdie Kunst als ein soziologisches Problem. Wirfragen 
weder. auf welche Art diese oderjene künstlerische Er- 
scheinung zustande gekommen ist. noch versuchen 
wir, die Leistungen aufGrund ihrer rein künstlerischen 
Qualitäten zu klassifizieren; unser Augenmerk richtet 
sichvielmehrdarauf,wasdie Kunst-das ist dasleben- 
dige und als lebendig empfundene künstlerische Schaf- 
fen - heute im Leben der Allgemeinheit bedeutelÄg 
Ganz in diesem Sinn lauten die damals durch den in 
Wien lebenden konstruktivistischen Maler. Literaten 
und Theoretiker Lajos Kässak in seinen Schriften und öf- 
fentlich gehaltenen Vorträgen propagierten Ideen: Er 
sieht die wirkliche Kunst als Synthese des gegenwärti- 
gen Lebens und meint, daß es fortan keine gesonderte 
Gesellschaft und keine gesonderte Kunst geben werde, 
denn Kunst und Leben aber auch Kunst, Wissenschaft 
und Technik müßten als Einheit aufgefaßt werden." 
Solche und ähnliche Programme sind damals in der 
europäischen Avantgarde häufig anzutreffen. in Ruß- 
land, in Holland. am Weimarer Bauhaus aber auch in 
Frankreich und Italien. Den russischen Thesen kommt 
aber in den frühen zwanziger Jahren vor dem Hinter- 
grund der politischen und der mit ihr eng verbundenen 
künstlerischen Revolution eine besondere Bedeutung 
zu. Dies betrifft umso mehrdie WienerSituation. als hier 
durch die Aktivität der ungarischen Künstler das neue 
Gedankengutzu einem sehrfrühen Zeitpunktverfügbar 
wird und im Rahmen der neuen politischen Verhältnisse 
während einiger Jahre eine günstige Basis für die Re- 
zeption dieser Ideen vorhanden ist." Bürgermeister 
Karl Seitz. der im Laute des Musik- und Theaterfestes 
von 1924 sowohl die radikal moderne Secessions-Aus- 
stellung Tietzesals auchdieavantgardistischeTheater- 
technik-Ausstellung Kieslers eröffnete. rechtfertigte 
die hohen Ausgaben der Gemeinde Wien für diese Akti- 
vitäten im Gemeinderat mit folgenden Worten: DWiT ha- 
ben gezeigt, daß Wien auch auf dem Gebiet der Kunst 
eine schaffende Stadt ist und daßwir neue Kräfte zu för- 
dern verstehenß" Einerder wichtigsten Initiatoren und 
Förderer dieses Kulturprogrammes der Gemeinde 
Wien war der Leiter der sozialdemokratischen Kunst- 
stelle und Kunstberater der Stadtverwaltung David 
Bach?" Um ein detailliertes Bild dieser komplexen Zu- 
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sammenhänge und Querverbindungen zwischen den 
damals in Wien aktiv an der Rezeption der modernen 
Kunststrbmungen beteiligten Personen. Gruppen und 
Institutionen zu gewinnen, bedarf es jedoch noch eines 
umfangreichen Quellenstudiums. 
Von seiten der Künstler ist Friedrich Kiesler einer der 
wichtigsten Pfeiler, auf welchen Wiens Stellung als 
Schauplatz aktueller Kunsttendenzen in den zwanziger 
Jahren ruht." Er arbeitete hier zwar nur bis 1926, doch 
hat er durch seinen großen persönlichen Einsatz Kon- 
zepte durchgesetzt. von welchen andere Avantgarde- 
Künstler damals nur träumten: nSie taten, was wir alle 
einmal zu tun hofften-i. sagte Theo van Doesburg zu 
Kiesler". als dieser 1925 auf der Pariser Kunstgewer- 
beausstellung die formalen Mittel der holländischen 
Dsiijllt-BÖWQQUÜQ in einer aufsehenerregenden Weise 
für die Ausstellungsarchitektur der österreichischen 
Theaterabteilung einsetzte (Abb. 6, 7). Schon ein Jahr 
zuvorverarbeitet er fürdie Gestaltung der i-Ausstellung 
neuerTheatertechnikk im Wiener Konzerthaus das hol- 
ländische und russische Vokabular für ein konstruktivi- 
stisches nEnvironment-i, für das es kaum ein vergleich- 
bares zeitgenössisches Beispiel gibt (Abb. 3 - 5). 
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Kiesler ist der bedeutendste österreichische Vertreter 
des Konstruktivismus der Zwischenkriegszeit. Er war 
ein Visionär, der von utopischen Konstruktionen und 
Raumformen träumte, die als konkrete Bauten unvor- 
steilbar waren. In erlebbare Form konnte er sie nur dort 
umsetzen. wo die vorgesehene Funktion die Möglich- 
keit experimenteller Gestaltung offen ließ. Kiesler fand 
diese Voraussetzungen im Rahmen der Erneuerungs- 
bestrebungen im Theater und im Ausstellungsbau. Dort 
war es möglich, Raumkonzepte in lebensgroßer Form 
auszuführen und sie der Öffentlichkeit. wenn auch nur 
kurzfristig, zugängig zu machen. in diesen "vergängli- 
chenii Medien war selbst das Wiener Publikum tolerant 
und sogar an ungewöhnlichen Formen interessiert, 
denn es wurde nicht an seiner durch die eisernen Fes- 
seln derTradition gebundenen konservativen Kunstein- 
stellung gerüttelt. So fanden Kiesiers Ausstellungskon- 
struktionen fast mehr Beachtung als die Modelle und 
Zeichnungen. für deren Präsentation sie dienten. und 
sie erhielten auch überraschend positive Kritiken 
(Abb. 3, 6). 
Die vlnternationale Ausstellung neuer Theatertechnikrr 
konfrontierte das Wiener Publikum nicht nur mit den 
konstruktivistischen Formen Kieslers. sondern über- 
haupt mit den radikalsten künstlerischen Gestaltungen 
der Zeit. Das Konzept dieseravantgardistischen Schau 
zeigt, daß der Architekt die besten und vielfältigsten 
Kontakte zur internationalen Kunstszene hatte und laßl 
die Bedeutungerkennen,dieihmfürdieVermittlungdes 
aktuellsten Kunstgeschehens in Wien zukommt." Zu- 
sammen mitdergleichzeitig in derSecession gezeigten 
Malerei und Plastikbotwien im Herbst 1924 einen Quer- 
schnitt durch das zeitgenössische Kunstangebot, wie 
er in so konzentrierter Form sonst nirgendwo zu sehen 
war. Dieses Bildwurde nochdurch die vösterreichische 
Kunstausstellung 1900 -1924(t im Künstlerhaus und 
eine Kokoschka-Ausstellung in der Neuen Galerie (heu- 
te Galerie nächst St. Stephan) bereichert. Alle diese Ak- 
tivitäten fanden ein großes Echo in der Tagespresse, 
lockten große Zuschauermengen an und provozierten 
hitzige Diskussionen. Wenn auch die modernen Kunst- 
tendenzen vielfach abgelehnt wurden und satirische 
Kommentare und Karikaturen das Geschehen begleite- 
ten. so muß doch betont werden, daB die Werke der 
künstlerischen Avantgarde nicht in der Isolation men- 
schenieerer,versteckterGalerien,Ateliers oderHinter- 
zimmer gezeigt wurden, sondern durch die prominen- 
ten Ausstellungsorte und die ausführliche Berichter- 
stattung in der interessierten Öffentlichkeit präsent wa- 
ren. Es ist notwendig. sich das hier kurz skizzierte geisti- 
ge und organisatorische Umfeld vor Augen zu halten, 
wenn man die Frage nach dem Stellenwert konstruktivi- 
stischerGestaltunginderWienerKunstszenederzwan- 
ziger Jahre beantworten will. Nicht nur die geometri- 
sche Formgebung hat hier als Leitfaden zu dienen, son- 
dern es giltallejene Phänomene aufzuspüren. die damit 
strukturell verwandt sind. ob sie nun in der bildenden 
Kunst, Typographie oderArchitektur, in der Musik. dem 
Theater oder in geisteswissenschaftlichen Fächern in 
Erscheinung treten. 
Die Theorie und diekünstlerische Praxis des russischen 
Konstruktivismus wurde in Wien bereits ab 1920 be- 
kannt; während einigerJahre erlangte Wien neben Ber- 
lin und Paris sogareine Vermittlerposition zwischen Ost 
und West. die nicht unterschätzt werden sollte. Ein klei- 
nes. aber doch sehr bezeichnendes Detail für diese 
Konstruktivismusrezeption ist eine in der Arbeiterzei- 
tung vom 27. September 1924 erschienene Karikatur, 
die Hans Tietzes Kopf aus geraden Linien zusammen- 
gesetztzeigt und die den Untertitel trägt: vDr. HansTiet- 
ze. Referent des Theaterausstellungsausschusses 
nach Besuch einer konstruktivistischen Ausstellungii 
(Abb. 11). Im Gegensatz zu abschätzig gemeinten 
Zeichnungen in anderen Zeitungen sind die Beiträge in 
der Arbeiterzeitung durchwegs positiv und die den Tex- 
ten beigefügten Karikaturen der bedeutendsten Künst- 
ler und Organisatoren direkt liebevoll gestaltet. Diese 
ldentifikation des Kunsthistorikers mit dem Konstrukti- 
vismus zeigt. wie bekannt sowohl diese Kunstrichtung 
als auch sein Engagement dafür war. 
Am Beginn des Jahrzehnts waren zunächst die nach 
Wien emigrierten ungarischen Künstler die Träger des 
konstruktivistischen Gedankengutes (Abb. 12). Sie 
brachten es abernicht aus ihrer Heimat mit, sondern ih- 
re Auseinandersetzung mit den neuen Formen und 
Theorien begann erst im Laufe des Jahres 1920 in Wien. 
Der nun folgenden künstlerischen,publizistischen und 
organisatorischen Aktivität dieser Gruppe hat Wien viel 
zu verdanken. Die in der Literatur auch heute noch ver- 
tretene Ansicht. daß die Ungarn hier kaum zur Kenntnis 
genommen wurden, ist falsch. Dieser Eindruck konnte 
nur entstehen, weil über ihre Tätigkeit keine grundle- 
genden Untersuchungen angestellt wurden. Erst in 
jüngster Zeit hat eine Aufarbeitung seitens ungarischer 
Kunsthistoriker begonnen, die bereits eine Fülle wichti- 
ger Daten erbracht. aber an der vlsolationstheorieu 
nichts geändert hat? So stellt Eva Bajkay-Rosch im 
vergangenen Jahrdie Frage: wWie konnte Wien ein Exil- 
zentrum für Ungarn sein, als die österreichische Avant- 
garde in das Ausland geflohen warih?" Dieser völlig un- 
begründeten Ansicht muß entgegengehalten werden, 
daßgerade in denJahren, in welchendie Ungarn in Wien 
lebten. hieraufkünstlerischem,musikalischem, literari- 
schem und geisteswissensohaftlichem Gebiet hervor- 
ragende Leistungen vollbracht wurden. Es gab ein akti- 
ves. interessantes und vielfältiges intellektuelles Um- 
feld, in dem die ungarischen Künstler ihre Theorien und 
ihre praktischen Ergebnisse verbreiten konnten. in dem
	        
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