1923, nachdem Jacques Riviere seine Gedichte für die
»Nouvelle Revue Frangaise« abgelehnt hatte, hatte Artaud
die Kritik am Objekt als einen Akt der Freiheit gesetzt. Zu
nehmend sah er die Unmöglichkeit für das »Warenhaus der
Literatur« zu produzieren. In »Die Nervenwaage« erklärte er
das Schreiben von Literatur, stellvertretend für jede Kunst,
zum Produzieren von Abfall. Er insistiert auf einer nicht ein
zulösenden Einheit von Denken und Tun, von Konzept und
Gestus als Befreiungsstrategie. Aus dieser Perspektive ist
auch seine Negation einer Differenz zwischen Kunstobjekt
und Gedanke, zwischen Literatur und Wahrheit, zwischen
Objekt und empirischer Wirklichkeit zu verstehen. Atemlos
umschreibt er das gnostische Konzept einer Verschmelzung
von Körper und Geist, indem er das Denken selbst als Objekt
definiert und damit eine Aufhebung der Autorität des Objek
tes beschwört.
Die hier kurz charakterisierten Posititionen von Artaud und
Wols können als unmittelbar prägende Bezugspunkte der
europäischen Nachkriegskunst von Mathieu über Vostell, von
Beuys bis zu den Positionen der Arte Povera und den Wiener
Aktionisten gelesen werden. Die dabei zutage tretenden
Unterschiede zur amerikanischen Position haben die Ent
wicklungen in der Nachkriegskunst bis heute geprägt und
sollten gerade bei einer historischen Bearbeitung des hier vor
liegenden Themas mitbedacht werden. Eine isolierte Be
trachtung der Traditionsbezüge der europäischen Nach
kriegskunst ist aber ohne ein bedeutendes Mitbedenken der
revolutionären Entwicklungen in der amerikanischen Kunst
nicht möglich. Gerade in bezug auf den performativen Gestus
der Kunst gibt es eine Genealogie, die sich in der Vergangen
heit zu einseitig auf die amerikanischen Positionen der
fünfziger Jahre und ihren Einfluß auf die europäischen Künst
ler bezogen hat. Die Dimensionen der Werke von Wols und
Artaud bieten parallel und zusätzlich zu den Werken der
Dadaisten, Duohamps und Pollocks weitere einflußreiche
historische Bezugspunkte für eine Neubewertung der Ent
stehungsgeschichte gewisser performativer Positionen in der
europäischen Kunst der letzten fünfzig Jahre.
Mit der Öffnung des Einflußbereiches der UdSSR vor dem
Flintergrund eines Niedergangs des Kommunismus und der
11 Beispielsweise kommt in einem Buch, das einen so umfassen
dem Anspruch erhebt wie dasjenige, das Sandro Boccola 1994
unter dem Titel Die Kunst der Moderne - Zur Struktur und Dyna
mik ihrer Entwickiung. Von Goya bis Beuys herausgebracht hat,
die poststaiinistische inoffizielle russische Kunst genausowenig
vor wie irgendeine andere Position aus den Ländern des ehemali
gen Ostblocks.
Veränderungen des Kapitalismus stehen wir heute einer
dieser amerikanisch-europäischen Nachkriegssituation ähn
lichen Verschiebung im geopolitischen Bereich gegenüber,
deren Auswirkungen allerdings noch nicht beurteilbar sind.
Erst jetzt können wir weitgehend über jene Informationen
verfügen, die ein Erkennen der Situation der Kunst im Kom
munismus seit Stalins ab den zwanziger Jahren ein
geschlagenem Isolations- und Knebelungskurs ermöglichen.
Wir können auch zunehmend die langsame Entwicklung auto
nomer und vom Staatsapparat unabhängiger Positionen in
der russischen Kunst seit den frühen sechziger Jahren erken
nen, und es wird immer klarer, daß eine umfassende Ge
schichte oder Phänomenologie der transkontinentalen Bezie
hungen der Moderne und Avantgarde ohne eine Integration
der nachstalinistischen russischen Kunst notgedrungen
lückenhaft bleiben würde." Durch die in den letzten Jahren
stattfindenden radikalen Veränderungen der global- und
gesellschaftspolitischen Realitäten verbinden sich nunmehr
die Positionen der russischen Kunst des frühen Jahr
hunderts und deren ideologische Auswirkung auf die Ent
wicklung der Moderne und Avantgarde mit einem jetzt erst
zugänglichen Wissen über die nonkonformistische russische
Kunst der letzten Jahrzehnte. Etwa seit den frühen sechziger
Jahren kehren die russischen Künstler wieder schrittweise in
den Kontext der Moderne zurück, zu deren Entwicklung sie in
den Revolutionen der ersten Avantgarden des russischen
Futurismus und des Suprematismus Entscheidendes beige
tragen hatten. Die Dunkelheit, in der sich die Moderne in
Rußland über dreißig Jahre lang befand, war nicht nur ein
jeder Auseinandersetzung zwischen Totalitarismus und Kunst
gemeines Phänomen, sondern auch die tragische Folge des
entgrenzten idealistischen Pragmatismus der Stalin-Periode.“
Der russische Dichter Joseph Brodsky fand für den daraus
resultierenden gesellschaftlichen Zustand das Sprachbild des
»durch seine Verwüstung angsteinflößenden Ortes«. Diese
Formulierung des großen Dichters beschreibt treffend jene
Leere, der sich die Künstler mit ihren Autonomieforderungen
ausgesetzt sahen. Sie ist als solche in der russischen Kunst
der letzten vierzig Jahre ununterbrochen thematisiert worden.
Platte dies aufgrund der anhaltenden Wirksamkeit der Repres-
12 Andreij Erofeev weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß
es in Görings Kunstsammlung sehr wohi Arbeiten der Impressio
nisten gab, während Stalin ausnahmslos alle Sphären freier
künstlerischer Tätigkeit - beispielsweise auch Kunst von Kindern
oder Volkskunst - in den Rahmen seines ideologischen Systems
zwängte. Siehe dazu: Andreij Erofeev, »Die Kunst der Nonkonfor-
misten«, in: Kunst im Verborgenen, Rußiand 1957-1995,
München 1995.