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Franz West, Ohne Titel,
1978-79. Sammlung Julius Hummel, Wien
ler, nach wie vor an den Kernpunkten einer idealistisch
narrativen Interpretation der Moderne festhalten zu wollen.
Der konzeptualistischen, strukturanalytischen und lingui
stischen Position Oswald Wieners fügen die Aktionisten in ihrer
eigenen bildkünstlerischen Entwicklungsgeschichte das
Festhalten am konkreten Objekt und dessen neue Bedeutungs
möglichkeiten hinzu. Während jedoch beispielsweise in den
»literalistischen<' Positionen“der amerikanischen Minimalisten
oder der europäischen Nouveau Realistes das Bild oder die
Skulptur zum Objekt und der Raum zum Thema wurde, for
derten die Wiener Aktionisten die Präsenz des Körpers als
Objekt einer Kunst der »Politik der Erfahrung«. Damit stehen
sie nicht nur in einer Geschichte der europäischen Reaktion
auf die amerikanische Moderne der New York School und
deren Auswirkungen, sondern darüber hinaus, wie im übrigen
auch Beuys, vor allem in einer bisher vernachlässigten
europäischen Tradition der performativen Kunst, in der noch
die Erschütterungen der kulturellen und existentiellen Kata
strophen der umfassenden Destruktion der europäischen
Gesellschaften zwischen 1914 und 1945 nachhallen. Erst in
den Arbeiten der Aktionisten werden beispielsweise in der
österreichischen Nachkriegskunst, wenn auch in um so radi-
20 Fried führt in diesem Text den Begriff der »literalistischen Kunst«
als umfassend geeignete Bezeichnung für die »konkreten« Ent-
wickiungen in der Kunst der sechziger Jahre ein. Er zieht diesen
Begriff den Bezeichnungen Minimal Art, ABC Art, Primary Struc-
tures. Specific Objects vor und steilt ihn der Pop- und Op-Art
gegenüber.
Franz West, Paßstück, 1978-79. Sammlung Julius Hummel, Wien
kalerer Form, Schritte zur Formulierung und aufklärenden Ver
arbeitung jener gesellschaftlichen Entgrenzungen gesetzt, die
unter anderem zu Totalitarismus, Nationalsozialismus, Holo
caust und Genozid geführt hatten. Noch die Wiener Gruppe
war nicht in der Lage, derart schonungslos auf die Tabus und
Verdrängungen des Kollektivs und seiner Systeme loszuge
hen, wie es der Aktionismus als Befreiungsgestus in den
sechziger Jahren getan hat.
So wie die Wiener Gruppe kaum länger als vier Jahre als
Avantgarde mit relativ homogenem Gruppencharakter gese
hen werden kann, bezeichnet auch der kunsthistorische
Terminus »Wiener Aktionismus« eher eine kurzfristige Grup
penbildung denn ein Programm mit Kontinuität. Das Element
der Aktion als aktivistische, auf den Körper verweisende
Geste läßt sich aber - je nachdem, wie weit oder eng man
die Definition fassen will - einer ganzen Reihe von öster
reichischen Künstlern bis in die Gegenwart zuordnen.*'
Valie Exports und Peter Weibels früheste Arbeiten greifen bei
spielsweise die Körperthematik der Aktionisten auf und
entwickeln unter dem Einfluß Oswald Wieners und des in den
späten sechziger Jahren von Paris her ausstrahlenden Struk
turalismus frühe konzeptuelle Positionen, die sie etwa um
21 Peter Weibels und Valie Exports 1970 erschienene Buchcollage
WIEN - Bildkompendium Wiener Aktionismus und Film stellt eine
solche ausgeweitete Interpretation erstmals vor.