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Volltext: Alte und Moderne Kunst XXIX (1984 / Heft 192 und 193)

 
 
Schon sehrfrüh im Jahre 1944, zu Beginn meinerVorar- 
beiten für die umfangreiche Biographie Kokoschkas, 
kam diese Gegenüberstellung O. K. - Schiele zur Aus- 
sprache. Etwas nebenbei, nurhingemurmelt, aberdoch 
ganz entschieden und fast mit denselben Worten, wie 
sie in dem hiervorliegenden Brief vorkommen. Das hat 
seine Bedeutung, denn schließlich waren zwanzig Jah- 
re vergangen, damals, als ich mit der Niederschrift mei- 
ner Biographie beschäftigt war. und der Brief hat auch 
sein besonderes Gewicht, weil es der eines Künstlers 
an seinen Biographen ist. Nunsollen Briefe vorallem als 
persönliche, also subjektive Dokumente angesehen 
werden, auch wenn sie objektive Tatsachen beinhalten, 
Details sozusagen. die besondere Umstände näher be- 
leuchten, so daß sie als Kriterium betontwerden und so 
als mehr ausschlaggebend gelten können. Nun sagtdie 
kleine Episode aus dem schon zerrütteten Verhältnis 
von O. K. und Alma Mahler eigentlich weniger über die 
beiden Künstleraus als überdie Einstellung eines Publi- 
kums, das um 1914 in seinerStellungnahme zur Moder- 
ne noch unentschieden war, vor allem aber über die Flol- 
le des internationalen Kunsthandels, der sich anmaßte 
Kunstgeschichte zu schreiben und den Zeitgeschmack 
entscheidend zu beeinflussen. In einer Ära. in welcher 
der Kunstförderer und Anreger nicht mehr eine wähleri- 
sche und persönlich entscheidende aristokratisch- 
kultivierte Persönlichkeit ist. sondern ein immer mehr 
anwachsendes Publikum von aspirierenden Sammlern 
und Spekulanten, wird der Kunstwert vom Geldwert ab- 
hängig gemacht, worin vor allem das Interesse veran- 
kert liegt. Was einerseits eine individuelle und ganz per- 
sönliche Aussage ist, ein Aufschrei innerer Qual, der 
AusdruckdräuenderZweifel, aber auch einZeugnis von 
Schönheit. Sinn und Mysterium des Seins, das Kunst- 
werk. das wird zum Börsenprodukt. Doch sagte O. K. be- 
zeichnenderweise: in einer kulturlosen Zeit muli die Un- 
beholfenheit entschuldigt werden, die sich in hohen 
Preisen ausspricht, denn nurwofür der Mensch der Ge- 
genwart viel Geld ausgibt, das schätzt er, und so wird 
das Geld zum Maßstab seiner Würdigung. 
Die peinliche Geschichte des Wiener Publikumge- 
schmacks in den zwei ersten Jahrzehnten dieses Jahr- 
hunderts, die Einstellung zu dem jungen zielbewußten 
Kokoschka - es gab bedeutende Ausnahmen - ist zur 
Genüge bekannt. So auch der glattgeschorene Schädel 
des Künstlers. der in der Presse als Verbrecher hinge- 
stellt, auch als solchererscheinen wollte. Es warja kein 
Sonderfall. Wenn in Paris das Publikum mit Schirmen 
und Stöcken impressionistische Bilder angriff und lä- 
dierte, kam es doch auf dasselbe heraus. Der Durch- 
bruch aus dem Gefängnis des Akademismus war 
schwer, die Geburtswehen schmerzvoll. Auch darf der 
eherne Schrlttder Entfaltung der modernen Kunst nicht 
außer acht gelassen werden. in dem Schule gegen 
Schule, lsmus gegen lsmus, Generation gegen Genera- 
tion ausgespielt wurde. Im Falle Kokoschka - Schiele 
kann kaumvoneinemGenerationsunterschied unddes- 
halb Generationsstilwechsel im Sinne Pinters gespro- 
chen werden, denn beide waren Zeitgenossen in einer 
Umbruchsperiode, fast gleichen Alters. Und doch wies 
Schiele gleichsam in die Zukunft, in eine Zeit, die noch 
nicht war, die sich aber zügelloser gestaltete als die ei- 
gene Gegenwart, in dem derweitere Zerfall und Nieder- 
gang in Sitten, Geschmack und Bewußtsein sich ankün- 
digte: eben die Pornographie, die heute als letzte Zu- 
flucht aus der Atemnot der Abstraktion gilt, dem Anti- 
Art-Paradies der Amerikaner, der fotografischen Phan- 
tasielosigkeit des Superrealismus, der an eine tote 
Kopie des Lebens glauben will. Als ich bei Anlaß der er- 
sten Schiele-Ausstellung in London mit dem englischen 
Maler William Scott durch die Fläume der Galerie wan- 
derte, schüttelte Scott unentwegt den Kopf um endlich 
entrüstet auszustoßen: r-Was haben wir Engländer nur 
die letzten 35 Jahre gemachtihi Das nun war nicht als 
Anerkennung von Schieies künstlerischen Qualitäten 
anzusehen, sondern eher als das Bewußtwerden eines 
alten puritanischen Alpdrucks, der im England unserer 
Tage bewirkt hat. daß kein Journal, keine Zeitschrift. 
kein Buch erscheint, in dem nicht über Sex gesprochen 
wird. so daß einem Zentraleuropäer ganz unwohl zu- 
mute wird. 
Das allzufrühe tragische Hinschwinden eines jungen 
Talentesdas, wer kann eswissen,Wegedes Schöpferi- 
schen betreten haben mag, die nur ahnungsvoll in sei- 
ner Unreife schlummerten und Großes versprachen, ist 
tief in das Bewußtsein seiner Zeitgenossen eingedrun- 
gen, und man versteht gut die Beklommenheit vor dem 
frühen Todeines Künstlers, den Linusgesang der klassi- 
schen Griechen, die das Beklagenswerte in die Sphäre 
der Mythischen emporhoben. aussprechend, daß die 
Götter die llebreizenden und begabten Jünglinge und 
Jungfrauen allzusehr liebten und siedeshalb zu sich be- 
riefen. Mir persönlich ist eine Antithese O. K. - Schiele 
nie zur Wirklichkeit geworden, der junge Kokoschka 
stand hoch darüber und jenseits davon, und das haben 
einige ausenuählte Wiener schon immer begriffen. Ko- 
koschka war rein. Das Positivste. das man über Schiele 
und seine Kunst sagen kann, ist, daß er sein Bewußtwer- 
den des Erotischen als tragisch empfand, als eine Last, 
unter der der Jüngling fast zerbricht, dem Reinen, Un- 
schuldigen nachweinend. Schiele warvordem Erlebnis 
der Eros wie gelähmt, ein Vogel unterdem starren Blick 
der Schlange, der junge Mensch vor dem Medusen- 
haupt. Eros warnichtgesund, erwarfürchterlich, blutig. 
Wenn wir von den wheiligenii Kinderzeichnungen des 
ganz jungen Kokoschka sprechen, den hageren Akro- 
baten-Knaben und Mädchen, dann wissen wir, daß 
nichts von Peter Altenbergs Sensualität angestrebt ist. 
Da war ein dem jungen Künstler heiliges Feuer am 
Werk. lnallden vielen Jahren, da ich Kokoschka kannte. 
also von 1934 in Prag angefangen bis zum Ende in Ville- 
neuve, habe ich ihn nie einen unsauberen Gedanken 
aussprechen hören; er vertrug keine zweideutlge Anek- 
dote, und als ich ihm einmal eine ganz harmlose von 
Max Liebermann erzählte. den er sehr verehrt hat, run- 
zelte er nur dieStirn und blickte leer in den Raum. Dabei 
war er ein leidenschaftlicher, vollblütiger Mensch. 
Zu der Korrespondenz zwischen einem Künstler und 
seinem Biographen - in meinem Falle begann sie 1937 
in Schweden. als Kokoschka in schwierigen Umstän- 
den in dem kleinen Hafenort Polperro in Cornwall lebte, 
und ich versuchte ihm eine Ausstellung in Göteborg zu 
veranstalten, doch hat derAusbruch des Krieges es ver- 
hindert -, in einer solchen Korrespondenz werden vie- 
lerlei Probleme und Fragen berührt. solche politischer 
und humanistischer Natur, dann wieder philosophische 
und religiöse. Zeitgenössisches und Historisches. und 
all dies muß in Betracht gezogen werden, wenn es um 
das Verstehen der Persönlichkeit des Künstlers geht, 
die Vertiefung in sein Wesen. Was in dem vorliegenden 
Brief, einem unter vielen, ausgesprochen wird, ist die 
Beleuchtung gewisser persönlicher Umstände aber 
auchein kulturhistorischer Hinweis.derdie Zeitcharak- 
terisiert. Dem Reinen ist alles rein, dem Bedeutenden 
alles plausibel, weil sein Standpunkt über die Dinge hin- 
ausweist. Und sowie Kokoschka stets seine Landschaf- 
ten von einem höher gelegenen Punkt malte, so dachte 
erauch, einzigartig und oft überraschend, in seinem Sils 
Maria' das, fast unvermerkt in unserer Mitte zu liegen 
kam. 
' De! Ort im Engadin, wo Nietzsche seinen Zarathustra schrieb, 
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