"l lfred Xtange
BEMERKUNGEN ZUR GOTISCHEN MALEREI IN NORDFRANKREICH
Im Sommer 1962 wurde im Palais Galliera in
Paris! eine große, ebenso beachtenswerte wie
merkwürdige Tafel mit der Darstellung der
Austreibung der Händler und Wechsler aus
dem Tempel versteigert. Diese Darstellung der
Tempelreinigung 7 nunmehr im Besitz von
llerrn Jean Neger in Paris 7 kann, wie wir
meinen, zu einer grundsätzlichen Betrachtung
der spätgotischen Malerei in Nordfrankreich,
insbesondere in der Picardie, führen. So sei
ihr zuvor eine eingehendere Betrachtung
gewidmet.
Das Bild 7 auf Eichenholz gemalt und
167X98 cm groß 7 zeigt einen gotischen
Kirchenraum, dessen tiefer Chorteil abge-
winkelt ist. lm vorderen Schiff spielt die tur-
bulente Szene der Austreibung. Christus steht
links neben dem vorderen Pfeiler, zornigen
Blickes, eine Geißel über seinem Haupte
schwingend und mit der Linken ein Zahlbrett
umstoßend. Solcher leidenschaftlichen Gebärde
gegenüber weichen die Wechsler und Krämer
erschreckt nach rechts aus. Teils verlegen, teils
wütend blicken sie zu Christus hin. Der ihm
am nächsten sitzende Händler hat den linken
Arm schützend über seinen Kopf gelegt. Auch
der hinter ihm kniende und der stehende Mann
mit dem Lamm auf den Schultern äußern
noch passive, mehr abwehrende Gebärden.
Der Dicke dagegen in dem Damastgewand, der
sich an Wechseltisch und Stuhlpfosten fest-
hält, versucht nach der Seite auszuweichen,
wo sich eine Front aggressiver Männer
gebildet zu haben scheint, die ihren geöffneten
Mündern zufolge Christus opponieren. Hinter
ihnen entweicht einer schon durch das kaum
sichtbare seitliche Portal. Und vorn ist eine
modisch gekleidete Frau, die in Haltebändern
zwei Kinder auf dem Rücken trägt und
Körbchen mit Eiern und Täubchen an den
Armen hält, zu Boden gesunken. Tiere füllen
den Vordergrund neben ihr. So ist der Bibel-
text 7 Und Jesus ging in den Tempel und
fand sitzen da, die Ochsen, Schafe und Tauben
feilhielten, und Wechsler, und er machte eine
Geißel aus Stricken und trieb sie alle, Verkäufer
und Käufer, zum Tempel hinaus, samt den
Schafen und Ochsen, und stieß die Tische und
Stühle um und Verschüttete den Wechslern
das Geld (Matth. Z1, 12-13; Mark. 11, 15717;
Joh. 2, 14-16) 7 in der Gruppierung der
Figuren, ihren Bewegungen und ihrer Mimik
sehr dramatisch veranschaulicht.
Die Figuren haben verhältnismäßig kleine
Körper, große Köpfe und sind bunt in
modische oder auch phantastische Gewänder
gekleidet. Da zeigt sich der Realismus des
Malers, insgesamt ist es ein expressiver
Realismus. Demgemäß ist die Szene kompo-
niert. Sie ist nicht räumlich verständlich
geordnet, überhaupt sind die Gesetze der
Perspektive durchaus freizügig verwendet.
Und ebenso sind die Figuren nur im All-
gemeinsten anatomisch richtig erfaßt. Das eine
sichtbare Bein des Mannes vorn rechts mit
dem Böckchen vor der Brust ist völlig un-
möglich nach rückwärts gedreht. Weitgehend
unklar ist auch der Bau von Christi kindlichem
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Körper, ist das Ausschreiten seines rechten
Beines. Aber wie auch immer, jede Bewegung
ist ausdrucksvoll sprechend, und das war dem
Maler wichtiger als anatomische Richtigkeit.
Aussagereich sind die Körpergebärden, sind
die Gesten der Arme und llände. Die am
Boden hockende Frau ist dafür ein vorzüg-
liches Beispiel. Erschrocken über Christi
Leidenschaft ist sie gestürzt, wendet sich ihm
aber zugleich zu, mit der einen Hand sich auf-
stützend, mit der anderen wie mit der Mimik
ihres Gesichtes ihr Entsetzen ausdrückend. Als
expressive Gebärde ist auch die Gruppe der
Händler und Wechsler im ganzen zu verstehen.
Die Erregung, die Wut, der böse Wille und
wohl auch ein gewisser, sich gegen Christus
erhebender Widerstand sind sehr anschaulich
deutlich gemacht. Und als Ausdrucksgebärde
ist die Architektur um die Figurengruppe
gelegt. Sie hat sich in der Phantasie des
Malers nicht zu einem autonomen Raummotiv
ausgeformt, sie erstand mit den Figuren als
Ausdeutung des Schauplatzes des aufregenden
Geschehens und als dessen Dramatik inter-
pretierende Gebärde. Nicht als Bühne ist sie
verstanden, vielmehr soll sie helfen, die
Turbulenz des Geschehens zu unterstreichen,
ja wohl noch zu steigern. Mit diesem Ziel ist
sie um die Figurengruppe gebaut, ist der
Chorraum aus der Achse in die Tiefe ab-
geknickt, ist sie staffiert.
Der Maler hat zeichnend und malend alle
Register gezogen, um dem Bild einen leb-
haften, ja einen leidenschaftlichen Charakter
zu geben. Hell belichtete und mehr im Schatten
liegende oder auch dunkel getönte Formen
wechseln in der Architektur des Kirchen-
raumes in raschen Rhythmen. Dazu verdeut-
lichen hockende Figiirchen die Funktion der
Gewölbeansätze, zieren tänzerisch bewegte
Gestalten, zwei ritterliche XVächter, ein Mönch
und ein alttestamentlicher Prophet, vom die
portalartige Rahmung. Unten aber steht
Christus in dunkelviolettem Gewand neben
der Frau in rotem, grün gefüttertem Mantel
und damastenem Kleid, füllt weiterhin ein
lebhaftes Mosaik verschiedenfarbiger Gewän-
der die Fläche. Rot, Grün, Gelb und Blau
sind mannigfach ineinander verflochten. Und
das lnkarnat der Figuren spielt zwischen
Zartgelb und Rot, bald heller, bald dunkler.
Wie eine Gloriole umfängt der lichte Chorraum
Christus in seinem violetten Gewand, das
unruhige Geschiebe der Händler aber ist in
die graugrüne Wand rechts eingebunden.
Diese wiederum gewährt in der Mitte, wo die
Gruppe davor sich teilt, durch eine Tür einen
Ausblick auf einen von Häusern mit Staffel-
giebeln umgebenen Hof, eine für die Land-
schaft sehr charakteristische Baugruppe. Zwei
Neugierige blicken, sich mit den Körpern
hinter den Wänden bergencl, heimlich herein.
Und am Altar agieren zwei grotesk kostü-
mierte Priestergestalten; einige Figürchen
stehen davor.
Nichts in dem Bilde, so unruhig es zuerst
erscheint, ist dem Zufall überlassen. Wie viele
spätgotische Maler bedrängte den Meister
eine ängstliche Scheu vor leerer Fläche. Die
ANMERKUNGEN: 1
I Vrtstcigcrungskalalog des Palais GllllCtil, Paris, 25. Juni 1952,
Nr. 54.