genössische Kunst zu fördern, der die Voraussetzung
für die Durchführung anspruchsvoller und von anderen
Städten kaum überbotener Kunstprojekte durch die Ge-
meinde Wien und die sozialdemokratische Partei war.
Ausdruck dieser kulturpolitischen Interessengemein-
schaft istdie in derArbeiterzeitung während des Musik-
und Theaterfestes von 1924 auf hohem intellektuellem
Niveau geführte. kritisch vermittelnde Auseinanderset-
zung mit dem in Konzerten, Theateraufführungen, Aus-
stellungen und Vorträgen Gebotenen. Das die aktiv dar-
an Beteiligten verbindende Elementwar wohl die Affini-
tät in gesellschaftspolitischen Fragen, die zwischen der
neuen politischen Macht in dieser Stadt und den theore-
tischen Programmen engagierter Künstler und Künst-
lergruppen in Ost und West bestanden hat; diese Über-
einstimmung dürfte das verschiedentlich zu Tage tre-
tendemangelnde Verständnisfürdie konkreten künstle-
riechenErgebnisseausgeglichen habenßotreffensich
manche ldeen Tietzes mit dem gesellschaftsbezoge-
nen Denken der russischen und holländischen Künstler
aberauch mit jenem Fernand Legers: zum Beispiel sei-
ne Auffassung der Kunst als ein soziologisches Pro-
blem. seine Forderung, die Trennung von Kunst und Le-
ben aufzuheben, die zeitgenössische Kunst größeren
Bevölkerungskreisen einschließlich der Arbeiterschaft
zugängig zu machen und dazu in der Kunstvermittlung
von einer ästhetisierenden auf eine inhaltsbezogene
Auffassung umzuschwenken. um von dieser Seite her
ein neues, gegenwartsbezcgenes Kunstverständnis
aufzubauenAnläßlich der 1 930 im Künstlerhaus veran-
stalteten Ausstellung "Die Kunst in unsererZeitif erklärt
Tietze programmatisch: nUnsere Ausstellung ist grund-
sätzlich von anderen Veranstaltungen dieser Art unter-
schieden; während diese auf dem Boden einer ästheti-
schen oder historischen Auffassung stehen. betrachten
wirdie Kunst als ein soziologisches Problem. Wirfragen
weder. auf welche Art diese oderjene künstlerische Er-
scheinung zustande gekommen ist. noch versuchen
wir, die Leistungen aufGrund ihrer rein künstlerischen
Qualitäten zu klassifizieren; unser Augenmerk richtet
sichvielmehrdarauf,wasdie Kunst-das ist dasleben-
dige und als lebendig empfundene künstlerische Schaf-
fen - heute im Leben der Allgemeinheit bedeutelÄg
Ganz in diesem Sinn lauten die damals durch den in
Wien lebenden konstruktivistischen Maler. Literaten
und Theoretiker Lajos Kässak in seinen Schriften und öf-
fentlich gehaltenen Vorträgen propagierten Ideen: Er
sieht die wirkliche Kunst als Synthese des gegenwärti-
gen Lebens und meint, daß es fortan keine gesonderte
Gesellschaft und keine gesonderte Kunst geben werde,
denn Kunst und Leben aber auch Kunst, Wissenschaft
und Technik müßten als Einheit aufgefaßt werden."
Solche und ähnliche Programme sind damals in der
europäischen Avantgarde häufig anzutreffen. in Ruß-
land, in Holland. am Weimarer Bauhaus aber auch in
Frankreich und Italien. Den russischen Thesen kommt
aber in den frühen zwanziger Jahren vor dem Hinter-
grund der politischen und der mit ihr eng verbundenen
künstlerischen Revolution eine besondere Bedeutung
zu. Dies betrifft umso mehrdie WienerSituation. als hier
durch die Aktivität der ungarischen Künstler das neue
Gedankengutzu einem sehrfrühen Zeitpunktverfügbar
wird und im Rahmen der neuen politischen Verhältnisse
während einiger Jahre eine günstige Basis für die Re-
zeption dieser Ideen vorhanden ist." Bürgermeister
Karl Seitz. der im Laute des Musik- und Theaterfestes
von 1924 sowohl die radikal moderne Secessions-Aus-
stellung Tietzesals auchdieavantgardistischeTheater-
technik-Ausstellung Kieslers eröffnete. rechtfertigte
die hohen Ausgaben der Gemeinde Wien für diese Akti-
vitäten im Gemeinderat mit folgenden Worten: DWiT ha-
ben gezeigt, daß Wien auch auf dem Gebiet der Kunst
eine schaffende Stadt ist und daßwir neue Kräfte zu för-
dern verstehenß" Einerder wichtigsten Initiatoren und
Förderer dieses Kulturprogrammes der Gemeinde
Wien war der Leiter der sozialdemokratischen Kunst-
stelle und Kunstberater der Stadtverwaltung David
Bach?" Um ein detailliertes Bild dieser komplexen Zu-
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sammenhänge und Querverbindungen zwischen den
damals in Wien aktiv an der Rezeption der modernen
Kunststrbmungen beteiligten Personen. Gruppen und
Institutionen zu gewinnen, bedarf es jedoch noch eines
umfangreichen Quellenstudiums.
Von seiten der Künstler ist Friedrich Kiesler einer der
wichtigsten Pfeiler, auf welchen Wiens Stellung als
Schauplatz aktueller Kunsttendenzen in den zwanziger
Jahren ruht." Er arbeitete hier zwar nur bis 1926, doch
hat er durch seinen großen persönlichen Einsatz Kon-
zepte durchgesetzt. von welchen andere Avantgarde-
Künstler damals nur träumten: nSie taten, was wir alle
einmal zu tun hofften-i. sagte Theo van Doesburg zu
Kiesler". als dieser 1925 auf der Pariser Kunstgewer-
beausstellung die formalen Mittel der holländischen
Dsiijllt-BÖWQQUÜQ in einer aufsehenerregenden Weise
für die Ausstellungsarchitektur der österreichischen
Theaterabteilung einsetzte (Abb. 6, 7). Schon ein Jahr
zuvorverarbeitet er fürdie Gestaltung der i-Ausstellung
neuerTheatertechnikk im Wiener Konzerthaus das hol-
ländische und russische Vokabular für ein konstruktivi-
stisches nEnvironment-i, für das es kaum ein vergleich-
bares zeitgenössisches Beispiel gibt (Abb. 3 - 5).
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Kiesler ist der bedeutendste österreichische Vertreter
des Konstruktivismus der Zwischenkriegszeit. Er war
ein Visionär, der von utopischen Konstruktionen und
Raumformen träumte, die als konkrete Bauten unvor-
steilbar waren. In erlebbare Form konnte er sie nur dort
umsetzen. wo die vorgesehene Funktion die Möglich-
keit experimenteller Gestaltung offen ließ. Kiesler fand
diese Voraussetzungen im Rahmen der Erneuerungs-
bestrebungen im Theater und im Ausstellungsbau. Dort
war es möglich, Raumkonzepte in lebensgroßer Form
auszuführen und sie der Öffentlichkeit. wenn auch nur
kurzfristig, zugängig zu machen. in diesen "vergängli-
chenii Medien war selbst das Wiener Publikum tolerant
und sogar an ungewöhnlichen Formen interessiert,
denn es wurde nicht an seiner durch die eisernen Fes-
seln derTradition gebundenen konservativen Kunstein-
stellung gerüttelt. So fanden Kiesiers Ausstellungskon-
struktionen fast mehr Beachtung als die Modelle und
Zeichnungen. für deren Präsentation sie dienten. und
sie erhielten auch überraschend positive Kritiken
(Abb. 3, 6).
Die vlnternationale Ausstellung neuer Theatertechnikrr
konfrontierte das Wiener Publikum nicht nur mit den
konstruktivistischen Formen Kieslers. sondern über-
haupt mit den radikalsten künstlerischen Gestaltungen
der Zeit. Das Konzept dieseravantgardistischen Schau
zeigt, daß der Architekt die besten und vielfältigsten
Kontakte zur internationalen Kunstszene hatte und laßl
die Bedeutungerkennen,dieihmfürdieVermittlungdes
aktuellsten Kunstgeschehens in Wien zukommt." Zu-
sammen mitdergleichzeitig in derSecession gezeigten
Malerei und Plastikbotwien im Herbst 1924 einen Quer-
schnitt durch das zeitgenössische Kunstangebot, wie
er in so konzentrierter Form sonst nirgendwo zu sehen
war. Dieses Bildwurde nochdurch die vösterreichische
Kunstausstellung 1900 -1924(t im Künstlerhaus und
eine Kokoschka-Ausstellung in der Neuen Galerie (heu-
te Galerie nächst St. Stephan) bereichert. Alle diese Ak-
tivitäten fanden ein großes Echo in der Tagespresse,
lockten große Zuschauermengen an und provozierten
hitzige Diskussionen. Wenn auch die modernen Kunst-
tendenzen vielfach abgelehnt wurden und satirische
Kommentare und Karikaturen das Geschehen begleite-
ten. so muß doch betont werden, daB die Werke der
künstlerischen Avantgarde nicht in der Isolation men-
schenieerer,versteckterGalerien,Ateliers oderHinter-
zimmer gezeigt wurden, sondern durch die prominen-
ten Ausstellungsorte und die ausführliche Berichter-
stattung in der interessierten Öffentlichkeit präsent wa-
ren. Es ist notwendig. sich das hier kurz skizzierte geisti-
ge und organisatorische Umfeld vor Augen zu halten,
wenn man die Frage nach dem Stellenwert konstruktivi-
stischerGestaltunginderWienerKunstszenederzwan-
ziger Jahre beantworten will. Nicht nur die geometri-
sche Formgebung hat hier als Leitfaden zu dienen, son-
dern es giltallejene Phänomene aufzuspüren. die damit
strukturell verwandt sind. ob sie nun in der bildenden
Kunst, Typographie oderArchitektur, in der Musik. dem
Theater oder in geisteswissenschaftlichen Fächern in
Erscheinung treten.
Die Theorie und diekünstlerische Praxis des russischen
Konstruktivismus wurde in Wien bereits ab 1920 be-
kannt; während einigerJahre erlangte Wien neben Ber-
lin und Paris sogareine Vermittlerposition zwischen Ost
und West. die nicht unterschätzt werden sollte. Ein klei-
nes. aber doch sehr bezeichnendes Detail für diese
Konstruktivismusrezeption ist eine in der Arbeiterzei-
tung vom 27. September 1924 erschienene Karikatur,
die Hans Tietzes Kopf aus geraden Linien zusammen-
gesetztzeigt und die den Untertitel trägt: vDr. HansTiet-
ze. Referent des Theaterausstellungsausschusses
nach Besuch einer konstruktivistischen Ausstellungii
(Abb. 11). Im Gegensatz zu abschätzig gemeinten
Zeichnungen in anderen Zeitungen sind die Beiträge in
der Arbeiterzeitung durchwegs positiv und die den Tex-
ten beigefügten Karikaturen der bedeutendsten Künst-
ler und Organisatoren direkt liebevoll gestaltet. Diese
ldentifikation des Kunsthistorikers mit dem Konstrukti-
vismus zeigt. wie bekannt sowohl diese Kunstrichtung
als auch sein Engagement dafür war.
Am Beginn des Jahrzehnts waren zunächst die nach
Wien emigrierten ungarischen Künstler die Träger des
konstruktivistischen Gedankengutes (Abb. 12). Sie
brachten es abernicht aus ihrer Heimat mit, sondern ih-
re Auseinandersetzung mit den neuen Formen und
Theorien begann erst im Laufe des Jahres 1920 in Wien.
Der nun folgenden künstlerischen,publizistischen und
organisatorischen Aktivität dieser Gruppe hat Wien viel
zu verdanken. Die in der Literatur auch heute noch ver-
tretene Ansicht. daß die Ungarn hier kaum zur Kenntnis
genommen wurden, ist falsch. Dieser Eindruck konnte
nur entstehen, weil über ihre Tätigkeit keine grundle-
genden Untersuchungen angestellt wurden. Erst in
jüngster Zeit hat eine Aufarbeitung seitens ungarischer
Kunsthistoriker begonnen, die bereits eine Fülle wichti-
ger Daten erbracht. aber an der vlsolationstheorieu
nichts geändert hat? So stellt Eva Bajkay-Rosch im
vergangenen Jahrdie Frage: wWie konnte Wien ein Exil-
zentrum für Ungarn sein, als die österreichische Avant-
garde in das Ausland geflohen warih?" Dieser völlig un-
begründeten Ansicht muß entgegengehalten werden,
daßgerade in denJahren, in welchendie Ungarn in Wien
lebten. hieraufkünstlerischem,musikalischem, literari-
schem und geisteswissensohaftlichem Gebiet hervor-
ragende Leistungen vollbracht wurden. Es gab ein akti-
ves. interessantes und vielfältiges intellektuelles Um-
feld, in dem die ungarischen Künstler ihre Theorien und
ihre praktischen Ergebnisse verbreiten konnten. in dem