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und Subjektivität sich im Kunstwerk der Aktion überlappen.“ 
1980 duplizierte sich Hershman erneut, indem sie ihre künst 
lerische Entwicklung in »B.C. (Betöre Computers) und A.D. 
(After Digital)“ aufteilte.®® In der A.D.-Periode produzierte 
Hershman zahlreiche neue Multiples in Form von Videos, 
Laser Discs und -virtual reality. In Electronic Diary (1985-89) 
flüstert sie »Sprich nicht darüber« und weiht damit den zum 
Zeugen gewordenen Betrachterin ihre eigenen multiplen, von 
Familiengeheimnissen umwobenen Inzest-Erfahrungen ein, 
Erfahrungen, die sie als Grund für ihre autobiographische 
Reihe angibt. Die jüdische Künstlerin durchlebt in dem Film 
eine Selbstanalyse ihrer eigenen E3störungen, verursacht 
durch die Anwendung von Gewalt, die sie mit Hitler, dem 
Vampir, und den Überlebenden des Holocaust assoziiert. 
Erst 1996 schreibt Hershman: 
Ich arbeite gerade an einem Projekt, für das ich eine fik- 
tionale Person erfunden habe, eine Art upgedatete 
»Roberta«, die durchs Internet navigiert. Überwachen, 
Erbeuten und Aufspüren sind die DNA der ihr inhärent 
digitalen Anatomie, sie formen das Gerüst für ihr Porträt.®® 
Anders jedoch als »Roberta«, die 1978 im Palazzo dei 
Diamonte in Ferrara, Italien, in einem alchimistischen Tod aus 
Luft, Feuer, Spiegeln und Rauch exorziert worden war, will 
Hershmans »Porträt« der Neunziger die Trennung zwischen 
»dem Tod, der eine Realität von der gelebten Oberflächen 
realität trennt, auslöschen«.®^ 
Jenen Zorn und psychischen Aufruhr, den ich oben beschrie 
ben habe und der so häufig in alternierende Personae 
sublimiert und dissoziiert wurde, bringt Niki de Saint Phalle in 
ihren Tirä Vb/onfe-Bildern unmittelbar zum Ausdruck. Bei die 
sen Arbeiten handelt es sich um eine Reihe von Konstruk 
tionen, an deren Oberfläche die Künstlerin Beutel mit flüssiger 
Farbe befestigte, die aufplatzten, wenn sie (oder andere) mit 
einem 22er-Gewehr darauf feuerten. Am 30. Juni 1961 prä 
sentierte de Saint Phalle in Pierre Restanys Pariser Galerie J. 
ihre »Schießbilder« zum ersten Mal der Öffentlichkeit. Dazu 
die Künstlerin: 
84 Eine eingehendere Beschäftigung mit Robertas Muitiplizität findet 
sich in meinem Aufsatz »1.1.78-2.2.78: Roberta Breitmore«, 
in: Roberta Breitmore Is Not Lynn Hershman, San Francisco 1978, 
S. 5-14. In diesem Artikel hat^ ich versucht, die «Schizophrenie« 
Hershman/Breitmore darzustellen, indem ich zwischen zwei sehr 
unterschiedlichen diskursiven Stimmen hin- und herspringe. 
Heute, zwanzig Jahre später, ist der Text selbst eine Studie der 
Fragmentierung. Und als ich Hershman 1977 in San Francisco als 
erstes »Multiple« von Roberta auf verschiedene Galerieeröffnungen 
begleitete, war ihre fragmentierte Existenz ja außerdem ganz offen 
sichtlich. 
Ich schoß, weil es Spaß machte und mir ein tolles Gefühl 
gab. Ich schoß, weil mich die Beobachtung faszinierte, 
wie das Gemälde blutet und stirbt. Ich schoß um dieses 
magischen Moments willen. Es war ein Moment skorpio- 
nischer Wahrheit. Weiße Reinheit. Opfer. Schußbereit! 
Zielen! Feuer! Rot, gelb, blau - das Gemälde weint, das 
Gemälde ist tot. Ich habe das Gemälde getötet. Es ist 
wiedergeboren. Krieg ohne Opfer.®® 
All diese Werke erzählen, wie auch die folgenden Arbeiten, 
weise und phantasievolle Geschichten vom Überleben der 
Frau: Yayoi Kusamas obsessive Umgebungen und Be 
kleidungen der sechziger Jahre, die zu einem klaustrophobi- 
schen Raum, einem Horror vacuii der phallischen Formen 
werden, der über das Bild der Vagina herrscht und es auf 
einen Punkt reduziert, der sich wie dekorative Fusseln unge 
zählte Male auf Kusamas Oberflächen wiederholt; Martha 
Roslers Vital Statistics of a Citizen, Simply Obtained (1973), 
eine Performance, die den mannigfaltigen Formen Rechnung 
trug, mit denen man Frauen entmenschlicht, in statistische 
Kategorien steckt und ihre Körper diszipliniert und kontrolliert; 
Mary Beth Edelsons Proposals for: Memorials to the 
9.000.000 Women Burned as Witches in the Christian Era 
(1977), ein Gruppenritual zum Gedenken an die Frauen, die- 
aufgrund ihrer Kenntnisse, ihrer Unabhängigkeit, ihrer 
Intuition, ihres Wissens, ihrer sozialen und (verbotenen, zügel 
losen) sexuellen Praktiken, ihrer Liebe sowie ihrer Zuneigung 
zu und Kompatibilität mit Tieren (vor allem mit Katzen) - gefol 
tert, verurteilt und ermordet wurden; Ablutions (1972) von 
Judy Chicago, Suzanne Lacy, Sandra Orgel und Aviva 
Rahmani, eine Arbeit, die auf mündlichen Berichten von 
Vergewaltigungs- und Inzestopfern beruht, die Chicago und 
Lacy 1971 gesammelt hatten; In Mourning and in Rage (1977) 
von Leslie Labowitz und Suzanne Lacy, eine öffentliche, in Los 
Angeles durchgeführte Medienaktion, die der gesamten Stadt 
Gewalt gegen Frauen bewußt machte; Mierle Laderman 
Ukeles’ Manifest »Maintenance Art« (1969), in dem sie auf die 
Zeit aufmerksam machte, die Frauen mit häuslicher Arbeit 
85 Lynn Hershman, »The Floating Museum«, in: Data, 27, 
Juli-September 1977, S. 11. 
86 Lynn Hershman Leeson, »Romancing the Anti-Body: Lust and 
Longing in (Cyberspace«, in: Lynn Hershman, Captured Bodies 
of Resistance, Warschau 1996, S. 25. 
87 Ibid-, S. 26. 
88 Niki de Saint Phalle, zitiert in: Carla Schulz-Hoffmann, Niki de 
Saint Phalle. Bonn 1987, S. 53.
	        
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