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Man darf auch nicht mit falschen Mafjstäben an die indische
Kunst herangehen. Als die Kunst eines Tropenlandes war sie in
ihrer klassischen Zeit der bewuljte Gegenpol zur griechisch-römi
schen Antike. Man wird ihr eher vom Barock aus gerecht, seien
dies die pergamenischen Skulpturen, seien es Bernini oder Rubens.
Rubens' kraftstrotzende Sinnlichkeit entspricht am ehesten dem in
dischen Ideal des Menschenkörpers und die Gewöhltheit des
„Grand Siede” dem indischen Hotslil. Das indische Hochmittel
alter begreift man eher von der Gotik aus mit ihren Kathedralen,
die freilich, im Gegensatz zu den indischen, vom Innenraum aus
gehen. Zur Rajput-Kunst formen die mittelalterlichen Italiener, am
ehesten die Meister von Siena, eine Brücke.
Man dar! umgekehrt auch nicht einfach die uns bekannte reli
giöse Literatur Indiens als Ausgangspunkt nehmen. Sie stellt nur
eine Seite des Lebens dar. Dieselben Fürsten, welche Riesen
tempel erbauten und weltentsagenden Mönchen ihre Verehrung
bezeugten, lebten in maljlosem Luxus, hielten sich grofje Harems,
Zehntausende von Tänzerinnen, luden grol;e Kurtisanen an ihren
Hof, genossen Theaferaufführungen, jagten in den Pausen zwi
schen den politischen Intrigen und Feldzügen, welche sie fast
dauernd beschäftigt hielten. Und auch der Bürger betrachtete oft
genug seine frommen Handlungen als genügend, sich die Anwart
schaft auf die Erlösung in einem späferen Leben zu reservieren
und inzwischen die Freuden dieser Welf zu genief5en und danach
die des Himmels. Denn die indische Religion verlangt keine ein
malige Entscheidung, die Seelenwanderung erlaubt einen Heils
weg in Etappen, und nur die wahren Frommen wählten den kür
zesten Weg. Die altindische Kunst ist voll von Lebensfreude. Man
mufj sie in der Polarifäf zwischen Lebensbejahung und -Vernei
nung, Sinnen- und Machflust und Entsagung sehen.
Aber eine Definition der indischen Kunst zu versuchen, ist so ge
fährlich wie alle solche Experimente, eine unendlich reiche Kultur
welf in eine Formel zu pressen. Alle bisherigen Versuche haben
einfach entscheidende Entwicklungsphasen als „dekadent" abge-
lehnf und bald die frühe, bald die Gupta-, bald die mittelalter
liche Kunst allein als klassisch gelten lassen. Die Formel von der
„mystischen" Kunst Indiens trifft nur für die späte Gupia-Zeit und
das Mittelalter wirklich zu und auch da nur tür die religiöse
Kunst. Man mufj freilich zugestehen, dafj diese Ideen sich schon
vorher zu bilden begonnen hatten und dalj sie, sehr abge
schwächt und völlig umgedeutet, auch in der islamischen Zeit
fortbestanden haben.
Was man der indischen Kunst eher nachsagen kann, ist eine un
endliche Freude an der Liebe zur Natur und eine starke, aber
gesunde Sinnlichkeit. Und aus dieser erklärt sich ihre Musikalität,
ihr tänzerischer Rhythmus, ihre Sensitivität für die feinsten Schat
tierungen des seelischen Ausdrucks durch den Körper. Aus dieser
erklärt sich auch ihre starke Religiosität, ihre lebendige Mythen
sprache. Das Göttliche wird in allen Dingen erlebt, die göttliche
Liebe in allen Ereignissen. Die Wellentsagung wächst nicht aus
der Verachtung der Welt als solcher, sondern aus der Erkenntnis,
dalj auch das Schönste und Herrlichste in ihr nur ein schwacher
Abglanz des Göttlichen ist. Aber es ist eben dieser Abglanz, und
sein Erlebnis die Brücke zum Göttlichen.