organisierte »Round-table-Diskussion« zum Thema »Die
Rezeption der Sechziger« veranschaulicht dieses Versäumnis
überdeutlich. Erst nach der Hälfte der ausschweifenden
Diskussion wurde Performance-Kunst überhaupt erwähnt,
und dann auch nur im Kontext des als »tableau-artig oder
malerisch« beschriebenen »Raums von Carolee Schneeman
(sic) oder Valie Export«.®^ Zu seiner Verteidigung muß gesagt
werden, daß Benjamin H. D. Buchloh seine Unkenntnis eben
dieser Kunst eingestand, dieses ehrliche Geständnis jedoch
von Rosalind Krauss kategorisch zurückgewiesen wurde mit
dem Argument, daß es »ergiebiger« sei, ein »elaboriertes
Modell« zu erarbeiten, »...um dann zum Körper als etwas
zurückzukehren, das nicht nur durch das ästhetische
Paradigma, sondern auch durch ein Paradigma der
■Administration' unterdrückt wird.«=® Schließlich bemerkte
Annette Michelson kritisch, daß »Historiker und Theoretiker
der bildenden Künste« einen »Fehler« begehen, wenn sie die
Performance-Kunst ignorieren, ein Versäumnis, das der
»Bereich der »visuellen Kultur« nachholen kann«.^' Mit ihrem
Kommentar, der unwidersprochen blieb, weist Michelson dar
auf hin, daß die allgemeine Verleugnung der Unzahl von
Schriften, die Künstler wie auch Kunsthistoriker zum Thema
Performance verfaßt haben, völlig unbemerkt bleiben würde,
wenn man sich weigerte, auch nur die Existenz dieser
Schriften anzuerkennen. Aber wie Guy Debord, der führende
Theoretiker der Situationistischen Internationale (Sl) schrieb:
»Alle Usurpatoren verfolgen dasselbe Ziel: uns vergessen zu
machen, daß sie gerade erst aufgetaucht sind.«’^
Obwohl October 1994 einige ausgezeichnete Artikel über die
Sl veröffentlicht hat, ist das Gebiet noch immer Neuland für
die Zeitschrift. Zu der 1957 gegründeten Sl zählten Debord,
Michele Bernstein, Attila Kotanyi, Raoul Vaneigem und
andere. Sie arbeiteten unter anderem mit »Verhaltens
experimenten«, die darauf abzielten, durch die Erzeugung von
»Situationen« Verhalten zu verändern und dadurch zu einer
Konstruktion dessen zu gelangen, was ihrer Vorstellung von
55 Slivia Kolbowski, in: »The Reception of the Sixties«, in: October,
69, Sommer 1994, S. 10.
56 Rosalind Krauss (wie Anm. 55), S. 19.
57 Annette Michelson (wie Anm. 55), S. 20.
58 Guy Debord, Comments on the Society of the Spectacle,
übers.von Malcolm Imrie, London 1990, S. 16. Originalausgabe
hrsg. von Gerard Lebovioi, Paris 1988.
authentischen kollektiven Umgebungen und persönlichen
Erfahrungen entsprach. Die Sl veröffentlichte ihre theoreti
schen Texte, das primäre Vehikel ihrer Arbeit, in der Inter
nationale Situationniste (1958-1969); diese Texte bildeten die
konzeptuelle Grundlage für die praktische Umsetzung des
Situationismus - der Herbeiführung von Umständen, die poli
tische und soziale Bedingungen effektiv zu ändern imstande
wären. Und obwohl die Sl ihre Ideen so gut wie nie in die
Praxis umsetzte, formulierte sie zweifelsohne eine nachhal
tige, eindrückliche und anregende Kritik von Kapitalismus,
Imperialismus, Kolonialismus, politischer Machtverteilung und
Kontrolle des urbanen Raums sowie der allgemeinen Armut
des intellektuellen Lebens.
Einer der Künstler, die sich den Situationisten angeschlossen
hatten, um interaktive Umgebungen zu schaffen, und der spä
ter aus der Gruppe ausgeschlossen wurde, war Giuseppe
Pinot Gallizio, dessen Atelier im italienischen Alba als Basis für
das »Experimentallabor« der »Internationalen Bewegung für
ein Imaginistisches Bauhaus« (MIBI) diente, eine Künstler
gruppe, der Asger Jorn, Enrico Baj, Ettore Sottsass, Simondo
und Gallizio angehörten. Die »freien experimentellen Künst
ler«, wie sie sich in Abgrenzung zu den »Industriedesignern«
nannten, bildeten den MIBI »als Protest gegen Max Bills Arbeit
und Theorie an der Hochschule für Gestaltung in Ulm,
Deutschland«.“ 1956 beschlossen Guy Debords »Inter
nationale Lettriste« und der MIBI, sich gemeinsam einem
Programm des unitären Urbanismus (urbanisme unitaire) zu
verschreiben, »der Theorie des kombinierten Einsatzes von
künstlerischen und technischen Mitteln zum Zwecke der
ganzheitlichen Konstruktion einer Umwelt in dynamischer
Verbindung mit Verhaltensexperimenten«, die später die
situationistische ideoiogie charakterisieren sollte.“ Aus die
ser Zusammenarbeit wurde 1957 die Situationistische
Internationale geboren. Pinot Gallizio wollte mit seiner Arbeit
spieierische, von Luxus und Freizeit geprägte Umgebungen
schaffen, »greilbunte Schnellstraßen, gewaltige architek-
59 Mirella Bandini, »an enormous and unknown Chemical reactlon:
the EXPERIMENTAL LABORATORY in ALBA««, in: on the Passage
of a few people through a rather brief moment in time: The
Situationist International 1957-1972, Cambridge 1989, S. 68.
Siehe auch Bandini, Lestetico ilpolitico: Da Cobra ail'internazio-
nale situazionista, 1948-1957, Rom 1977.
60 lwona Blazwick in Zusammenarbeit mit Mark Francis, Peter
Wollen und Malcolm Imrie (Hrsg.), An endtess adventure... an
endless passion... an endless banquet: A Situationist Scrapbook,
London - New York 1989, S.22,