Kristine Stiies
UNVERFÄLSCHTE FREUDE:
INTERNATIONALE KUNSTAKTIONEN
Es mag eine Weile dauern, bis das Potential der Material-ZVerwandlungskunst
und seine Implikation für Kunst und Gesellschaft erkannt werden.
Im Falle seiner Verwirklichung aber kann es als einer der radikalsten Schritte
des 20. Jahrhunderts angesehen werden.
Gustav Metzger, 1965'
I. Kunst in Kultur
Ende August 1966 entlieh John Latham aus der Bibliothek der
Londoner St. Martin’s School of Art, an der er einen Lehr
auftrag für Kunst innehatte, die Aufsatzsammiung Art and
Culture von Clement Greenberg. Gemeinsam mit einem sei
ner Studenten, dem heute namhaften britischen Bildhauer
Barry Flanagan, veranstaltete Latham in seiner Wohnung eine
Party unter dem mysteriösen Motto Still and Chew. Latham
forderte die Gäste bei ihrem Eintreffen auf, Buchseiten aus
Greenbergs weithin anerkannter Kunsttheorie herauszureißen
und zu zerkauen. »Notfalls«, so die sardonische Anweisung
des fünfundvierzigjährigen Künstlers, »könnt ihr das Produkt
in das dafür vorgesehene Gefäß spucken.«^ Die Anwesenden
taten wie ihnen geheißen und zerkauten etwa ein Drittel des
Bandes zu einem Haufen Papierbrei. Anschließend tauchte
Latham die Masse in eine 30%ige Schwefelsäurelösung, ließ
das Ganze stehen, bis es sich in Zucker verwandelt hatte,
neutralisierte die Überreste mit doppeikohlensaurem Natrium
und mischte zuletzt ein Gärmittel - eine »Fremde Kultur« -
unter die Substanz, damit ein »Gebräu« entstehe. Das Gebräu
durfte nun fast ein Jahr lang »sanft vor sich hinblubbern«, bis
Latham Ende Mai 1967 eine Postkarte mit der Nachricht
»Student sucht dringend Kunst und Kultur« erhielt. Latham
füllte die destillierte Masse in ein passendes Glasgefäß, ver
sah es mit der Aufschrift »Kunst und Kultur« und brachte es
zurück. »Es brauchte eine Weile, bis der Bibliothekar davon
überzeugt war, daß dies tatsächlich das Buch war, nach dem
auf der Postkarte verlangt wurde.-- Dann gab Latham das
Objekt ab und ging nach Hause. Am nächsten Morgen erhielt
er einen Brief vom Direktor der Akademie, in dem dieser sein
Bedauern zum Ausdruck brachte, daß er sich »außerstande
sehe, ihn weiter als Lehrkraft zu beschäftigen.« So nahm
Lathams Hochschulkarriere nach seiner Begegnung mit
Kunst und Kultur ein jähes Ende.
Indem er durch seine konzeptuelle und physische Beziehung
zu Greenbergs Text die gegenseitige Abhängigkeit zwischen
dem Körper und seinem Objekt aufzeigte, schuf Latham ein
kontraillusionistisches Kunstwerk, in dem das Objekt Art
and Culture als Kommissur, als Verbindungsglied fungiert.
Lathams Objekt wäre ohne die Aktion dahinter so gut wie
1 Gustav Metzger, Auto-Destructive Art: Metzger at AA,
London 1965
2 Sämtliche Beschreibungen von Lathams Event Still and Chew sind
seiner eigenen Darstellung des Projekts von August 1967 ent
nommen: John Latham, least event, one second drawings, blind
werk, 24 second painting, London 1970, S.S.
bedeutungslos. Mehr noch, ohne seine Aktion gäbe es gar
kein »Gebräu«, keinen Zusammenstoß von Kunst und Kultur.
Die Materialien, aus denen Still and Chew besteht, befinden
sich heute in einem ledernen Aktenkoffer in der Sammlung
des Museum of Modern Art in New York. Der Koffer beinhal
tet Pulver und Flüssigkeiten, Briefe, Fotokopien und die
Einladungskarte des Künstlers zu dem Event, außerdem
Lathams schriftliche Kündigung von der St. Martin’s School of
Art, ein Exemplar von Greenbergs Art and Culture und weitere
Erinnerungsstücke an die Aktion. Als Objekte gehören sie
ziemlich prosaischen Kategorien an. Erst dadurch, daß sie in
Beziehung zur Aktion eines Künstlers stehen, werden die
Gegenstände zu Kunst. Ihre Aufgabe ist es, uns an diesem Akt
teilhaben zu lassen. Greenberg konnte nur metaphorisch re
präsentieren, was Latham durch die Verbindung der Aktion
mit ihrem Objekt metonymisch präsent machen konnte.
Durch diese Tropen zieht sich eine zentrale Achse, entlang
derer die herkömmlichen, unter traditionellen Sehbedin
gungen erprobten Subjekt-Objekt-Beziehungen durch die
Kunstaktion von ihrer alleinigen Abhängigkeit von der Reprä
sentation (Metapher) in einen Zusammenhang (Metony
mie) verlagert werden.^ Lathams Aktion rematerialisierte
Greenbergs Buch durch den Körper mit dem impliziten
sarkastischen Hinweis, daß der Text als konzeptuelles
»Gedankenfutter-- ein einziger Brei sei, und mithin für Künstler
ungenießbar.
Gerade diese Begriffskombination - Kunst und Kultur - zeigt,
daß Kunst immer in Beziehung zu etwas anderem steht,
genauso wie solche Schlagworte wie »Kunst und Politik«,
»Kunst und Technologie« und »Kunst und Leben« davon zeu
gen, daß Kunst immer ein Gegenüber braucht, an dem sie
festhalten kann. Festhalten ist allerdings nicht gleichbedeu
tend mit Einswerden. Was Aktionskunst so einzigartig macht,
ist die Tatsache, daß der Körper, wenn er in der Aktion einge
setzt wird, die Mittel veranschaulicht, durch die jede Kunst mit
der Welt in einem Verhältnis steht. Darüber hinaus erlaubt die
Kunstaktion dem Betrachter zu erkennen, daß der Körper
selbst Objekte hervorbringt und daß eine solche Kunst ein ein
maliges Medium ist, das die Perzeption und Kontemplation
der Wahrheit ermöglicht, daß das »gemachte Objekt eine
3 Ein Großteil dieses Abschnitts über die Funktion von Metonymie in
der Aktionskunst ist meiner unveröffentlichten Dissertation ent
nommen: «The Destruction in Art Symposium (DIAS): The Radical
Project of Event-Structured Live Art«, Kalifornien 1987. Siehe auch
meinen Aufsatz »Synopsis of The Destruction in Art Symposium
(DIAS) and Its Theoretical Significance.«, in: The Act, 1, New York,
Frühjahr 1987, S. 22-31