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Peter Weibel, Media Lung, 1968
gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeits- und Ver
haltenssysteme interpretierte und in deren Kommuni
kationsprozeß zu intervenieren versuchte. In den darauffol
genden Jahren verstärkte sich diese Tendenz bis zu den
1958/59 stattfindenden beiden »Literarischen Kabaretts«, in
denen die Kritik am literarischen Text bereits so weit vorange
trieben war, daß das dabei entstehende konzeptive Vakuum
mit ereignishaften Szenen, in der Diktion der Wiener Gruppe
»Begebenheiten« genannt, ausgefüllt wurde. Wiener berich
tet in diesem Zusammenhang von einer Bemerkung Konrad
Bayers, der gemeint hatte, daß man, würde man so weiter
machen, »beim bloßen Vorzeigen von Gegenständen landen«
würde.’“ Um 1957 traten also bereits jene Strukturen in den
Vordergrund, die auch die Positionen der Aktionisten bestim
men sollten. Die Kritik an der Repräsentation führte zur
performativen Aufladung des Kunstwerks, um hinter die Rea
litäten zu gelangen. So wie sich in den Arbeiten der Wiener
Gruppe aus dem Umgang und der analytischen Dekonstruk-
tion von Sprache und Sprachgewohnheiten bereits um 1957
performative Modelle entwickelten, wird auch im Wiener
Aktionismus das Kunstobjekt zum Werkzeug einer Unter
suchung von Repräsentationsmodellen, wobei es gestisch
mit Bedeutung aufgeladen wird. Oswald Wiener hat diesen
Mechanismus 1968 in einem Vonwort zu Nitschs erstem Buch
als gemeinsame »Politik der Erfahrung« beschrieben. In sei
ner Analyse nennt er den gemeinsamen Gegner, nämlich
18 Siehe dazu: Oswald Wiener, »das »literarische cabaret« der wiener
gruppe«, in: die wiener gruppe (wie Anm. 16), S. 309
Kultur und Wirklichkeit als Pole eines unmündigen Bewußt
seins. Das gemeinsame Ziel ist die Erschaffung von »Sinn«.
Dieser warte, so formuliert Wiener, »nicht auf Entdeckung«,
sondern werde »erzeugt«. Darüber hinaus sei »Sinn« bzw.
»Bedeutung« eine »Dimension der Kommunikation«.’“ Wie
ner gibt hier eine Anleitung zur Phänomenologie des Gestus
als freiem sinnstiftenden Akt, ganz im Sinne von Flussers ein
leitend beschriebener Theorie der Geste. Im Zentrum steht ein
Kunstverständnis, bei dem zuallererst der aktiven, sinnstiften
den Geste, also einer, so könnte man es nennen, Aktion,
ursächliche Bedeutung zukommt. In den späten fünfziger
Jahren deutete sich so in den Arbeiten der Wiener Gruppe
eine Position an, die den künstlerischen Paradigmen gleicht,
die sich zur selben Zeit auch international durchsetzen. In
einer Verschiebung der Gewichtung wird ein statischer
Werkbegriff nun endgültig vom Prozeß, der Situation, dem
Konzept, der Aktion - von einer performativen Plastizität des
Gedankens - abgelöst.
Die unmittelbaren Bezugspunkte für die Entwicklungen des
Wiener Aktionismus sind die expressionistische Tradition der
ersten Wiener Moderne der Jahrhundertwende, die Ausein
andersetzung mit dem radikalisierten Surrealismus der
amerikanischen Abstrakten Expressionisten und mit gewissen
europäischen Positionen wie jener Artauds und Wols’, eine in
den Arbeiten der Wiener Gruppe konzentrierte, analytische
und performative Basis und das Selbstverständnis der Künst-
19 Oswald Wiener, »Vorwort«, in: Hermann Nitsch, Orgien Mysterien
Theater, Darmstadt 1969, S. 21 ff.