185
Zentrum des Aktionsentwurfs von Nitsch stehende Opfer
geste des Jahres 1962 zu einer umfassenden performativen
und dramaturgisch aufgebauten Collage entwickelt. Aus
dieser Perspektive betrachtet, waren alle bis heute durchge
führten Aktionen Nitschs Demonstrationen und Proben für
die im Sommer 1998 erstmals vollständig durchgeführte und
sechs Tage lang dauernde große Realisation des Orgien-
Mysterien-Theaters.
1969 starb Rudolf Schwarzkogler durch einen Sturz aus dem
Fenster seiner Wohnung. Bereits 1966 hatte er die letzte und
möglicherweise im Sinne seines Arbeitskonzepts vollständig
ste Aktion durchgeführt und ein dichtes photographisches
Oeuvre hinterlassen. Für ihn war das performative Kunstwerk
erst im dialektischen Umgang mit der Photographie vollstän
dig; in diesem Punkt steht er für einen wesentlichen Aspekt
des Wiener Aktionismus. In den Photoserien, die während der
ausschließlich für die Photographen realisierten »Aktionssit
zungen« entstanden, erreichte die Thematik des Verhältnisses
von Photographie und performativem Kunstwerk sowie von
Objekt und Gestus einen vorläufigen Flöhepunkt. Fleute, aus
der bereits beträchtlichen zeitlichen Distanz, vergißt man
manchmal, daß im Zentrum der von Brus, Mühl, Nitsch und
Schwarzkogler seit Beginn der sechziger Jahre entwickelten
Werkpositionen das ereignishafte Kunstwerk steht. Dieser
Rezeptionsmechanismus ist im übrigen auch bei Beuys
beobachtbar. Erst mit der präzisen Vergegenwärtigung der
einzelnen Aktionen kann auch bei ihm vom performativen
Ereignis auf die Objektinstallationen wie beispielsweise den
Beuys-Block in Darmstadt geschlossen und vergleichende
Erkenntnisse gewonnen werden. So wie bei Beuys werden
auch die Aktionen der Wiener Künstler In ihrer jeweiligen indi
viduellen Ausformung von einer umfangreichen Aura reprä
sentativer Objekte begleitet. Aus einer traditionell besetzten
Sichtweise tendiert man jedoch eher dazu, diese Objekte als
für sich selbst stehende, autonome Kunstwerke zu betrach
ten. Deshalb ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, daß
diese Objekte entweder direkt oder im Kontext letztlich immer
auf den ereignishaften Gestus der Aktionen verweisen. Das
Objekt ist Entwurf, Ikone, Dokument, Annäherung, Analyse,
Indiz, Lesezeichen - Brennpunkt und auch Schatten der
aktionistischen WIrkllchkeitskunst.
Steht beispielsweise bei Beuys, durchaus auch analog zu
seinen künstlerischen Wurzeln in der Skulptur, das Ver
hältnis von Gestus und Objekt im Sinne einer Ausdehnung
des Skulpturenbegriffs in die Rauminstallation im Vorder
grund, so nimmt bei den Wiener Aktionisten, vermutlich
aufgrund ihrer starken Konzentration auf die Körperperfor
mance, die Photographie eine wesentliche Position ein. Ab
1963 entstand eine umfangreiche Bilddatenbank zu den
Aktionen von Brus, Nitsch, Mühl und Schwarzkogler. Vor
allem dieses Material versetzt uns heute In die Lage, den per
formativen Gestus der Aktion zumindest bis zu einem
gewissen Grad nachvollziehen zu können, denn nur Nitsch
macht sein Gesamtkonzept des Orgien-Mysterien-Theaters
nach wie vor erlebbar oder hat dieses in der räumlichen Instal
lation von Aktionsrelikten, von in den Aktionen entstandenen
oder benötigten Objekten, vermittelbar gemacht. Der 1973
entstandene Asoto-Raum ist das früheste und repräsentativ
ste Beispiel dafür. Das Festhalten der Aktion im Photo bewegt
sich in einem Spektrum, dessen äußerste Pole die distanzierte
Dokumentation und die ästhetische Photographie als Bild
sind. Dem ersteren würde in der heutigen Rezeption die wis
senschaftlich distanzierte Analyse, dem letzteren aber das
durch Ästhetisierung fetischierte Objekt entsprechen. Jeder
der Künstler hat in mehr oder weniger ausgeprägter Weise
beide Konzeptionen besetzt, und es wäre eine Vereinfachung
zu behaupten, daß die gefrorene, durchkomponierte Moment
photographie nur die Domäne Sohwarzkoglers war und Mühls
Interesse ausschließlich der voyeuristischen Dokumenta
tionsphotographie galt. Ebenso eindimensional wäre auch
eine Kritik des photographischen Oeuvres als Regression
der Aktion auf das Bild.
Während anfänglich und dann wieder gegen Ende der sech
ziger Jahre die dokumentarische Position und damit das Auge
des Photographen dominiert, tritt etwa in der Zeit zwischen
1964 und 1966 die Photographie parallel zur Entwicklung
diverser, in den Aktionen verwendeter Materialsprachen in
eine ästhetische und analytische Phase. Die Künstler nehmen
mehr Einfluß auf den Entstehungsprozeß, weil ihnen die
Eigenschaften des Mediums bewußter werden. Schwarz
kogler sieht beispielsweise das Photo als eine Möglichkeit,
durch die der Künstler sich ganz auf den performativen
Gestus des ereignishaften Kunstwerks der Aktion konzentrie
ren und sich damit »vom Zwang, die Relikte zum Ziel zu
haben«, befreien kann. Diese Sicht gilt im Grunde auch für
seine Künstlerfreunde, und so entstehen in dieser Zeit jene
Photographien, die man heute unmittelbar mit dem Wiener
Aktionismus verbindet. Als Beispiele seien hier Schwarz
koglers Mann mit dem Fisch auf dem Rücken, das durch eine
schwarze Linie geteilte Gesicht von Brus, Mühls Akt mit
Regenschirm und Nitschs Torso mit Seitenwunde aus der
photographischen Bilderflut herausgegriffen.
Außerdem beschäftigten sich in diesen Jahren vor allem Mühl
und Brus mit der Möglichkeit der Verwertung der Photo-