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Lygia Clark, Respire comigo
(Atme mit mir), 1966. Projeto Heiio Oiticica/Lygia Clark
Estate, Rio de Janeiro
späteren Werken verfeinert und ausgeweitet und erhielt
eine größere soziale Bedeutung.
Befreiungsstrategien
Nachdem wir untersucht haben, wie das Performance-
Element einige althergebrachte Gattungen der bildenden
Kunst transformiert hat, können wir uns nun den weiterge
henden Betreiungstendenzen der sechziger Jahre widmen.
Auch wenn es den Anschein hat, als würden wir hier ein glo
bales Phänomen auf den spezifischen geographischen
Rahmen dieses Essays verengen, so glaube ich doch, daß
Lateinamerika einen vitalen Kern dieser Bewegungen dar
stellt. Auf gar keinen Fall kann es lediglich als ein Ort gesehen
werden, von dem einige Beiträge kamen, und noch weniger
als ein »Außenposten«. Einige der Werte, die für die befreien
den Auswirkungen dieser Bewegungen im Hinblick auf die
weltweiten Probleme der zeitgenössischen Kultur so grundle
gend waren, wurden hier entwickelt. Dies hat mehrere
Gründe, von denen einer möglicherweise das kraftspendende
Potential der Widersprüche selbst ist, die diesen Problemen
zugrundelagen: das Streben nach einem paradiesischen
»Traum vom Glück« trotz autoritärer Unterdrückung; der
Glauben an die Kunst als eine Macht der kulturellen
Emanzipation trotz der Tatsache, daß ihre Schöpfung, ihr
Überleben und ihr Fortbestand dauernden Gefährdungen
ausgesetzt sind; eine Vision von der Sensibilität und dem
Gleichgewicht des Körpers trotz Hunger und Mißbrauch.
Natürlich hängt vieles von der visionären Kraft bestimmter ein
zelner Künstler ab, doch man hat das Gefühl, daß genau diese
Kraft auch durch die Existenz einer allgemeinen Energie und
Kreativität inspiriert und belebt wurde, von der die Künstler auf
verschiedene Weise Zeugnis ablegten. Ich war immer über
zeugt, daß die Kunst der sechziger Jahre in Lateinamerika,
insbesondere in Brasilien, einige Gemeinsamkeiten mit der
sowjetischen Avantgarde der Zwanziger besaß: formale
Innovationen, die zu einer weitreichenden gesellschaftlichen
Vision führten, »experimentelle Freiheitsübungen«' (Mario
Pedrosa). Während der Motor der sowjetischen Vision die
Maschine und ihre Technologie waren (gemildert durch Tatlins
spätere Umwertungen), war es in Brasilien der Körper.’“ Der
Körper war der Bezugspunkt, von dem aus die traditionellen
künstlerischen Strukturen und insbesondere das Wesen des
Objekts und die Beziehung zwischen Künstler, Werk und
Zuschauer revolutioniert wurden. Und wegen Brasiliens histo
rischer afro-euro-americo-indischer »Volkskuitur des Kör
pers« nahmen die Experimente in Brasilien jene Partizipa
tionsformen an, die sie von allen anderen unterscheiden.
Die außerordentlich fruchtbaren Werke und Konzepte von
Lygia Clark und Heiio Oiticica bringen viele Implikationen für
eine zukünftige Wechselbeziehung zwischen Kunst und
Leben mit sich. Beinahe möchte man die Vitalität ihres Werkes
durch die Einfachheit und Sparsamkeit ihrer Projekte charak
terisieren. Man nehme als Beispiel Clarks Luft & Stein (das
sich tatsächlich nehmen läßt, da es kein Kunstobjekt, sondern
ein Vorschlag ist: Blase einfach einen simplen Plastiksack auf,
versiegle ihn, plaziere den Stein in eine Ecke und presse den
Sack zwischen deinen Händen zusammen). Das Wechselspiel
zwischen solider Masse und leerem Raum, Gewicht und
Leichtigkeit faßt die gesamte Geschichte der Biidhauerei in
sich zusammen, und doch gleicht das Objekt einem Körper,
der zwischen unseren Händen atmet und von unseren Gesten
gehalten wird. »Wir sind die Form: der Atem in der Form ist
deiner: die Bedeutung unserer Existenz.«’“
Clark, Oiticica und Lygia Pape gingen aus der fruchtbaren
neo-konkreten Bewegung Brasiliens hervor (1959-1961).
Diese Künstler assimilierten die europäische abstrakte und
konkrete Kunst (insbesondere die Beispiele Mondrian und
Malewitsch) in höchst kreativer und kritischer Weise. Mir
erschien es immer bezeichnend, daß das Ausgehen von so
strengen Formen - die Befreiung von repräsentativem Illusio
nismus, traditionellem Symbolismus und naturalistischer
Farbgebung - die Grundlage ihrer späteren Experimente war.
Die Transformation des Konkretismus unter den Be
dingungen, die in Brasilien herrschten, ist ein faszinierendes
Phänomen. In einem kühnen, doch logischen Prozeß enthüllte
Lygia Clark das »Organische« innerhalb der Schemata geo
metrischer Abstraktion. Sie verstand, wie Oiticica und Pape,
die Tabula rasa der Abstraktion als Einladung, körperlich in sie
einzutauchen. Nachdem sie die idealistische Konstruktion von
Fläche als Projektion unserer »Poetik« außerhalb unserer
12 Siehe z. B. das Neo-konkrete Manifest (1959), zu dessen 13 Lygia Clark, zitiert in: Paulo Herkenhoff, »Having Europe for
Unterzeichnern Lygia Clark, Heiio Oiticica und Lygia Pape gehör- Lunch«, in: Poliester (USA-Mexico), 8, S. 14.
ten: »Wenn wir nach einem Äquivalent zum Kunstwerk suchen, so
werden wir es nicht in der Maschine oder im Objekt als solchem
finden, sondern... im lebenden Organismus.« Das Manifest ist auf
englisch in Dawn Ades u.a., Art in Latin America: The Modern
Period, London 1989, auf S. 335 abgedruckt.