Oskar Holl
ORDNUNG ALS WIDER-
SPRUCH - ÜBER DEN
MALER AUGUSTIN
TSCHINKEL
OskarHoll
ORDNUNG ALS WIDER-
SPRUCH - ÜBER DEN
MALER AUGUSTIN
TSCHINKEL
Augustin Tschinkel, Spiritus, 193D. Zeichnung
Augustin Tschinkel rager Vorstadt, 1935. Öl
Augustin Tschink , ie Brucke, 1958. Ol
Augustin Tschinkel, nhorbare Schüsse, 1959, Ol
hon-
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Nicht alltäglich ist, daß ein Künstler gerade dann
seinen bisherigen Stil aufgibt, wenn er endlich
damit Publikumserfolg haben könnte. Der aus
Prag stammende Maler Augustin Tschinkel be-
wies diese wohl nicht allen verständliche Zivil-
courage. Vor dem zweiten Weltkrieg gehörte er
mit Malern wie Gerd Arntz, Heinrich Hoerle und
Franz W. Seiwert zu den Sohöpfern der konstruk-
tivistischen „sozialen grafik". Bereits in den zwan-
ziger Jahren hatte er Franz Pfemferts „Aktion"
angehört. Doch in der Zeit nach 1945 setzte er
weder diesen Weg fort, noch wandte er sich,
was damals nur konsequent gewesen wäre, der
gegenstandslosen Malerei zu. Im Gegenteil,
Tschinkel begann damals, surrealistisch zu
malen. Dabei blieb er bis jetzt,
Handelte Tschinkel so aus purer Lust am Wider-
spruch gegen Mehrheiten oder um die der
abstrakten Kunst immer eigene Gefahr des Ab-
gleitens ins bloß Dekorative zu vermeiden, oder
gibt es echte Folgerichtigkeit im Wandel eines
Konstruktivisten zum Surrealisten? Es mußte
dabei dem ehemaligen Prager Zeichenlehrer an
der Staatlichen graphischen Berufsschule (an-
ders als beispielsweise einem seit 1933 vom
internationalen Kunstleben isolierten Binnen-
deutschen) klar sein, daß der Surrealismus nach
dem zweiten Weltkrieg seinen Höhepunkt,
währenddessen er Medium neuer Erkenntnisse
und auch modern war, trotz eines Salvadore Dali
und eines Rene Margritte, bereits überschritten
hatte.
Die Konsequenz, die einen Konstruktivisten zum
Surrealismus bringen kann, ist nicht so schwer
zu finden. Sie heißt: Ordnung als Widerspruch.
Die Ordnung der bestehenden Verhältnisse wird
überdreht und so in Frage gestellt.
Jedem, der frühe Arbeiten Tschinkels sieht, wird
auffallen, daß der sowieso flächig empfundene
Bildraum noch stärker als bei anderen dazu be-
nützt wird, rhythmische Abfolgen von Ton-
werten oder Schwarz-Weiß-Kontrasten in eine
strenge Komposition zu bringen. Da gibt es zum
Beispiel das 1932 erschienene „Bilderbuch"
„soziale grafik"; es dürfte heute wohl schon
Seltenheitswert haben. Die Beiträge Tschinkels
zu dieser Gemeinschaftsarbeit zeichnen sich
durch eine besondere Vorliebe für Symmetrie
und für das Ostinato der Wiederholung aus
(Abb. 1). Sie zeigen mit künstlerischen Mitteln
die Uniformierung und Entindividualisierung des
Massenmenschen und verwerten Anregungen
aus der Gattung der Bildstatistik. Die Darstel-
lungsart ähnelt der Technik der sogenannten
"Mengenbilder" nach der ..Wiener Methode" des
Wiener „Gesellschafts- und Wirtschaftsmu-
seums"; stereotype Figuren sollten bestimmte
Mengen darstellen. Nicht umsonst war Tschin-
kel 1929-1930 Zeichner für Bildstatistiken an
diesem „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum",
wo Arntz die künstlerische Leitung der Werk-
stätten hatte. (Uber die ganze „Gruppe progres-
siver Künstler", deren in Koln erschienene Zeit-
schrift ,.a bis z" und ihren Stil der .,sozialen
grafik" bereitet Tschinkel gerade eine Publika-
tion vor.) Menschen als gleichförmige, oft sym-
metrisch geordnete „Roboter" zu zeigen, wie es
Tschinkel damals tat, ist als ernste soziale Aus-
sage jederzeit zu verstehen.
Von dem Olgerrtälde ..Prager Vorstadt" (Abb. 2),
Privatbesitz New York, gehen trotz der Be-
schränkung auf wenige scheinbar geometrische
Grundformen große malerische Valeurs aus, und
der Betrachter selbst einer Schwarzweißrepro-
duktion ist sicherlich imstande, Zwischentöne
von Stimmungen herauszulesen. Auch da wieder
fällt der streng durchkomponierte Bildbau auf,
die reine Flächigkeit ist hier mit angedeutetem
perspektivischem Sehen belebt, die Diagonale
vom rechtwinkeligen Fensterrand rechts vorne
zu dem kugeligen Gasbehalter im Hintergrund
wird ganz bewußt durch den Kamin in der Mitte
links s in früheren, etwa impressionistischen
Atelierausblicken ein beliebtes Requisit, genauso
wie die das Dachgeschoß symbolisierende
Leiter a und durch die spielerische Wieder-
holung des Kugelmotivs in den übereinander-
montierten Rauchkringeln abgeschwächt. Blickt
man voraus auf Tschinkels spätere surrealistische
Malweise, dann fällt an diesem Bilde des Jahres
1935 bereits eine Leere auf, wie sie erst in sur-
realistischen Werken mit voller Absicht demon-
striert wird, Es wäre natürlich auch noch legitim,
dieser „Prager Vorstadt" andere malerische Ab-
sichten unterzulegen, etwa auf das vierfache
Auftauchen der Kugelgestalt hinzuweisen, wo-
bei der Gasbehälter selbst wieder auf einem als
Kugelsegment gebildeten Hügel steht. Auch die
reziproke Farbkomposition der Häuserfront im
Mittelteil des Bildes spricht für die besondere,
2
Amn-
Augustin Tschinkel, sp" "tus. 1920. Zeichnung
Augustin Tschinkel, Plage! Vorstadt, 1935. o:
Augustin Tschinkel, Die Brücka, 195a. o:
Augustin Tschinkel, Unhbrbara Schüsse, 1959. Ol