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Jean-Jacques Lebel, während der Performance Pour Conjurer l’Esprit de Catastrophe
(Um den Geist der Katastrophe zu beschwören), 1962
Jean-Jacques Lebel, Christine Keeier Tabloid
(Christine Keeier Boulevardblatt), aus: Pour Conjurer i’Esprit de Catastrophe
(Um den Geist der Katastrophe zu beschwören), 1962
tonische und urbanistische Konstruktionen, phantastische
Paläste der Synästhesie, Produkte »industrieller Poesie« und
Schauplätze »magisch-kreativ-kollektiver« Festlichkeit«'.®^ ln
seiner Ausstellung »»Höhle der Antimaterie«« in der Pariser
Galerie Rene Drouin im Mai 1959 verhüllte Gallizio Wände,
Decke und Fußboden vollständig mit einer fortlaufenden,
bemalten Leinwandrolle und plazierte »»Spiegel und Leuchten
so, daß der Raum wie ein Labyrinth voll von schreiendbunten
Farben, Düften und Musik wirkte und ein Theaterstück ent
stand, das die Besucher in Akteure verwandeln würde««.®^
Während der Vernissage verkaufte er sein Werk nach
Laufmetern, indem er einfach Stücke von der Rolle schnitt -
eine Parodie auf die Fließbandproduktion.®® So bedeutend die
Situationisten auch waren, sie bildeten nur einen kleinen Kreis
in einem großen Feld von Künstlern und Intellektuellen, die
sich in den umstrittenen, für die damalige Aktionskunst cha
rakteristischen Kulturformen engagierten. Darüber hinaus
erlaubte der Sl Ihre programmatische Theorie und marxisti
sche Orthodoxie, relativ reibungsios und zügig von den
akademischen Diskursen übernommen zu werden und in die
Legenden der Kunstwelt einzugehen, ein Gedanke, der ihr
selbst zutiefst zuwider war. In diesem Licht erscheinen
Debords Alkoholismus und sein Suizid 1994 sogar als bewußt
gesetzter philosophischer Akt besonders tragisch.
Jean-Jacques Lebel ist ein Künstler, der sich durch »elabo-
rierte Modelle«« nicht zähmen ließ und Dogmen in jeglicher
Form ablehnte. So lehnte er es auch ab, sich auf eine seiner
zahlreichen Begabungen als Dichter, Maler, Theoretiker,
Organisator und politischer Aktivist zu spezialisieren.®^ 1956,
ein Jahr vor Gründung der Situationistischen Internationale,
leistete der damals zwanzigjährige Lebel aktiven politischen
61 Peter Wollen, »»Bitter Victory: The Art and Politics of the
Situationist International«, in: on the Passage ofa few people
through a rather briet moment in time, S. 50.
62 Ibid.
63 Mark Francis, »It's All Over: The Material (and Anti-Material)
Evidence«, in: on the Passage ofa fewpeopie through a rather
brief moment in time, S. 22.
Widerstand als Wehrdienstverweigerer im Algerienkrieg. Er
floh nach Italien und gründete das poetische Protestblatt
Front Unique (1956-60).
Lebels erstes Happening L’Anti-Proces vom 8. Juli 1960 bildete
den Höhepunkt in einer Reihe von Demonstrationen, die er zwi
schen 1960 und 1961 gemeinsam mit dem Dichter Alain
Jouffroy als »»kollektiven Widerstand«« gegen den Algerienkrieg
organisiert hatte. Im Laufe des in Paris, Mailand und Venedig ver
anstalteten Anti-Proces arbeitete Lebel gemeinsam mit Enrico
Baj, Roberto Crippa, Gianni Dovam, Errö (damals Ferro genannt)
und Antonio Recalcati unter anderem an dem Gemälde Le
Grand Tabieau Antifasciste Coilectif. Das Werk war ein kollekti
ver revolutionärer Aufschrei gegen Kolonialismus, Folter, Napalm
und Rassismus. Auf der Leinwand klebte das »»Manifest der 121:
Erklärung zum Recht auf Wehrdienstverweigerung im Algerien
krieg« des Philosophen Maurice Blanchot, ein Manifest, das von
Lebel und 121 weiteren französischen Intellektuellen unter
zeichnet war, darunter Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir,
Frangoise Sagan und Andre Breton. Die Unterzeichner des
Traktats galten in Frankreich als »»Verräter««. Als die Gruppe 1961
Le Grand Tableau auf dem Anti-Proces III in Mailand ausstellte,
wurde Lebel verhaftet, und, so der Künstler, »»das Bild von der
Wand gerissen und von der Polizei konfisziert««®®.
64 Lebel lernte den fünf Jahre älteren Debord 1952 kennen, als er 16
war.
65 Sofern nicht anders angegeben, stammen sämtliche Zitate von Lebel
aus einem Interview, das die Autorin mit dem Künstler am 27.
Oktober 1980 in Paris geführt hat, und aus daran anschließenden
Diskussionen.