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Roberto Evangelista, aus Mater Dolorosa, In Memoriam II, 1979
packter Güter, wie man sie in einem Lagerhaus findet. Diese
Verpackungen enthielten in Wirklichkeit 126.000 Schachteln
Streichhölzer der bekannten brasilianischen Marke Flat Lux (Es
werde Licht). Die biblischen Anspielungen setzten sich durch
die Spiegel an den Wänden fort, die mit Worten Christi
bedruckt waren. Auf dem Boden rieben sich die Füße der Zu
schauer und der Darsteller an Schmirgelpapier, wie es auf den
Seiten der Streichholzschachteln klebt. Trotz der Vermeidung
jeglicher militanten Haltung und der listigen Verwendung des
Duchampschen Ready-Made konnte Meireles’ Arbeit nur mit
Mühe öffentlich aufgeführt werden; sie wurde zweimal abge
sagt und entfernt, bevor sie schließlich 1979 24 Stunden lang
stattfinden konnte. In dieser Arbeit ging Meireles, wie ich
glaube, über eine Denunziation der politischen Autoritäten hin
aus, um eine brillante künstlerische Allegorie zu schaffen. Sie
ist in ihren Performance-Aspekten ebenso wirkungsvoll (die
bedrückende Gegenwart der »schweren Jungs«, die bis ins
kleinste Detail echt aussehen) wie in ihrer VenA/endung der
Objekte, im Zentrum der Versprechungen Christi an die
Erniedrigten und Entrechteten, daß die Erde eines Tages ihnen
gehören würde (die sich über unser eigenes Spiegelbild legen),
befindet sich ein gewaltiger Kern aus latenter Energie und
Licht, nervös bewacht von Beamten, deren Füße ihn in
Sekundenschnelle in Brand setzen könnten. Die Streichhölzer
können sowohl als die von den Reichen und Mächtigen unter
drückte Energie des Volkes verstanden werden wie auch als
das Werk des Künstlers. Kann beides in Brasilien leben und
gedeihen? Das »bewachte« Szenario stellte wachsam diese
Frage, die so viele Mitglieder der Avantgarde der Sechziger
motivierte. Eine Antwort sollten wir nicht erwarten, außer auf
einer weiteren Ebene der Allegorie. Der Würfel könnte sich
plötzlich verändern. Wie Ronaldo Brito in seiner Studie über
Meireles poetisch schrieb: »Das Werk richtet sich gegen die
feste Materie, gegen eine Physik der festen Materie; gegen
alles, was Energie, Kommunikation und den Fluß sich wan
delnder Aggregatszustände unterdrückt.«*
Das Thema des Eintauchens, das einen Großteil der brasilia
nischen Kunst dieser Periode durchzieht, ist besonders
deutlich in Roberto Evangelistas Werk, Evangelista wurde in
Manaus am Amazonas geboren und erzogen, wo er auch lebt
und arbeitet. Wie viele andere, in verschiedenen Teilen
Brasiliens lebende Künstler beschäftigte er sich während
seiner Laufbahn vorwiegend mit Umweltfragen, die für ihn
eine intensive Auseinandersetzung mit seiner konkreten
Umgebung bedeuteten: mit einem bestimmten Ort, seiner
Geschichte, den Menschen und der Fragestellung, wie sich
der Diskurs der internationalen Avantgarde mit seinem eige
nen Wissen über die lange Geschichte der Plünderung des
Amazonasgebietes durch Fremde »infizieren« ließe.
In Arbeiten wie Mater Dolorosa waren die Wasser des Rio
Negro sowohl »Stütze« als auch »Medium'«: eine Oberfläche
zur Bewegung alltäglicher, lokaltypischer Gegenstände (wie
Kürbisflaschen und Bambus) und eine Metapher für die
Wirklichkeit, in die man gemeinsam mit seinen Mitmenschen
eintaucht. Die lyrischen Sequenzen in Mater Dolorosa enden
plötzlich in einem verwirrenden, einprägsamen Bild. Mehrere
Menschen erscheinen in mittlerer Entfernung im Wasser, ihre
Köpfe tauchen zwischen den Kürbisflaschen auf und bilden
eine Gruppe (der Künstler ist unter ihnen), aus der verzweifelte
Schreie aufsteigen, Schreie wie in Todesangst, die aber auch
als Überlebensschreie gedeutet werden können. Ebenso
kann auch Evangelistas Metapher des Eintauchens auf zwei
Arten verstanden werden: als Untergang, als Schiffbruch
eines Landes und einer Kultur (in einem 1970 geschriebenen
Text nannte Oiticica ganz Brasilien ein »untergehendes Land««)
und zugleich als das Eintauchen des Künstlers mit seinem
ganzen Körper in den Raum seines Werkes, in seine konkrete
Umgebung und in das Volk.
Zwischen 1973 und 1980 schuf Carlos Leppe in einer intensi
ven Reihe von Performances - anscheinend den ersten in
Chile - eine Art experimenteller Zelle, in der die allgemeine
Physiognomie der offiziellen Ordnung durch die Darstellung
36 Ronaldo Brito, »Frequenzia Imodulada««, in: Cildo Meireles,
Rio de Janeiro 1981, S. 8.